Lamia Messari-Becker, geboren 1973 in Marokko, kennt das Bauen aus Theorie und Praxis. Die Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Uni Siegen war in leitender Position für ein internationales Planungsbüro tätig. Sie ist Mitglied im Club of Rome, hat die Bundesregierung im Sachverständigenrat für Umweltfragen sowie im Wissenschaftsgremium Zukunft Bau beraten und ist eine der bekanntesten deutschen Expertinnen für Nachhaltigkeit im Immobiliensektor.
Frau Prof. Messari-Becker, die Preise für Gas und Strom explodieren, Deutschland fürchtet den Energienotstand im Winter. Rächt es sich jetzt, dass die Energiewende lange vor allem darin bestand, Windräder und Solaranlagen zu bauen?
Lamia Messari-Becker: Deutschland hat in der Energiepolitik grobe Fehler gemacht. Die Abhängigkeit von russischem Gas ist der eine, aber ebenso kurzsichtig war der ausschließliche Fokus auf Strom. Deutschland hat 2020 einen Endenergiebedarf von rund 2330 Terawattstunden. Davon macht Strom als Energieform nur 20 Prozent aus, der Rest verteilt sich auf Wärme und Treibstoffe. Viele Politiker und Experten haben das Bild vermittelt, dass wir nicht nur die bestehende Stromerzeugung durch Wind- und Solarkraft ersetzen können, sondern dass Strom auch die Funktion aller anderen Energieformen übernimmt, also die Versorgung von Industrie, Gebäuden und Verkehr. Das ist Wunschdenken.
Aber genau das passiert doch: Immer mehr Menschen fahren E-Autos oder installieren Wärmepumpen.
Messari-Becker: Natürlich kommt es zu Verschiebungen, das ist auch richtig so. Aber wir können niemals so viel Strom erzeugen, dass wir damit alle anderen Energieformen ersetzen und alle Sektoren sicher versorgen können, schon gar nicht mit Wind- und Solarkraft allein. Was wir brauchen, ist eine diversifizierte Energiewende, Speichertechnik, Speicherinfrastruktur und eine echte Wärmewende.