Greta Thunberg Mitte April in Rom: Wünscht sich die Ikone der Klimabewegung eine Renaissance der Kernkraft?
Thunberg und die Kernkraft
- 25.04.2019
Die Greta-Frage
Von Gregor Kessler
Greta Thunberg, die schwedische Initiatorin der womöglich wirkmächtigsten Klimabewegung seit Erfindung der Dampfmaschine, macht auf Facebook gewöhnlich nicht viele Worte. Die Mehrzahl ihrer Posts besteht aus Fotos von Schülerdemos und kurzen Sätzen aus ihren pointierten Reden. Doch am 17. März holt die 16-Jährige weiter aus. Zwei Tage nachdem weltweit 1,5 Millionen Schüler den Unterricht bestreikt hatten, um einen besseren Klimaschutz zu fordern, erklärt Thunberg noch einmal, worum es ihr und der „Fridays for Future“-Bewegung geht. In Zeiten von Twitter gleicht ihr 4000-Zeichen-Eintrag einem Epos, bei vielen Kommentatoren bleibt aber nur ein Halbsatz hängen: Atomenergie, schreibt Thunberg, „kann ein kleiner Teil in einer sehr großen neuen CO2-freien Energielösung sein.“
Die Wörter „Atomenergie“ und „Lösung“ passen bislang für den Großteil der Umweltbewegung so gut zusammen wie „Gentechnik“ und „Ökobauer“. Entsprechend gierig schlachten konservative Medien von „Bild“ und „Welt“ über „Focus“ bis zum Schweizer „Blick“ den vermeintlichen Widerspruch aus. Ausgerechnet die Galionsfigur der erstarkenden Klimabewegung spricht sich für die in vielen Ländern nicht mehr gesellschaftsfähige Atomenergie aus, heißt es mit unüberhörbarer Genugtuung.
Ein starker Spin mit schwachem Gehalt.
Denn schon in der ursprünglichen Version ihres Posts macht Thunberg klar, dass dies nicht ihre Meinung ist. Sie verweist dabei auf eine Einschätzung des Weltklimarats IPCC. Dieses maßgebliche wissenschaftliche Beratergremium in Klimafragen hatte im vergangenen Herbst in einem Sonderbericht Duzende von Szenarien untersucht, um zu klären, wie sich das in Paris beschlossene Ziel erreichen lässt, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu beschränken. Atomenergie, die heute weniger als drei Prozent des weltweiten Energiebedarfs deckt, spielt in vielen dieser Szenarien eine Rolle. Doch zugleich verweist der IPCC in seinem Bericht auch klar auf die Risiken der Technologie (Seite 20/21 im PDF).
Wenn also die „Bild“-Zeitung schreibt, Greta Thunberg wolle „lieber Atomkraft statt Kohlestrom“, dann ist das gleich doppelt falsch. Thunberg verweist auf die Rolle der Atomenergie in Energieszenarien des IPCC. Dass sie selbst nicht den Bau weiterer Atommeiler fordert, unterstreicht sie nach der brausenden medialen Erregung schnell mit einer kurzen Ergänzung: „Persönlich bin ich gegen Atomenergie.“ In einem Interview mit Anne Will erläutert sie diese Haltung wenig später erneut.
Eine Präzisierung, aus der die „Welt“ flugs eine Kehrtwende konstruiert: „Plötzlich ändert Greta Thunberg ihre Meinung zur Atomkraft.“ Auch „Spiegel“-Redakteur Jan Fleischhauer erliegt dem Reflex, Thunbergs Post zu einer Breitseite gegen vermeintliche ökologische Widersprüche zu missbrauchen. In einer Kolumne arbeitet er sich länglich am Aufstieg der Person Thunberg ab und nutzt die Gelegenheit, der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Göring-Eckhardt ein paar Worte mitzugeben, vermeidet aber jede inhaltliche Auseinandersetzung.
Anders die „Bild“-Zeitung, die fälschlich unterstellt, der Kohleausstieg sei nur mit durch den Ausbau der Atomenergie zu haben: Um den heutigen Kohleanteil am globalen Energiemix von etwa einem Viertel zu ersetzen, seien zahllose neue AKW nötig, heißt es dort.
Doch die technischen Probleme bei Neubauprojekten in Frankreich oder England und ihre teils jahrelangen Verzögerungen zeigen, dass Atomkraftwerke keine schnelle Lösung sind. Und schon gar keine günstige.
Die Aufregerdebatte um „Greta und die Atomenergie“ passt zum Umgang mit der gesamten „Fridays For Future“-Bewegung. Statt sich mit deren zentraler Forderungen nach einer wirkungsvollen Klimapolitik zu beschäftigen, werden Nebenschauplätze aufgemacht. Man diskutiert über das Reiseverhalten prominenter Aktivisten, ihre thematische Qualifikation oder die Frage, wie die Streiks und die Schulpflicht zusammengehen. Dass derweil der Kohleausstieg verschleppt wird und Deutschland noch immer kein wirkungsvolles Klimagesetz hat, gerät darüber aus dem Blick.
Ironischerweise ging es Greta Thunberg in ihrem Facebook-Eintrag genau darum: um einen ganzheitlichen Blick auf die enorme Herausforderung der Klimakrise. Einen, der sich nicht länger mit der Diskussion einzelner Lösungsansätze aufhält, sondern angeht, was der IPCC-Bericht „beispiellose Veränderungen in allen Teilen der Gesellschaft“ nennt.
Wir brauchen eine neue Form des Wirtschaftens, bei der alles auf unserem schnell schrumpfenden und extrem begrenztem CO2-Budget basiert
Greta Thunberg
Wie weitreichend diese Änderungen seien müssen, deutet Thunberg nur an: „Wenn du deine Hausaufgaben gemacht hast, merkst du, dass wir eine neue Politik brauchen. Wir brauchen eine neue Form des Wirtschaftens, bei der alles auf unserem schnell schrumpfenden und extrem begrenztem CO2-Budget basiert.“ Und selbst das sei noch nicht genug, schreibt sie weiter. Nötig sei eine ganz neue Art des Denkens. Eine, die nicht mehr auf Wettbewerb und Gewinnen gründe.
Kein Wunder also, dass die meisten Kommentatoren sich lieber mit hämischen Sticheleien begnügen. Thunbergs eigentliches Thema ist schließlich weitaus unbequemer.