Tim Meyer: Strom
Wenn sich Sissa ibn Dahir abends über sein Schachbrett beugte, dann wird er das im Schein eines Feuers getan haben. Denn elektrisches Licht gab es nicht, als er im dritten Jahrhundert das Schachspiel erfand. Und doch lehrte der Inder die Menschheit mithilfe seines Schachbretts eine Lektion, die für das Verständnis des Zeitalters der Elektrizität entscheidend ist.
Vom Herrscher Shihram gefragt, welche Belohnung er sich für seine Erfindung wünsche, bat er darum, Reis auf das Spielbrett zu legen, und zwar ein Korn aufs erste Feld, zwei auf das nächste und dann immer die doppelte Menge auf alle folgenden Felder. Doch der Reis des gesamten Königreichs genügte nicht, um Sissas Wunsch zu erfüllen. Dafür hätte man 750 Milliarden Tonnen gebraucht.
Sissa lehrte die Menschen damit, was exponentielles Wachstum ist. Wir sind es gewohnt, die Welt zu vereinfachen, um Informationen schnell verarbeiten zu können. Deshalb denken wir linear: zwei, vier, sechs, acht, zehn. Die Realität aber hält sich nicht immer daran, Pandemien und der Klimawandel sind Beispiele dafür. Sie verlaufen exponentiell: zwei, vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig.
Und genauso verhält es sich mit der globalen Energiewende. Das zumindest ist die zentrale These von Tim Meyers Buch „Strom“. Erneuerbare Energien und grüne Technologien wie Batteriespeicher würden in solch atemberaubender Geschwindigkeit besser und günstiger, dass wir sie noch immer dramatisch unterschätzten, schreibt der promovierte Elektrotechniker und Unternehmensberater. Die Märkte allerdings hätten die enormen Effizienzvorteile erneuerbarer Energien erkannt, so Meyer, der die Branche unter anderem als Vorstand von Naturstrom und beim Solarunternehmen Conergy kennengelernt hat. Deshalb erlebten grüne Technologien derzeit weltweit einen Durchbruch, angetrieben von industrieller Massenfertigung und Investoren auf der Suche nach günstigen Anlageformen.
Die Energierevolution kann verzögert werden. Stoppen lässt sie sich nicht
Für die deutsche Wirtschaft berge die Entwicklung große Chancen, erklärt Meyer in seinem anschaulich geschriebenen Buch. Voraussetzung: Es gelingt, die Beharrungskräfte aus fossilen Industrien abzuschütteln. „Die weltweite Energierevolution wartet nicht auf uns. Sie hat allerdings die Kraft, uns zu überrollen. Unsere alten Stärken und Exportschlager der Verbrennungstechnologie, allen voran der Ottomotor und der Dieselmotor, schützen uns davor nicht – eher bremsen sie uns“, schreibt Meyer.
Das liest sich wie eine Warnung angesichts der derzeit in Deutschland und vielen anderen Ländern zu beobachtenden Versuche, die Energiewende zurückzudrehen. Mit seinen oft im Stil eines Essays verfassten Analysen weckt Meyer die Zuversicht, dass diese Versuche die Energierevolution zwar verzögern, aber nicht stoppen können.