Vom Super-GAU bis zum Atomausstieg

  • Search11.03.2016

Fukushima und das Ende der Kernkraft

Im März jähren sich der Tsunami und die Atomkatastrophe in Fukushima zum zehnten Mal: Eine Chronik der dramatischen Ereignisse in Japan und ihrer Folgen für die deutsche Energiepolitik.

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    Das japanische Atomkraftwerk Fukushima Daiichi aus der Luft. Heute umgeben das Kraftwerk Tonnen mit kontaminierten Kühlwasser. Noch heute werden die Unglücksreaktoren durchgehend mit Meerwasser gekühlt.

    Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi aus der Luft. Heute umgeben das Kraftwerk Tonnen mit kontaminierten Kühlwasser. Noch heute werden die Unglücksreaktoren durchgehend mit Meerwasser gekühlt.

    Von Julia Müller

    Am 11. März 2011 löst ein Erdbeben im Pazifik einen Tsunami aus. Die gewaltige Flutwelle trifft auch das Kernkraftwerk Fukushima an der japanischen Ostküste. In den folgenden Tagen kommt es zu einem Super-GAU, dem schwersten nuklearen Unfall seit Tschernobyl 1986.

    Während Japan gegen die unmittelbaren Folgen der Katastrophe kämpft, erreichen ihre indirekten Auswirkungen auch das 9.000 Kilometer entfernte Deutschland. Hier entbrennt die Debatte um die Sicherheit von Kernkraftwerken aufs Neue. Sie entscheidet mehrere Landtagswahlen und bewegt die Bundesregierung schließlich zum endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft. EnergieWinde zeichnet die dramatischen Ereignisse in Japan und Deutschland nach.

    Fukushima: 45 Minuten nach dem Beben trifft ein Tsunami das Atkomkraftwerk

    11. März 2011 Um 14:46 Uhr Ortszeit bebt in Japan die Erde – so heftig wie noch nie zuvor in dem von Erdbeben häufig geplagten Land. Das Epizentrum liegt im Pazifik, gut 100 Kilometer vor der Küste der Region Tohoku. Wolkenkratzer in Tokio wanken, im ganzen Land stürzen Gebäude ein. Viel schlimmer aber ist der Tsunami, den das Beben auslöst. Unaufhaltsam rollt er auf die östliche Küste des Inselstaats zu. Die Flutwelle türmt sich bis zu zehn Meter hoch auf und reißt alles mit sich: Häuser, Schiffe, Autos, Bäume, Menschen und Tiere.

    Etwa 45 Minuten nach dem Beben wird das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, das rund 240 Kilometer nördlich von Tokio liegt, von den Wassermassen getroffen. Die Kühlsysteme an einem Reaktor fallen aus. Die Situation gebe Anlass zur Sorge, meldet am Abend die „Tageschau“ in Deutschland. Experten bemühen sich, das System zu reparieren, doch der Druck in der Anlage steigt. Rund 6.000 Bewohner im Umkreis von drei Kilometern werden evakuiert. Ein Sprecher der japanischen Regierung verkündet: „Die Evakuierung ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Im Moment tritt keine Radioaktivität aus. Außerdem gibt es keine Gefahr für die Umwelt.“

    Im Laufe des Abends berichten Medien, dass das Notkühlsystem nur noch im Batteriebetrieb laufe. Die Techniker der Betreiberfirma Tepco kämpften gegen eine drohende Kernschmelze an. Ein Brand in einem anderen Atomkraftwerk in Onagawa kann inzwischen gelöscht werden.

    12. März 2011 In der Nacht zu Samstag wird bekannt, dass der Druck im Reaktor weiter steigt. Man versucht, kontrolliert radioaktiven Dampf abzulassen, um die Lage zu entspannen. Die Sperrzone wird ausgeweitet. Die Regierung ruft den atomaren Notfall aus.

    Die offiziellen Aussagen sind widersprüchlich. Gegen 14.45 Uhr erklärt die Atomaufsichtsbehörde, es könne bereits zu einer Kernschmelze gekommen sein. Für die Menschen außerhalb der inzwischen zehn Kilometer breiten Sperrzone bestehe jedoch keine Gefahr.

    Am späten Nachmittag zerstört eine gewaltige Explosion das Dach der Reaktoranlage von Fukushima I. Betonteile werden durch die Luft geschleudert, dichte Wolken steigen auf. Die japanische Regierung spricht inzwischen von einer „sehr ernsten Situation“. Radioaktive Strahlung tritt aus. Die Sperrzone wird auf 20 Kilometer erweitert.

    Merkel kündigt eine Überprüfung der Sicherheit deutscher Atomkraftwerke an

    Die dramatische Lage in Japan bewegt die Menschen weltweit. Im mehr als 9.000 Kilometer entfernten Deutschland machen Atomkraftgegner mobil. Zwischen dem Reaktor Neckarwestheim und Stuttgart bilden 60.000 Demonstranten eine 45 Kilometer lange Menschenkette. „Abschalten, abschalten!“, rufen sie immer wieder.

    Angela Merkel kündigt in Berlin an, bei allen deutschen Atomkraftwerken die Sicherheitsstandards überprüfen zu lassen. „Die Geschehnisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt“, sagt die Kanzlerin. Man könne danach nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren. Laut Bundesumweltminister Norbert Röttgen geht aber keine Gefahr für die deutsche Bevölkerung aus.

    „Die Debatte um die Atompolitik in Deutschland ist wieder voll entbrannt“, stellt man am Abend in der „Tagesschau“ fest. Nur wenige Monate zuvor hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung beschlossen, die Restlaufzeiten der deutschen Kernkraftwerke zu verlängern. Die Opposition läuft nun Sturm dagegen. Alle Atommeiler müssten so schnell wie möglich abgeschaltet werden, fordern die Grünen. „Wir müssen uns klarmachen, dass nicht nur das Zeitalter des billigen Öls, sondern auch das Atomzeitalter zu Ende ist“, erklärt der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel.

    Das Atomkraftwerk Neckarwestheim mit der Menschenkette, die vom Kraftwerk bis ins rund 40 Kilometer entfernte Stuttgart reichte. Diese Demonstation gegen Atomkraft fand nur einen Tag nach der Katastrophe von Fukushima statt. Das Atomkraftwerk Neckarwesthe

    Das Atomkraftwerk Neckarwestheim mit der Menschenkette, die vom Kraftwerk bis ins rund 40 Kilometer entfernte Stuttgart reichte. Diese Demonstation gegen Atomkraft fand nur einen Tag nach der Katastrophe von Fukushima statt.

    13. März 2011 Die Katastrophenmeldungen aus Japan reißen nicht ab. In der Nacht ist zu hören, dass das Kühlsystem eines weiteren Reaktors in Fukushima ausgefallen sei. Der ehemalige Bundesumweltminister und Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin kritisiert Merkel im Gespräch mit dem Kölner Express scharf: „Die Bundesregierung bemüht sich vor allem darum zu versichern, dass ein Atomunfall im Hightech-Land Japan nichts mit Deutschland zu tun habe. Das ist fahrlässig und falsch.“ Weiter erklärt er: „Kein Atomkraftwerk der Welt ist gegen eine Kernschmelze ausgelegt – auch nicht die deutschen.“

    Trittin ist es, der im Jahr 2000 zusammen mit dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder und den Betreiberfirmen der Kernkraftwerke einen Vertrag aushandelt und damit Deutschlands Ausstieg aus der Atomenergie besiegelt. 2025 soll der letzte Reaktor vom Netz gehen, so ihr Plan. Gleichzeitig soll erneuerbare Energie gefördert werden.

    Rund zehn Jahre später, im Herbst 2010, beschließt die schwarz-gelbe Regierung unter Angela Merkel den Ausstieg aus dem Ausstieg. Laut der Kanzlerin sei das „vernünftig“. Die Restlaufzeiten der Kernkraftwerke werden verlängert: Die sieben vor 1980 in Betrieb genommenen Kraftwerke sollen je acht Jahre zusätzlich in Betrieb bleiben dürfen, die übrigen zehn bekommen je 14 Jahre zusätzlich. Der letzte Meiler ginge demnach 2036 vom Netz.

    Unter dem Eindruck von Fukushima erobern die Grünen Baden-Württemberg

    14. März 2011 Die Angst vor dem ersten atomaren Super-GAU seit Tschernobyl vor 25 Jahren wächst. Das Thema dominiert die Medien auch in Deutschland. Die „Bild“-Zeitung beschäftigt sich auf fünf Sonderseiten mit dem „Atom-Horror“ von Fukushima.

    Kanzlerin Merkel telefoniert mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer, in denen Atomkraftwerke betrieben werden, und beratschlagt sich mit ihrem Vizekanzler Guido Westerwelle. Am Abend verkündet sie, man habe sich für ein Atom-Moratorium entschieden: Alle 17 deutschen Kraftwerke sollen überprüft werden, die sieben ältesten werden für drei Monate stillgelegt. Auch das 2009 abgeschaltete AKW Krümmel bei Hamburg bleibt weiter außer Betrieb.

    Rund zwei Wochen nach Fukushima kommt es in Baden-Württemberg zu einem historischen Machtwechsel: Nach 58 Jahren CDU lenkt Bündnis 90/Die Grünen künftig die Geschicke des Landes und Windfried Kretschmann wird der erste grüne Ministerpräsident.

    Rund zwei Wochen nach der Katastrophe kommt es in Baden-Württemberg zu einem historischen Machtwechsel: Nach 58 Jahren CDU lenkt Bündnis 90/Die Grünen künftig die Geschicke des Landes und Windfried Kretschmann wird der erste grüne Ministerpräsident.

    15. März 2011 Die Opposition wirft Merkel vor, ihre Kehrtwende in der Atompolitik sei reine Wahlkampftaktik. In den kommenden Wochen wird in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt gewählt. Besonders den amtierenden Ministerpräsidenten in Stuttgart, Stefan Mappus von der CDU, bringt die aufgeheizte Anti-Atom-Stimmung in Schwierigkeiten. Er hat sich in der Vergangenheit als vehementer Befürworter der Kernenergie positioniert.

    In Japan droht die Lage indes komplett außer Kontrolle zu geraten. Südlich von Fukushima werden Strahlungswerte gemeldet, die rund 100-mal so hoch sind wie gewöhnlich. „Wir reden jetzt über eine Strahlendosis, die die menschliche Gesundheit gefährden kann“, zitiert die „Financial Times Deutschland“ einen japanischen Regierungssprecher.

    Im Umkreis von 30 Kilometern um das Kraftwerk werden die Menschen aufgefordert, in ihren Wohnungen zu bleiben. Auch in Tokio misst man erhöhte Strahlenwerte. Die Belastung sei um das 22-fache höher als üblich. Die Betreiberfirma Tepco zieht fast alle Mitarbeiter aus der Anlage ab. Anscheinend haben sie die Hoffnung aufgegeben, eine Katastrophe abwenden zu können, interpretieren deutsche Medien diesen Schritt.

    27. März 2011 In Baden-Württemberg kommt es zu einem historischen Machtwechsel: Grüne und SPD gewinnen die Landtagswahlen. Winfried Kretschmann wird der erste grüne Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik.

    Inzwischen weiß man, dass in drei Reaktorblöcken in Fukushima die Kerne geschmolzen sind. Noch immer steigt radioaktiver Dampf in die Atmosphäre. Mehr als 15.000 Menschen sind durch das Erdbeben und den Tsunami ums Leben gekommen. Tote durch die Strahlenkrankheit sind nicht bekannt, auch nicht unter den 23.000 Arbeitern, die das Kraftwerk sicherten. Im Trinkwasser in Tokio wird radioaktives Cäsium-137 nachgewiesen. Die Behörden raten davon ab, bestimmte Lebensmittel wie Spinat oder Shiitake-Pilze aus der verseuchten Region zu essen.

    Merkel wandelt sich von der Atomkanzlerin zur Ausstiegskanzlerin

    7. Mai 2011 Tausende Japaner demonstrieren in Tokio für den Ausstieg aus der Kernenergie. Auf ihren Plakaten steht „Nie mehr Fukushima“ oder „Schließt sofort alle Atomkraftwerke“.

    9. Juni 2011 „Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert“, erklärt die promovierte Physikerin Angela Merkel, als sie vor dem Bundestag die Novellierung des Atomgesetzes vorstellt. Ihr Kabinett hat beschlossen, acht Atommeiler sofort stillzulegen. Die neun weiteren Anlagen in Deutschland sollen schrittweise bis Ende 2022 vom Netz gehen.

    Für den Übergang sollen neue Kohle- und Gaskraftwerke gebaut werden. Zur zentralen Säule der zukünftigen Energieversorgung sollen die erneuerbaren Energien werden. Merkels Sinneswandel kommt für viele überraschend. In nur wenigen Monaten habe sie sich „von der Atomkanzlerin zur Ausstiegskanzlerin“ gewandelt, stellt die „Süddeutsche Zeitung“ fest.

    Im Video: Merkel erklärt den Atomausstieg

    Die Aufräumarbeiten in Fukushima dauern bis heute an. Experten vermuten, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis die Lage unter Kontrolle ist. Eine unabhängige Untersuchungskommission kommt im Juli 2012 zum Schluss, dass das Unglück von Fukushima keine Naturkatastrophe gewesen sei, sondern ein „von Menschen verursachtes Desaster, das vorausgesehen und verhindert hätte werden können und müssen“. Die Regierung, die Kontrollbehörden und Tepco hätten viele Fehler gemacht und die Nation verraten. Tepco macht in einem eigenen Bericht allein den Tsunami für die Katastrophe verantwortlich.

    Nach der Katastrophe von Fukushima sind alle 17 Atomkraftwerke des Landes für Sicherheitsüberprüfungen vom Netz genommen worden. Rund 16 Monate später, im Juli 2012, nimmt man die ersten Reaktoren im Atomkraftwerk Oi wieder in Betrieb. Anders könne Japan seinen Lebensstandard nicht halten, heißt es aus der Regierung.

    Dies ist der erste Teil unserer Artikelreihe, in der wir uns mit den Folgen der Atomkatastrophen vor fünf Jahren in Fukushima und vor 30 Jahren in Tschernobyl befassen. Die Dokumentation des verzweifelten Kampfs gegen den Super-GAU in der Sowjetunion und das Erstarken der Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland lesen Sie hier.

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