Verlassener Kindergarten in Kopachi: Auch 30 Jahre nach der Katastrophe ist der Ort nahe Tschernobyl noch radioaktiv verseucht.
Der Super-GAU und die deutsche Energiepolitik
- 26.04.2016
Von Tschernobyl zum Atomausstieg
Von Julia Müller
Am 26. April 1986 erschüttert eine gewaltige Explosion das Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine. Bis heute spüren die Menschen die verheerenden Nachwirkungen der Katastrophe – in der Ukraine, in ganz Osteuropa und selbst noch im 1.200 Kilometer entfernten Deutschland.
Der GAU vor 30 Jahren hat aber nicht nur ganz unmittelbare Folgen für das Leben der Menschen. Er hat auch die energiepolitische Debatte in Deutschland maßgeblich geprägt, von den Schlachten um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf über das Erstarken der Grünen in Bund und Ländern bis zum Atomausstiegsbeschluss der damaligen Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer im Jahr 2000. Eine Chronologie.
25. April 1986 Alles beginnt mit einem Experiment. In Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl stellen Techniker die Sicherungssysteme am Turbinengenerator ab. Mit einem simulierten Stromausfall wollen die sowjetischen Ingenieure testen, ob der Generator kurzzeitig allein dazu in der Lage wäre, wichtige Systeme zu versorgen. Dafür muss die Leistung des Reaktors heruntergefahren werden. Als die 100 Kilometer nördlich gelegene Metropole Kiew eine höhere Stromleistung benötigt, unterbricht man den Test für mehrere Stunden.
26. April 1986 In der Nacht wird das Experiment fortgesetzt. Dabei steigt die Leistung des Reaktors innerhalb von Sekunden unkontrolliert an. Eine Notabschaltung ist nicht mehr möglich. Um 1.23 Uhr kommt es zu einer nuklearen Kettenreaktion. Die Explosionen sind so stark, dass der mehr als 1.000 Tonnen schwere Deckel des Reaktorkerns abhebt. Das Graphit im Kern fängt Feuer. Große Mengen an radioaktiver Materie werden freigesetzt. Nicht nur die direkte Umgebung des Kernkraftwerks ist kontaminiert. Die radioaktiven Stoffe sammeln sich auch in einer Wolke, die sich sichelförmig nach Nordwesten ausbreitet.
Das erste Luftbild nach dem Super-GAU von Tschernobyl: Die Explosion ist so heftig, dass der mehr als 1000 Tonnen schwere Betondeckel des Reaktorkerns in die Luft fliegt.
27. April 1986 Die Brände außerhalb des Reaktors sind größtenteils gelöscht, die drei weiteren Blöcke des Kraftwerks abgeschaltet. Per Hubschrauber versucht man, den Unfallort mit Blei, Sand und Lehm zuzuschütten und die Strahlung einzudämmen. Etwa 30 Stunden nach der Explosion beginnt die Evakuierung der nahegelegenen Stadt Pripjet. 48.000 Menschen müssen ihr Zuhause verlassen.
28. April 1986 Im mehr als 1.200 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Forsmark in Schweden schrillen die Alarmglocken. Auf dem Gelände wird erhöhte Radioaktivität gemessen. Weil sie allerdings keine Schäden am Reaktor feststellen können, vermuten die Experten, dass die Strahlung aus einem defekten sowjetischen Reaktor stammt. Die schwedische Botschaft in Moskau fragt bei der sowjetischen Atomenergiebehörde nach. Es lägen keine Informationen über einen Zwischenfall vor, heißt es dort.
Erst Tage nach dem Super-GAU räumt die Sowjetunion die Katastrophe ein
29. April 1986 Erstmals spricht man in der Sowjetunion offiziell von einer Katastrophe. Die amtliche Nachrichtenagentur TASS vermeldet zwei Todesopfer. Auch drei Tage nach dem Ausbruch ist der Brand im Reaktorkern noch nicht unter Kontrolle.
Um die Unfallstelle wird eine 30 Kilometer breite Sicherheitszone eingerichtet. So genannte Liquidatoren – Soldaten, Feuerwehrleute, Zivilisten – beginnen damit, das verstrahlte Areal zu dekontaminieren. Viele tragen keine ausreichende Schutzkleidung.
Die Nachricht über den Reaktorunfall erreicht jetzt auch Deutschland. „Todeswolke schon über Dänemark – bald bei uns?“ titelt die „Bild“-Zeitung. Die „Tagesschau“ berichtet ausführlich über den GAU, den „größten anzunehmenden Unfall“.
Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann von der CSU versichert in der ARD: „Eine Gefährdung besteht nur in einem Umkreis von 30 bis 50 Kilometer um den Reaktor herum. Dort ist sie hoch. Wir sind 2.000 Kilometer weg.“ An zwölf Stationen in ganz Deutschland werde unaufhörlich gemessen, bis jetzt gäbe es keine erkennbare erhöhte Radioaktivität.
Auch Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) beschwichtigt: „Bei uns wäre ein solcher Zwischenfall undenkbar, unsere Reaktoren sind absolut sicher.“ Die Grünen sehen das anders. Bundesvorstandsmitglied Eva Quistorp fordert: „Die einzig verantwortungsvolle Konsequenz aus dem Unfall in Tschernobyl kann nur die Stilllegung aller Atomkraftwerke auch bei uns sein.“
Zollbeamte in Schutzkleidung prüfen Lastwagen und Autos aus Osteuropa auf Radioaktivität, nachdem sich die Wolke auch hierhin ausbreitet. Die Behörden warnen vor dem Verzehr bestimmter Lebensmittel.
30. April 1986 Im Laufe des Tages wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhöhte Radioaktivität in der Luft festgestellt. Die Wut auf die Verantwortlichen in Moskau, aber auch auf die Regierung in Bonn, wächst. In der „Welt“ kommentiert Herausgeber Herbert Kremp: „Unentschuldbar ist nicht die technische Katastrophe als solche – unentschuldbar und unvertretbar ist das politische Vertuschen der Atomwolke, die jetzt weht, wohin der Wind es will.“
1. Mai 1986 Eine weitere Strahlenwolke erreicht Süddeutschland. Durch heftigen Regen lagert sich radioaktiver Fallout auf dem Boden ab: Neben dem kurzlebigen Jod-131 mit einer Halbwertszeit von acht Tagen auch das langlebige Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren.
„Beim Rasenmähen sollten Sie Handschuhe tragen“, warnt Hessens Kultusminister
Während sich Politiker über mögliche Konsequenzen aus der Katastrophe streiten und Wissenschaftler diskutieren, ab welcher Höhe eine Strahlendosis gesundheitsschädlich ist, macht sich in der Bevölkerung die Angst breit. Darf ich meine Kinder noch draußen spielen lassen? Was kann ich guten Gewissens essen? Die Informationen sind dürftig, Behörden wiedersprechen sich. Gewarnt wir vor Freilandgemüse, Salat, Schnittlauch, Radieschen, Waldpilzen, Wild und Milcherzeugnissen.
Teilweise lässt man Straßen sperren, um zu verhindern, dass verseuchte Lebensmittel verkauft werden. Auf Spielplätzen wird der Sand ausgewechselt. Schwangeren rät man, möglichst nur noch Tiefgekühltes und Konserven zu essen. Am Bürgertelefon beim hessischen Kultusminister ist auf Band zu hören: „Beim Rasenmähen sollten Sie Haushaltshandschuhe tragen und die Kleidung danach wechseln sowie waschen.“
8. Mai 1986 Die Bonner Strahlenschutzkommission gibt eine Teilentwarnung für Cäsiumwerte. Spinat und Salat müssen nicht auf Sondermülldeponien gebracht werden, heißt es.
Ich glaube, Herr Bundeskanzler – und das unterscheidet uns – nach Tschernobyl ist nichts mehr so, wie es vorher war
Hans-Jochen Vogel, SPD-Chef, an Helmut Kohl
14. Mai 1986 Im Deutschen Bundestag kommt es zum Schlagabtausch zwischen Kanzler Helmut Kohl und den Grünen. Kohl spricht sich für eine weitere friedliche Nutzung der Kernenergie aus, während die Grünen den sofortigen Ausstieg fordern. In der hitzigen Debatte fällt vor allem Joschka Fischer auf, der in der bundesweit ersten rot-grünen Koalition in Hessen als Minister für Umwelt und Energie zuständig ist. Die SPD plädiert für einen schrittweisen Rückzug aus der Atomenergie. „Ich glaube, Herr Bundeskanzler – und das unterscheidet uns – nach Tschernobyl ist nichts mehr so, wie es vorher war“, erklärt der spätere Parteichef Hans-Jochen Vogel.
16. Mai 1986 Die Behörden geben Entwarnung: Spinat, Salat, Schnittlauch und Milch könnten wieder bedenkenlos verzehrt werden.
18. Mai 1986 Mehr als 10.000 Demonstranten protestieren in Wackersdorf in der Oberpfalz gegen Kernenergie. Dort soll eine zentrale Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe aus deutschen Atomreaktoren entstehen. Die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Polizei und Demonstranten geht als „Pfingstschlacht“ in die Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung ein. 187 Polizisten und Hunderte Demonstranten werden verletzt.
Ein Techniker misst im Mai 1986 die Radioaktivität im Reaktor von Tschernobyl. Viele Einsatzkräfte arbeiten ohne die nötige Schutzkleidung.
29. Mai 1986 Der Streit über die zukünftige Energiepolitik in Deutschland spitzt sich zu. Bund und Länder können sich nicht auf einen einheitlichen Kurs einigen. Die SPD verlangt eine erneute Sicherheitsüberprüfung aller Atomanlagen. Im ZDF erklärt der Kanzler, das Abschalten der Kernkraftwerke in der Bundesrepublik würde eine Katastrophe für die deutsche Volkswirtschaft bedeuten und Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftliches Elend zur Folge haben.
31. Mai 1986 Die Pläne für die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf werden begraben.
Fünf Monate nach dem Super-GAU in Tschernobyl geht Block 1 wieder ans Netz
6. Juni 1986 Als Reaktion auf die Katastrophe in Tschernobyl richtet die Bundesregierung ein neues Ministerium ein. Walter Wallmann von der CDU wird der erste Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
19. Juli 1986 Das Moskauer Politbüro kommt zu dem Schluss, dass grobe Fahrlässigkeit des Bedienungspersonals das Unglück verursacht habe. 28 Menschen seien gestorben, von den 208 Verletzten noch 30 im Krankenhaus.
29. September 1986 Der umgerüstete Block 1 des Atomkraftwerks Tschernobyl wird wieder eingeschaltet. Um den Unglücksreaktor soll ein Mantel aus Stahl und Beton entstehen. Das verstrahlte Gelände kann nur mit Schutzanzug und Atmungsgerät betreten werden.
12. Oktober 1986 Das Erstarken der Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland schlägt sich auch in den Ergebnissen der Landtagswahlen nieder. Den Grünen gelingt zum ersten Mal der Einzug in den bayerischen Landtag, sie erreichen 7,5 Prozent der Stimmen.
25. Januar 1987 Bei der Bundestagswahl 1987 wird Kanzler Helmut Kohl und seine schwarz-gelbe Koalition im Amt bestätigt. Die Grünen erreichen 8,3 Prozent der Zweitstimmen und bekommen 44 Sitze im Bundestag.
36.000
Tonnen wiegt der Sarkophag, der über dem Reaktor von Tschernobyl errichtet wird
Seit dem Unfall in Tschernobyl wurde in Deutschland kein neues Kernkraftwerk mehr gebaut. Im Jahr 2000 beschloss die damalige rot-grüne Bundesregierung den Ausstieg aus der Atomenergie, in der Folge wurden 2003 der Meiler in Stade und 2005 der in Obrigheim abgeschaltet.
Über die konkreten Folgen der Atomkatastrophe wird auch 30 Jahre danach noch gestritten. Je nach Studie schwankt die Zahl der Toten infolge von Tschernobyl zwischen 62 und Hunderttausenden.
Fest steht: Die 4.300 Quadratkilometer große Sperrzone rund um den Reaktor ist bis heute radioaktiv verseucht. Aktuell wird daran gearbeitet, den brüchigen Beton-Sarkophag um den Unglücksreaktor mit einer 36.000 Tonnen schweren bogenförmigen Konstruktion zu ummanteln, um ihn dauerhaft zu sichern. Die Kosten dafür schätzt man auf 2,15 Milliarden Euro.
Auch in Deutschland sind die Folgen von Tschernobyl noch spürbar: Bestimmte Pilzarten und Wildtiere sind in einigen Gegenden, vor allem in Südbayern und im Bayerischen Wald, noch so stark mit Cäsium-137 belastet, dass das Bundesamt für Strahlenschutz von einem Verzehr abrät.