Erneuerbare und Artenschutz

  • Search15.10.2022

„Wir müssen die Flächen doppelt und dreifach nutzen“

Ist im dicht besiedelten Deutschland Platz für Landwirtschaft, Windenergie und Artenvielfalt zugleich? Ja, sagt Kai Niebert, Präsident des Naturschutzrings – wenn wir den Platz besser aufteilen.

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    Kai Niebert, Präsident des Deutschen Naturschutzrings, im Interview über Flächenkonflikte zwischen Landwirtschaft, erneuerbaren Energien und Artenschutz.

     

    Kai Niebert (43) ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings, der als Dachverband knapp 100 Organisationen wie BUND, WWF, NABU und Germanwatch vertritt. An der Uni Zürich ist der gebürtige Hannoveraner seit 2014 Professor für die Didaktik der Naturwissenschaften und der Nachhaltigkeit. Als Mitglied der Kohlekommission und der Zukunftskommission Landwirtschaft hat Niebert die Bundesregierung beraten. Seit Juni gehört er der von der Ampelregierung geschaffenen Allianz für Transformation an.

    Herr Niebert, kennen Sie den Raubwürger?
    Kai Niebert: Nur aus dem Lehrbuch.

    Der Raubwürger ist ein bedrohter Singvogel, den Naturschützer in einem Kiefernforst im Sauerland gesichtet haben. Sie fordern nun ein Schutzgebiet, aber der Waldbesitzer will Windräder bauen.
    Niebert: Da sehen wir es: Auch in Kulturlandschaften kann sich Natur ansiedeln. Wie ging die Geschichte aus?

    Die Behörden geben dem Waldbesitzer recht: Laut Oliver Krischer, dem grünen Umweltminister von NRW, ist die Art durch Windräder nicht gefährdet. Aber kann man das überhaupt so pauschal ausschließen?
    Niebert: Natürlich lässt sich nie mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob ein Vogel nicht doch mal in ein Rotorblatt gerät, selbst wenn die Art gewöhnlich vielleicht gar nicht in der entsprechenden Höhe unterwegs ist. Was man aber ziemlich genau weiß, ist, dass Windräder bei Weitem nicht die größte Gefahr für Vögel sind.

    Sondern?
    Niebert: Die größte Gefahr sind die ausgeräumten Agrarlandschaften. Das sind meist Monokulturen, in denen Vögel wenig bis nichts zu fressen finden. Werden dort Gifte gegen Nager ausgebracht, sterben zudem auch Greifvögel, die diese Nager fressen. Das zweite große Problem ist der Verkehr: Es ist nicht zu unterschätzen, wie viele Vögel an Autobahnen oder Hochgeschwindigkeitszügen sterben. In Siedlungen sind zudem Glasfassaden eine tödliche Gefahr. Und auch freilaufende Hauskatzen sind ein Problem für den Vogelbestand. Erst dann folgt mit weitem Abstand die Windkraft als kleinster Faktor in dieser Aufzählung.

    Warum konzentriert sich die Diskussion trotzdem meist darauf?
    Niebert: Weil die Windräder ein vergleichsweise neuer Faktor sind. Die industrielle Agrarlandschaft, die Autobahnen und Bahntrassen, die Glasscheiben, die Hauskatzen, all das gibt es da draußen schon so lang, dass es oft als gegeben hingenommen wird. Mit den Windrädern kommt nun ein zusätzlicher Stressfaktor ins Spiel, den viele nicht auch noch hinzunehmen bereit sind. Ich halte es allerdings für falsch, ausgerechnet am kleinsten Faktor anzusetzen, zumal wir die erneuerbaren Energien im Kampf gegen die Klimakrise brauchen.

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    Lasst uns die Probleme da lösen, wo sie bereits massiv auftreten – vor allem in der Landwirtschaft

    Kai Niebert

    Was schlagen Sie stattdessen vor?
    Niebert: Lasst uns darüber reden, wie wir die Agrarlandschaft umbauen, wie wir attraktivere Lebensräume für die Vogelwelt schaffen. Wie wir mit weniger neuen Straßen auskommen. Wie wir Autobahnen vielleicht sogar zurückbauen können. Lasst uns die Probleme da lösen, wo sie bereits massiv auftreten – vor allem in der Landwirtschaft.

    Heißt das, Sie wollen Landwirten Flächen wegnehmen, um sie zu Naturschutzgebieten zu machen?
    Niebert: Nein, das würde nicht funktionieren. Alle Flächennutzer haben schließlich berechtigte Ansprüche: Wir brauchen die Landwirtschaft zur Lebensmittelproduktion, wir brauchen die Erneuerbaren zur Energieerzeugung und wir brauchen den Artenschutz, weil wir ohne funktionierende Ökosysteme nicht überleben können. Da die Fläche aber nun mal endlich ist, müssen wir sie eben doppelt und dreifach nutzen. Bislang verschwenden wir viel zu viel.

    Gut die Hälfte der Fläche Deutschlands wird landwirtschaftlich genutzt. Davon wiederum werden knapp 13 Prozent zum Anbau von Energiepflanzen wie Raps und Mais eingesetzt. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Wir nutzen die Fläche doch bereits intensiv, wo sehen Sie Verschwendung?
    Niebert: Insbesondere bei den sogenannten Energiepflanzen, also bei Früchten wie Mais oder Raps, die vor allem in Biogasanlagen oder im Tank landen. Rund ein Zehntel der Ackerfläche Deutschlands ist allein mit Energiepflanzen belegt. Diese gigantische Fläche dient damit nicht der Lebensmittelproduktion, sondern ausschließlich der Energiegewinnung. Das ist allerdings nicht nur für die Biodiversität fatal, weil der Anbau von Energiemais oft auf eine umweltschädliche Art erfolgt. Es ist auch die pure Flächenverschwendung, weil der Wirkungsgrad von Energiepflanzen so gering ist. Er liegt gerade mal bei 1,5 Prozent. Würden wir stattdessen Freiflächen-Fotovoltaikanlagen aufstellen, könnten wir je nach Standort 50- bis 100-mal so viel Energie aus der Fläche ziehen wie mit Energiemais. Bei Windrädern wäre es noch mehr. Und die Lebensmittelproduktion würde dadurch nicht einen Hektar verlieren.

    Damit wäre das Energieproblem womöglich gelöst, aber auf welchen Flächen schaffen Sie Biodiversität?
    Niebert: Auf denselben! Wir müssen ja nicht die ganzen zehn Prozent für Fotovoltaik nutzen. Wir könnten nur eine Hälfte davon nehmen und uns auf der anderen um die biologische Vielfalt kümmern. Dann hätten wir immer noch 25- bis 50-mal so viel Energie wie vorher und zusätzlich einen Schub für den Artenschutz.

    Um eine Megawattstunde (MW) Energie zu erzeugen, benötigt eine  Blockheizkraftwerk eine Fläche von 362 Hektar, auf denen Energiepflanzen angebaut werden. Bei der Solar- und Windenergie sind es deutlich weniger. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Ließen sich auch Flächen für den Lebensmittelanbau effizienter nutzen?
    Niebert: Ja, auch dafür gibt es Beispiele. Agri-Fotovoltaik etwa. Dabei stehen Solarpaneele auf hohen Stelzen über Äckern, sodass darunter Traktoren fahren können. Das eignet sich beispielsweise für Sonderkulturen wie Obstplantagen. Erste Studien zeigen, dass der Ertrag aufgrund der Verschattung zwar etwas sinkt, aber dafür die Schäden durch Hagel geringer sind, sodass es im Endeffekt kaum Einbußen gibt. Zugleich entwickelt sich die biologische Vielfalt unter den Paneelen gut.

    Heiß umkämpft ist derzeit die Frage, in welchem Ausmaß Äcker auf früheren Mooren wiedervernässt werden sollen, um CO2 zu speichern. Haben Sie darauf eine Antwort?
    Niebert: Klar ist, dass wir solche Flächen für den natürlichen Klimaschutz brauchen. Der simple Ansatz wäre, Landwirte schlicht dafür zu entschädigen, dass Teile ihrer Flächen in Moor umgewandelt werden. Charmanter finde ich den Ansatz, die wiedervernässten Moore zu nutzen, soweit das möglich ist. Hierzu gehört der Anbau sogenannter Paludikulturen. Das sind also Gräser, aus denen zum Beispiel Dämmstoffe hergestellt werden. An die Ränder kann man zudem Fotovoltaikmodule legen. So hätte der Landwirt dauerhaft alternative Einkommensquellen. Auch das ist ein Beispiel dafür, dass wir integrierter denken müssen.

    Was meinen Sie damit?
    Niebert: Wir müssen uns überlegen, wie wir alle Nutzungsformen miteinander in Einklang bringen. Früher hatten wir zur Energieproduktion gewaltige Tagebaue, die die Landschaft zerstört haben. Daneben gab es riesige Agrarlandschaften und irgendwo am Rand Reservate für den Naturschutz. Wir hatten gewissermaßen Schmutz- und Schutzflächen. Künftig müssen wir alles zusammenbringen und miteinander versöhnen. Wir sind inzwischen in einer Situation, in der ein Entweder-oder nicht mehr ausreicht. Wir müssen alles gleichzeitig schaffen.

    Kai Niebert (links), Präsident des DNR, ist Teil der von Kanzler Olaf Scholz einberufenen Allianz für Transformation.

    Als Berater gefragt: Kai Niebert bei der Auftaktsitzung der Allianz für Transformation mit DGB-Chefin Yasmin Fahimi, Kanzler Olaf Scholz und BDI-Chef Siegfried Russwurm (von links).

    Haben Sie das Gefühl, dass die Ampelregierung alle Belange gleichberechtigt berücksichtigt? Oder liegt der Fokus zu stark auf den Erneuerbaren? Beim Bau von Windparks etwa geht es künftig nicht mehr darum, ob einzelne Individuen bedroht sind, sondern ob eine Art als Ganzes gefährdet ist.
    Niebert: Aus der fachlich-ökologischen Sicht ist das der richtige Weg, um eine Art zu schützen. Allerdings stehen wir vor der Herausforderung, dass Populationen auch dann zusammenbrechen können, wenn einzelne bedeutsame Individuen herausfallen. Zudem greift nach EU-Recht am Ende doch der Individuenschutz, wenn der sogenannte günstige Erhaltungszustand einer Art in der Fläche nicht mehr gewährleistet ist. Unsere Juristen haben deshalb Zweifel, ob die EEG-Novelle handwerklich durchgängig so formuliert ist, dass sie vor diesem Hintergrund haltbar ist.

    Mein Ansatz wäre daher ein anderer: Wenn es darum geht, den günstigen Erhaltungszustand einer Art in der Fläche sicherzustellen, dann sollten wir nicht Umweltstandards rings um das Windrad abschmelzen, sondern Sorge dafür tragen, dass es der Art in der Fläche gutgeht. Damit sind wir wieder bei den bereits angesprochenen Fragen: Wie können wir die Landschaft und die Landwirtschaft so gestalten, dass sie biodiversitätsfreundlich ist und bedrohte Arten darin gedeihen? Wenn wir einen solchen Zustand erreichen, hätte das einen gewaltigen Effekt – nicht nur für Windparkbetreiber, sondern für alle Großprojekte, die wir für die Klimawende brauchen, seien es Stromtrassen oder Bahnlinien.

    Wie sähe dieser Effekt konkret aus?
    Niebert: Wir könnten dann per Regelvermutung – sorry für den juristischen Fachbegriff – davon ausgehen, dass der geforderte Erhaltungszustand gesichert ist, selbst wenn einzelne Individuen im Umfeld eines jeweiligen Projekts bedroht sind. Und wo wir gerade bei der Juristerei sind, würde ich gern noch ein wenig tiefer einsteigen.

    Bitteschön!
    Niebert: Es gibt im EU-Naturschutzrecht sowie in der Bundeskompensationsordnung das sogenannte Verschlechterungsverbot. Es legt fest, dass für jeden Eingriff in die Natur ein Ausgleich geschaffen werden muss: Was ich an einer Stelle zerstöre, muss ich an anderer Stelle wiederherstellen. Allerdings haben wir die biologische Vielfalt bereits so stark geschädigt, dass wir uns im Grunde keine weiteren Schäden mehr erlauben können. Deswegen reagieren Naturschützer ja oft so alarmiert. Sie stehen permanent mit dem Rücken zur Wand, weil praktisch jedes Infrastrukturprojekt zulasten der Natur geht, selbst wenn damit auf lange Sicht Klima und Natur geschützt werden sollen. Wenn wir nun aber in einer Situation sind, in der unsere Ökosysteme bereits über ihre Belastungsgrenzen hinaus geschädigt sind und wir trotzdem den Infrastruktur-Ausbau noch beschleunigen müssen, dann sollten wir uns vom Verschlechterungsverbot verabschieden und es durch ein Verbesserungsgebot ersetzen.

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    Ich möchte erreichen, dass der Windparkprojektierer sich freut, wenn diese Vögel auftauchen. Weil sie ein Beleg dafür wären, dass er den Zustand der Natur verbessert hat

    Kai Niebert

    Was genau meinen Sie damit?
    Niebert: Überall wo jemand einen Fahrradweg, ein Windrad, eine Fabrik oder was auch immer bauen will, muss er nachweisen, dass sich die biologische Vielfalt im direkten Umfeld durch den Bau verbessert. Es wäre eine Umkehr des bisherigen Zustands. Bislang ist jeder Windradprojektierer froh, wenn sich weit und breit kein Rotmilan oder Schwarzstorch blicken lässt. Ich möchte erreichen, dass der Windparkprojektierer sich freut, wenn diese Vögel auftauchen. Weil sie ein Beleg dafür wären, dass er den Zustand der Natur verbessert hat. Es wäre ein Weg, der zugleich mehr Akzeptanz für Windräder schaffen würde. Der Projektierer könnte den Anwohnern zeigen: Seht her, ich baue nicht nur ein Windrad, sondern ich baue auch einen Park auf einer Industriebrache, einen Spielplatz, ich lege ein Biotop an. Eine Win-win-Situation!

    Die Fragen stellte Volker Kühn.

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