Claudia Kemfert: Schockwellen
Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, als die Welt am Rande eines Atomkriegs stand, hat die Sowjetunion ihre vertraglich vereinbarten Gaslieferungen an den Westen jederzeit erfüllt: Mit diesem Narrativ haben sich Wirtschaft und Politik in Deutschland über Jahrzehnte beruhigt, wann immer sich das Land durch neue Gaspipelines und Lieferverträge tiefer in die Abhängigkeit von Russland begab. Das war in der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder nicht anders als in den von Angela Merkel geführten Regierungen mit den Liberalen oder der SPD. Dabei war es kein Geheimnis, dass sich Russlands Präsident Wladimir Putin nicht scheute, Gas als Waffe einzusetzen.
Wenige haben so beharrlich darauf hingewiesen wie Claudia Kemfert. Sie hat vor dem Bau der Gasröhren Nord Stream 1 und 2 genauso gewarnt wie vor der Übergabe deutscher Gasspeicher an Russland. Das Netz ist voll von Kemferts Kassandrarufen.
Schon 2006 wies sie in einem Interview mit der „Deutschen Welle“ auf die „höchst gefährliche Abhängigkeit“ von Russland hin. 2007 kritisierte sie an selber Stelle, dass Deutschland es versäumt habe, seine Gasversorgung durch den Bau von LNG-Terminals zu diversifizieren. 2014 nannte sie den Gasspeicher-Deal zwischen der BASF-Tochter Wintershall und Gazprom in einem Video einen Fehler. Doch statt auf die Wissenschaft zu hören, hätten Wirtschaft und Politik ihre Warnungen in den Wind geschlagen oder gar versucht, sie lächerlich zu machen, konstatiert die Energieökonomin.
Das verleiht Kemfert hohe Glaubwürdigkeit, wenn sie in ihrem neuen Buch „Schockwellen“ zu einer Generalabrechnung mit der Energiepolitik in Vergangenheit und Gegenwart ausholt. Sie beschreibt darin, wie sich Deutschland Schritt für Schritt den Interessen von Putin und seinem „fossilen Monsterimperium“ auslieferte. Die Verstrickungen reichten so tief, dass sich Deutschland selbst nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vor ziemlich genau einem Jahr nur zögerlich daraus befreien konnte. Statt ein umfassendes Energieembargo zu verhängen, das zwar teuer, aber ein „souveräner Akt der Selbstverteidigung“ gewesen wäre, kappte Deutschland die Verbindungen nur schrittweise. Dabei wäre aus wissenschaftlicher Sicht auch eine starke Reaktion zu stemmen gewesen.
Die weiteren Entwicklungen geben Kemfert auch hier recht. Schließlich kam es keineswegs zur „Zerstörung der gesamten Volkswirtschaft“, wie aus der Industrie vorhergesagt, als die Gaslieferungen im Sommer durch Putin vom einen Tag auf den anderen gestoppt wurden.
Heute baut Deutschland LNG-Terminals, wie Kemfert vor mehr als 15 Jahren angeregt hat. Folgt die Politik ihren Ratschlägen nun also doch? Nein, sagt die Wissenschaftlerin. Denn heute brauche man die Terminals nicht mehr, erst recht nicht in den geplanten Dimensionen. Die Antwort auf die Energiekrise müsse vielmehr die sein, die Kemfert seit jeher fordert: der massive Ausbau der erneuerbaren Energien.
Kämpferisch, lehrreich, faktensatt: Claudia Kemferts Buch ist eine oft schmerzhaft zu lesende Bestandsaufnahme der Fehler der Vergangenheit – und ein Aufruf, die letzte Chance zu ergreifen, um eine Welt mit sicheren Energien und Frieden zu schaffen.