Ausstieg aus Atom, Kohle und Erdgas

  • Search15.08.2023

Es geht auch ohne Grundlastkraftwerke

Die Kraftwerke der alten Energiewelt waren planbar. Wind- und Solarenergie sind wetterabhängig. Trotzdem ist die Stromversorgung auch mit Erneuerbaren sicher – dank Speichern und smarter Netze.

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    Wie kommt Deutschland ohne Grundlast-Kraftwerke (Atom, Kohle, Erdgas) aus? Neben dem Ausbau von Wind- und Solarenergie sind dazu vor allem Speicher und smarte Netze nötig.

     

    Von Daniel Hautmann

    In der Nacht auf den 16. April gingen die Lichter endgültig aus. Allerdings nicht wie befürchtet in ganz Deutschland, sondern lediglich in den Kontrollzentren der letzten drei verbliebenen Kernkraftwerke. Nach 63 Jahren endete die Ära der Atomkraft. „Und was ist passiert?“, fragt Jochen Linßen und liefert die Antwort gleich mit: „Nichts.“

    Linßen, Abteilungsleiter am Institut für techno-ökonomische Systemanalyse des Forschungszentrums Jülich, hat sich tiefgreifend mit dem Energiesystem der Zukunft beschäftigt. Es wird ein System sein, das ohne Kernkraft auskommt, ohne Kohle und ohne Erdgas – also ohne die Kraftwerke, die bislang die sogenannte Grundlast deckten. Das ist jener Teil der Strommenge, die konstant und zu jeder Zeit des Tages mindestens verfügbar sein muss. Konventionelle Kraftwerke sind dafür gut geeignet, weil ihre Stromproduktion planbar ist.

    Künftig allerdings wird das Energiesystem zum großen Teil auf der Wind- und Solarenergie beruhen, auf Quellen also, die als „nicht grundlastfähig“ gelten, weil ihre Leistung vom Wetter abhängt. Ist es stürmisch und sonnig, liefern sie oft mehr Strom, als Deutschland verbrauchen kann. An bedeckten, windstillen Tagen dagegen, im Volksmund „Dunkelflaute“ genannt, fallen sie weitgehend aus.

    Und dann? Kommt Deutschland ohne grundlastfähige Kraftwerke aus? Oder muss es sich auf Blackouts gefasst machen?

    Damit beschäftigen sich Forscher wie Linßen in ihren Studien seit vielen Jahren. Die gute Nachricht: Es geht auch ohne – die CO2-freie Energieversorgung ist keine Utopie. Sie ist sicher, sauber und günstiger als die alte. Wenn die richtigen Maßnahmen ergriffen werden.

    Grenzüberschreitender Stromhandel Deutschlands im ersten Halbjahr 2023: Deutschland hat etwas mehr in seine Nachbarländer exportiert als importiert. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Nach dem Atomausstieg im April hat Deutschland am 1. Juli einen weiteren Schritt in die erneuerbare Welt gemacht: Um Punkt Mitternacht gingen fünf Braunkohle-Kraftwerksblöcke mit zusammen 1886 Megawatt vom Netz. Blackouts blieben auch diesmal aus. Die Stromversorgung erwies sich als robust.

    Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) zeigen, dass die Erneuerbaren im ersten Halbjahr knapp 58 Prozent zur Nettostromerzeugung beisteuerten. Das ist ein deutlicher Zuwachs, während der Anteil konventioneller Energieträger sank. Zwar stiegen die Stromimporte im Vergleich zu den Vorjahreszeiträumen. Allerdings stand unter dem Strich noch immer ein Plus im Austausch mit den Nachbarländern, auch im Handel mit dem Atomland Frankreich.

    Doch 58 Prozent Ökostrom sind eben noch lange nicht 100 Prozent. Was also erwartet uns, wenn die Erneuerbaren weiter ausgebaut werden? Gehen die Lichter an Tagen mit wenig Wind und Sonne dann doch aus? „Nein, das ist beherrschbar“, sagt Linßen.

    Ein Blick in die Historie zeigt: Lang anhaltende Dunkelflauten sind selten

    Seine Studie, die historische Wetterdaten ausgewertet hat, liefert Belege dafür. Bei der oft beschworenen „kalten Dunkelflaute“ handelt es sich demnach um ein seltenes Extremszenario. Zwischen 1980 und 2016 umfasste der längste Zeitraum, in dem die Stromerzeugung aus Wind- und PV auf weniger als ein Viertel ihrer Durchschnittsmenge fiel, knapp über sieben Tage. Die Wahrscheinlichkeit einer zweiwöchigen Dunkelflaute liegt laut der Analyse sogar bei unter einem Prozent.

    Doch auch für Extremszenarien will vorgesorgt sein. Deshalb braucht ein zu 100 Prozent grünes Energiesystem aus Sicht von Forschern vier Säulen. Nummer eins ist der Ökostromausbau, zu dem neben den wetterabhängigen Wind- und Solarparks auch planbare Biomasse- und Biomethananlagen zählen. Je größer die Kapazität, desto besser ist das Land gewappnet.

    Sonne und Wind ergänzen sich gut – im Jahresverlauf und regional

    Säule Nummer zwei ist der grenzüberschreitende Stromnetzausbau. Linßen spricht von einem europaweiten Verbund über verschiedene Klima- und Zeitzonen hinweg. Liefern Wind und Sonne in einer Region zu wenig Strom, springt eine andere mit Überschüssen ein.

    Eine Analyse des Deutschen Wetterdienstes belegt, dass die Voraussetzungen dafür gegeben sind: „Mit unseren langjährigen Datensätzen können wir zeigen, dass sich Wind und Sonne im jährlichen Verlauf gut ergänzen und dass bei kritischen Wetterlagen ein Ausgleich zwischen europäischen Regionen denkbar wäre“, sagt Frank Kaspar, Leiter des Bereichs Hydrometeorologie beim DWD. „Aus meteorologischer Sicht könnte ein europäischer Stromverbund also Risiken reduzieren.“

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    Großflächige Stromausfälle, die im Zusammenhang mit Ertragsausfällen erneuerbarer Energien standen, sind bisher nicht aufgetreten

    Frank Kaspar, Deutscher Wetterdienst

    Kaspar ist zuversichtlich: „Wir erwarten auch trotz des Klimawandels nicht, dass sich die Risiken durch veränderte Wetterlagen erheblich ändern würden. Großflächige Stromausfälle, die im Zusammenhang mit Ertragsausfällen erneuerbarer Energien standen, sind bisher nicht aufgetreten.“

    Speicher sind ein zentraler Baustein – in Form von Batterien und Kavernen

    Gleichwohl geht es neben dem Ausbau von Netzen und Erzeugungsanlagen nicht ohne Säule Nummer drei: Speicher. Für den Jülicher Forscher Linßen sind das neben Batterien vor allem Speicherkavernen, in denen Wasserstoff eingelagert wird. Der könne schnell und flexibel in Gasturbinen zur Stromerzeugung genutzt werden. Handelt es sich um grünen Wasserstoff, fällt dabei kein CO2 an.

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    Wenn Sie dekarbonisieren wollen, kommen sie in vielen Prozessen nicht um Wasserstoff herum

    Jochen Linßen, Forschungszentrum Jülich

    Von Wasserstoff wird oft als „Champagner der Energiewende“ gesprochen, um zu betonen, dass er zu knapp und teuer für den großflächigen Einsatz in sämtlichen denkbaren Anwendungsfällen geeignet sei. Kaspar mag den Ausdruck nicht: „Wasserstoff ist systemrelevant, Champagner nicht. Wenn Sie dekarbonisieren wollen, kommen sie in vielen Prozessen nicht um Wasserstoff herum“, sagt Linßen.

    Deutschland hat große Erdgaskavernen. Künftig sollen sie Wasserstoff speichern

    Um einen Anreiz zum Bau einer ausreichenden Kapazität an Wasserstoffkavernen und -kraftwerken zu schaffen, muss aus Sicht von Linßen allerdings der Strommarkt reformiert werden. Denn wenn die Anlagen von den 8760 Stunden eines Jahres nur in den 500 bis 800 Stunden laufen, in denen sie zur Stabilisierung des Stromnetzes nötig sind, hätten die Betreiber nach dem heutigen Strommarktdesign kaum ein Interesse daran. „Die müssen für die Leistungsbereitstellung bezahlt werden“, sagt Linßen.

    Insgesamt seien für die Überbrückung von Dunkelflauten und schwankenden Produktionsmengen der Solar- und Windenergie 2045 rund 35,4 Terawattstunden Kapazität in Kavernenspeichern nötig, heißt es in der FZ-Jülich-Studie. Diese Kapazität könne fast vollständig durch die Umstellung bestehender Erdgaskavernenspeicher bereitgestellt werden.

    Wo kann Wasserstoff unterirdisch gespeichert werden? Geeignete Kavernenspeicher und Porenspeicher liegen vor allem im Norden Deutschlands, Infografik: Benedikt Grrotjahn

    Elektrolyseure, die Wasserstoff zur Rückverstromung produzieren, spielen auch für Säule Nummer vier eine Rolle: die Anpassung der Energienachfrage an das Angebot, oft ist in dem Kontext von „Flexibilitäten“ die Rede. Gemeint ist damit, dass Verbraucher in der Industrie genauso wie in Privathaushalten Anreize erhalten sollen, Strom gerade dann zu verbrauchen, wenn er im Überfluss vorhanden ist. Umgekehrt sollen sie den Verbrauch, sofern möglich, immer dann einschränken, wenn das Angebot knapp ist. Im Fall von Elektrolyseuren bedeutet das, dass sie vor allem dann anspringen, wenn Sonne und Wind einen günstigen Stromüberschuss liefern.

    „Wenn Sie den Strom nicht verbrauchen können, leiten Sie ihn eben woanders hin und verbrauchen oder speichern ihn dort. An sonnigen und windigen Tagen mit geringem Verbrauch werden die Speicher gefüllt“, sagt Linßen.

    Eine weitere wichtige Speicheroption, um Schwankungen vor allem im Tages- und Wochenverlauf auszugleichen, sieht Jochen Linßen in Batterien. Die sollen 2045 rund 208 Gigawattstunden Strom einlagern. Hierbei ist laut der Studie zu beachten, dass für die benötigte Batteriespeicherkapazität nicht grundsätzlich ein Ausbau von stationären Batteriespeichern notwendig ist – sofern Elektroautos als netzdienliche Speicher eingesetzt werden könnten. Bis 2045 sei der Bestand an E-Autos groß genug, sodass es bereits ausreiche, wenn zehn Prozent davon ihre Batterien dem Stromnetz zur Verfügung stellten.

    Für Forscher wie Linßen steht fest: Ein Energiesystem ohne fossil befeuerte Kraftwerke ist machbar. Deutschland könne dabei eine Vorreiterrolle spielen. Nicht umsonst sei „Energiewende“ im Ausland bereits ein stehender Begriff, genau wie Kindergarten oder Autobahn. „Die Welt blickt auf Deutschland“, sagt Linßen. Wenn eine Industrienation mit 84 Millionen Bürgern die Energiewende schaffe, dann schafften es auch andere Länder.

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