Energie-Ökonomin Claudia Kemfert

  • Search01.08.2024

„Unterm Strich haben wir schon viel erreicht“

Claudia Kemfert ist Deutschlands bekannteste Energieexpertin. Im Interview erklärt sie, wie die fossile Industrie die Energiewende hintertreibt, was gegen das Erstarken von Rechtsextremen hilft und wie mit Klimaschutz wieder Wahlen gewonnen werden können.

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    Claudia Kemfert entlarvt im Interview Mythen der Energiewende und erklärt, warum Klimaschutz eine Investition in eine bessere Zukunft ist.

     

    Ein Café in der Fußgängerzone von Oldenburg, der Heimatstadt von Claudia Kemfert. Die renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin kommt ein paar Minuten zu spät zum Interview, holt die Zeit aber sofort auf: Bei ihren Herzensthemen Energie und Klima muss Kemfert nicht lang nachdenken, sie spricht schnell, Zahlen und Fakten referiert sie aus dem Kopf. „Wir haben ohnehin schon zu viel Zeit in der Energiewende verloren“, sagt die Professorin und Abteilungsleiterin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Also los!

    Frau Kemfert, wir haben von Jahr zu Jahr mehr Ökostrom im Netz, inzwischen fast 60 Prozent. Gleichzeitig steigen die Stromrechnungen. Wie passt das zusammen, wenn Sie doch sagen, dass Erneuerbare viel günstiger seien als Kohle-, Gas- und Atomstrom?
    Claudia Kemfert: Dass die Erneuerbaren günstiger sind, ist eine Tatsache. Das sieht man schon daran, dass die Preise an der Strombörse immer dann fallen, wenn erneuerbare Quellen besonders viel Energie liefern. Wenn wir dagegen viel Kohle und Gas benötigen, steigen die Preise. Das liegt am Mechanismus der Strombörse, wonach immer zuerst die günstigsten Energiequellen zur Deckung des Bedarfs herangezogen werden, Stichwort Merit Order. Dass wir die niedrigen Kosten der Solar- und Windenergie nicht in vollem Umfang auf unserer Stromrechnung sehen, hat aber noch andere Gründe: Die Rechnung setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, von denen die Produktion des Stroms nur eine ist. Insbesondere die Netzentgelte sind stark gestiegen, und damit auch unsere Stromrechnungen.

    Was ließe sich dagegen tun?
    Kemfert: Wir müssten die Netzentgelte gerechter aufteilen. Aktuell sind sie in Regionen, in denen viel erneuerbare Energie neu ans Netz angeschlossen wird, besonders hoch.  Das ist unfair. Überall sollte gleich viel bezahlt werden. Außerdem sind die Ausbaupläne für das Stromnetz überdimensioniert. Mit einer dezentralen Energiewende von unten und einer intelligenten Netzsteuerung müssten wir nicht so große Mengen Strom quer durch die Republik transportieren und bräuchten entsprechend weniger Stromautobahnen.

    Claudia Kemfert leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit. Sie ist eine gefragte Expertin zu politischen Themen und hat eine Reihe von Bestsellern zur Energiewende verfasst. Nach ihrem Buch „Schockwellen“ von 2023 erscheint in diesen Tagen der Sammelband „Unlearn CO2“, in dem sie gemeinsam mit anderen Autoren Wege aus der Klimakrise aufzeigt.   Foto: Reiner Zensen

    Wie liegen die deutschen Strompreise im europäischen Vergleich? Gerade die Industrie stöhnt über hohe Kosten.
    Kemfert: Wir haben uns die Zahlen beim DIW angeschaut: Die deutschen Strompreise liegen etwa im europäischen Mittelfeld. Entscheidend ist aber nicht der Strompreis an sich, sondern der Anteil an der Bruttowertschöpfung, also die Frage, wie hoch die Stromkosten für Unternehmen im Vergleich zu ihren gesamten Produktionskosten sind. Und dieser Anteil ist in Deutschland für einen Großteil der Industrie sehr gering. In der Regel liegt er unter drei Prozent, manchmal unter einem Prozent. Es gibt allerdings einige besonders energieintensive Unternehmen in Branchen wie der Chemie- und Papierproduktion oder im Maschinenbau, bei denen es deutlich mehr ist. Diesen Unternehmen muss geholfen werden. Aber bitte nicht per Gießkanne in Form eines Industriestrompreises, von dem dann auch die 95 Prozent der Firmen profitieren würden, die gar nicht darauf angewiesen sind. Das wäre Verschwendung.

    2017 haben Sie in Ihrem Buch „Das fossile Imperium schlägt zurück“ erklärt, die Energiewende müsse gegen die Angriffe der Kohleindustrie verteidigt werden. Dann kam Fridays for Future, und der Kampf schien schon gewonnen. Stehen wir heute wieder am Anfang?
    Kemfert: Nein, dazu haben wir schon zu viel erreicht, etwa mit dem Green Deal der EU. Klimaschutz verläuft bislang in Wellenbewegungen: drei Schritte vor, zwei zurück. Derzeit sind wir mit dem Erstarken des Populismus und einer Flut von Fake News in einer Phase der Rückwärtsbewegung. Die fossilen Konzerne, deren schädliche Geschäftsmodelle im Sterben liegen, sind nicht bereit, das Feld kampflos zu verlassen. Doch ihr Ende steht bevor, eher früher als später.

    Erneuerbare Energien sind die mit Abstand wichtigste Stromquelle in Deutschland. Sie erzeugen deutlich mehr Strom als Kohlekraftwerke. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Warum ist Klimaschutz an der Wahlurne kein Gewinnerthema mehr?
    Kemfert: Es wäre immer noch ein Gewinnerthema! Eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung möchte eine Vorreiterrolle für Deutschland beim Klimaschutz. Aber zwei gigantische Krisen, die Pandemie und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, überlagern das Thema. In dieser Welt multipler Bedrohungen wächst die Spaltung: Die ärmeren Teile der Bevölkerung verlieren weiter an Boden, die Reichen gewinnen noch hinzu. In diesem Umfeld verdrängen Fragen der sozialen Sicherheit die ökologische Krise, obwohl beides direkt zusammenhängt.

    Müssten in einer solchen Phase nicht linke Parteien gewinnen, die sich klassischerweise Gerechtigkeit auf die Fahnen schreiben? Stattdessen wächst der rechte Rand.
    Kemfert: Leider sind Rechtsextreme sehr clever darin, falsche, einfache Parolen zu verbreiten. Sie nutzen soziale Streitfragen für ihre Täuschungsmanöver, machen Klimaschutz zum Sündenbock, aber in Wahrheit wollen sie fossile Geschäftsmodelle und Privilegien der Reichen erhalten.

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    Warum gibt es noch immer keine Vermögenssteuer? Aus solchen Einnahmen ließen sich viele sinnvolle Dinge finanzieren, etwa ein dauerhaftes Neun-Euro-Ticket

    Claudia Kemfert

    Wie lässt sich verhindern, dass über die Energiewende nur noch ideologisch diskutiert und Klimaschutz einfach deshalb abgelehnt wird, weil er von der „anderen Seite“ kommt?
    Kemfert: Mit einer sozial gerechten Klimapolitik. Warum gibt es noch immer keine Vermögenssteuer? Superreiche würden die Belastung vermutlich nicht mal spüren! Aus solchen Einnahmen ließen sich viele sinnvolle Dinge finanzieren, etwa ein dauerhaftes Neun-Euro-Ticket und Investitionen in die Schiene. Ärmere Menschen haben meist kein Auto, ein günstiger ÖPNV wäre für sie eine echte Erleichterung. Die Ampelregierung hatte ein Klimageld bereits beschlossen, das die Einnahmen aus der dringend notwendigen Verteuerung von CO2 an die Bevölkerung zurückgibt. Haushalte mit wenig Einkommen, die ohnehin weniger CO2 freisetzen, hätten dadurch mehr in der Tasche. Warum kommt das Klimageld jetzt nicht?

    Die Ampel hatte einen Neustart im Klimaschutz versprochen. Hat sie dieses Ziel selbst torpediert, etwa mit dem verstolperten Heizungsgesetz?
    Kemfert: Verstolpert ist ein viel zu nettes Wort für das, was da passiert ist. Es war zu erwarten, dass die Wärmewende auf Protest stößt. Trotzdem war man auf die Kampagne gegen die Wärmepumpe nicht vorbereitet.

    Claudia Kemfert sieht in einer sozial gerechten Energiewende den Garanten einer Zukunft in Sicherheit und Wohlstand. Im Interview erklärt die Ökonomin, worauf es dabei ankommt.

    „Russisches Gas ist und war nie billig. In Wahrheit sind die Kosten horrend“, sagt Claudia Kemfert.

    Haben die Kritiker denn nicht recht, wenn sie auf die hohen Kosten für Wärmepumpen verweisen? Wäre es nicht billiger, russisches Gas zu verheizen?
    Kemfert: Russisches Gas ist und war nie billig. In Wahrheit sind die Kosten horrend. Wir bezahlen schon heute teuer für die Klimaschäden und die ökonomische und politische Abhängigkeit. Wärmepumpen sind nicht nur viel effizienter als Gasthermen, sie machen uns auch unabhängig von fossilen Autokraten.

    Nur eben viel teurer.
    Kemfert: Die Anfangsinvestitionen mögen derzeit höher sein. Langfristig sind Wärmepumpen günstiger, weil die Betriebskosten niedriger liegen: Gas wird teurer, Öko-Strom günstiger. Das belegen wissenschaftliche Studien. Etliche Start-ups bieten Rundum-sorglos-Pakete zu günstigen Preisen an, und zwar gezielt für Menschen mit niedrigen Einkommen. Die Geräte können zum Beispiel geleast werden. Ich hoffe, Deutschland holt so beim Einbau von Wärmepumpen endlich auf, denn derzeit sind wir europäisch unter den Schlusslichtern. Leider kursieren seit der Kampagne gegen die Wärmewende viele Mythen, die jetzt mühsam widerlegt werden müssen.

    Stichwort Mythen: Lassen Sie uns einmal drei gängige Argumente von Klimaskeptikern durchgehen. Nummer eins: Wir können uns Klimaschutz in Deutschland sparen, solang in China im Wochentakt Kohlekraftwerke eröffnen.
    Kemfert: Ah, das berühmte „Aber China!“-Argument. Da ist aus mindestens zwei Gründen nichts dran: Zum einen liegt Deutschland weltweit bei Pro-Kopf-Emissionen seit Jahrzehnten unter den ersten Zehn. China hat jüngst aufgeschlossen, aber das entbindet uns nicht aus der Verantwortung, unseren Teil im Kampf gegen die Klimakrise beizutragen. Zum anderen investiert China in gigantischem Ausmaß in Erneuerbare. Das spürt man beispielsweise an der Flut von billigen Solarmodulen und E-Autos. Wir wehren uns mit Zöllen gegen unfaire Subventionen in China, aber Tatsache ist auch, dass gerade ärmere Haushalte davon profitieren.

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    Natürlich gibt es Zeiten, in denen Wind und Sonne gleichzeitig keine Energie liefern. Doch zum Glück haben wir die Technologien, um solche Phasen zu überbrücken

    Claudia Kemfert

    Nummer zwei: Erneuerbare können unsere Energieversorgung niemals im Alleingang sicherstellen.
    Kemfert: Das „Dunkelflauten“-Argument! Natürlich gibt es Zeiten, in denen Wind und Sonne gleichzeitig keine Energie liefern. Doch zum Glück haben wir die Technologien, um solche Phasen zu überbrücken, etwa dank Wasserkraft, Biomasse und Geothermie, aber auch mit Batteriespeichern und schließlich auch grünem Wasserstoff, der in Kavernen gespeichert wird. Und dann gibt es noch zwei weitere Dinge, die uns beim Übergang in ein komplett auf Erneuerbaren basierendes Energiesystem helfen und die von Skeptikern oft absichtlich unterschlagen werden.

    Nämlich?
    Kemfert: Das eine ist die Digitalisierung. Wenn wir in die analoge Welt von früher blicken und die Entwicklung einfach linear in die Zukunft fortschreiben, machen wir einen Fehler, weil wir die Möglichkeiten übersehen, die sich aus einer intelligenten, digitalen Steuerung des Energiesystems ergeben. Das andere ist die Tatsache, dass wir künftig zwar mehr Strom, insgesamt aber viel weniger Energie benötigen: Verbrennungsmotoren und Kohlekraftwerke verschwenden unglaublich große Energiemengen. Elektroautos und Wärmepumpen haben viel höhere Wirkungsgrade.

    Der Primärenergieverbrauch in Deutschland sinkt tendenziell seit Jahren. Das liegt u.a. am Ausbau der Erneuerbaren, die besonders effizient Energie liefern. Infografik: Andreas Mohrmann

    Mythos Nummer drei: Wir können uns Klimaschutz nicht leisten angesichts all der Krisen in der Welt.
    Kemfert: Das Gegenteil stimmt: Wir können es uns nicht leisten, auf Klimaschutz zu verzichten. Als ich vor mehr als 20 Jahren die ersten Studien zu den Kosten der Klimakrise erstellt habe, hieß es, die Zahlen seien weit übertrieben. Heute sehen wir, dass alles noch viel teurer wird. Die Kosten steigen exorbitant, durch Katastrophen wie das jüngste Hochwasser oder die Ahrtalflut, durch steigende Ausgaben für klimabedingte Krankheiten und unzählige andere Faktoren. Klimaschutz ist keine Belastung, Klimaschutz ist unsere Rettung! Statt nach Gründen zu suchen, die vermeintlich gegen die Energiewende sprechen, sollten wir lieber darüber reden, wie wir davon profitieren.

    Nur zu! Wie sieht Ihre Vision aus?
    Kemfert: Wir haben unwahrscheinlich viel zu gewinnen, gerade im Nordwesten, wo die Windenergie boomt und zukunftssichere Jobs schafft. Auch die Häfen profitieren, Wilhelmshaven etwa positioniert sich als Drehscheibe für Wasserstoff, Cuxhaven wird als Windkraftstandort immer wichtiger. Es kommt jetzt nur darauf an, dass wir am Ball bleiben.

    Sind Sie optimistisch, dass das klappt?
    Kemfert: Selbstverständlich! Ich beschäftige mich schon so lang mit den Erneuerbaren und Klimaschutz, dass ich viele Rückschritte miterlebt habe. Trotzdem haben wir unterm Strich schon viel erreicht. Die Welt würde auf ein deutlich höheres Maß an Erwärmung zusteuern, wenn wir in Europa nicht begonnen hätten, das Ruder herumzureißen. Das sollte uns Mut machen!

    Die Fragen stellte Volker Kühn.

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