Zugvögel vor einem Offshore-Windpark: Manche Arten werden durch die Anlagen aus ihrem Lebensraum verdrängt.
Klimaschutz versus Naturschutz
- 06.08.2019
Reizklima
Von Volker Kühn
Der Sterntaucher, lateinisch Gavia stellata, liebt die Gemeinschaft. An besonders nährstoffreichen Orten versammelt er sich in Gruppen, die manchmal mehrere Hundert Individuen zählen. Was der kleine Vogel aus der Gattung der Seetaucher hingegen überhaupt nicht liebt, sind Offshore-Windräder. Studien zufolge weicht er ihnen kilometerweit aus.
So vermeidet er zwar die Gefahr, in ein Rotorblatt zu geraten. Doch diese Umwege kosten Kraft, und auf den windradfreien Flächen konkurrieren umso mehr Vögel um dasselbe Nahrungsangebot. Naturschützer befürchten deshalb, dass manche Vogelarten dauerhaft verdrängt werden.
Heißt das, der Sterntaucher hat keine Chance gegen die Offshore-Windenergie? Nicht unbedingt. Denn in Naturschutzverbänden wie dem Nabu hat er couragierte Fürsprecher. Mit ihren Beschwerden und Klagen kämpfen sie für Schutzzonen in den Meeren.
Manchmal werden sie abgeschmettert, manchmal feiern sie Erfolge. Wie mit dem jüngst vorgestellten Flächenentwicklungsplan 2019, in dem das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) den Rahmen für den Ausbau der Offshore-Windkraft absteckt. Eine bis dato für Windräder vorgesehene Zone taucht darin nicht mehr auf: Sie sei nach aktuellem Kenntnisstand nicht mit dem Natuschutz vereinbar.
Ohne Klimaschutz kein Artenschutz: Der Eisbär ist der lebende Beweis dafür
Die BSH-Entscheidung ist das jüngste Beispiel für einen Konflikt, der nicht nur auf See seit Jahren schwelt und der mit jedem neuen Windrad, mit jeder Biogasanlage, mit dem Strommast an Schärfe gewinnt: Naturschützer gegen Klimaschützer, Ökos gegen Ökos. Es könnte die bestimmende Auseinandersetzung in der Energiepolitik der kommenden Jahrzehnte werden, so wie es zuvor die Schlachten um die Atom- und Kohlemeiler waren. Doch während es damals klare Fronten gab, schmerzt der Streit diesmal umso mehr, weil die Kontrahenten eigentlich Verbündete sein müssten. Denn sie kämpfen für dasselbe: für eine intakte Umwelt und eine lebenswerte Zukunft.
Und beide Seiten führen gute Gründe für ihre Sache ins Feld. Die Klimaschützer argumentieren mit dem Großen und Ganzen: Ohne die rasche Umstellung auf erneuerbare Energien lasse sich die Erderwärmung nicht auf das vom Weltklimarat als gerade noch verkraftbar eingestufte Maß von 1,5 bis zwei Grad beschränken. Darunter würde dann nicht nur der Mensch leiden, sondern mindestens ebenso stark die Natur.
Sterntaucher mit Küken: Die Vögel brüten in der Tundra und Taiga. Die Deutsche Bucht ist ein wichtiges Rastgebiet für sie.
Ohne Klimaschutz kein Artenschutz: Kein Tier veranschaulicht diese Sicht der Dinge besser als der Eisbär, dessen Lebensraum auf dem sich aufheizenden Planeten buchstäblich davonschmilzt. Doch wenn all die klimaschädlichen Kohlekraftwerke abgeschaltet werden sollen, wenn der Verkehr ergrünen und Wohnungen CO2-neutral geheizt werden sollen, führt aus Sicht der Klimaschützer kein Weg an der Windkraft vorbei. Denn sie ist die wichtigste Säule der sauberen Energieversorgung – gerade auf See, wo der Wind stark und stetig bläst und die Ausbeute besonders hoch ist. Windparks auf See liefern laut einer im Auftrag der Stiftung Offshore-Windenergie erstellten Studie des Fraunhofer IWES fast durchgängig Strom.
Mit Unverständnis blicken Klimaschützer daher oft auf Naturschützer. Was sind schon einzelne Rückzugsgebiete für den Seetaucher oder den Schweinswal, für die Bechsteinfledermaus oder den Rotmilan verglichen mit dem großen Ziel der Energiewende? Und überhaupt: Geht die Welt gleich unter, wenn der Juchtenkäfer verschwindet?
Artenschutz und Klimaschutz sind zwei Seiten derselben Medaille
Naturschützer entkräften diese Argumentation gern mit einem Bild: Sie vergleichen das System der Artenvielfalt mit einem Netz. Noch umgibt und schützt uns dieses Netz, es sorgt für intakte Ökosysteme, für sauberes Wasser, für die Erträge der Landwirtschaft und damit letztlich für die Lebensgrundlage der Menschheit.
Werden einzelne Fäden gekappt, reißt das Netz nicht sofort, andere Fäden können die zusätzliche Last übernehmen. Womöglich sind auch der Juchtenkäfer und der Sterntaucher Fäden, die für die Tragfähigkeit des Ganzen verzichtbar wären. Doch irgendwann ist ein kritischer Punkt erreicht, die Last wird zu groß, das Netz reißt. Weil sich aber nicht vorhersehen lässt, wann es so weit ist, lohnt es sich, für den Erhalt jeder einzelnen Art zu kämpfen. Sogar für den Juchtenkäfer.
Zudem ist Artenschutz zugleich aktiver Klimaschutz. Denn funktionierende Ökosysteme binden gigantische Mengen von CO2; das berühmteste Beispiel ist der Amazonas-Regenwald. Weniger bekannt, aber noch größer ist die Speicherfähigkeit der Seegraswiesen im Meer: Ein Hektar davon nimmt in etwa so viel CO2 auf wie zehn Hektar Wald.
Ich bin glücklich über jede Klage gegen die Windindustrie, die wir nicht führen müssen
Kim Detloff, Nabu
Auch deshalb steht für Kim Detloff fest: „Artenschutz und Klimaschutz sind zwei Seiten derselben Medaille. Sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.“
Detloff leitet die Abteilung Meeresschutz beim Nabu – bei dem Verband also, der mit seinen Klagen schon so manches Windrad an Land und auf See verhindert hat. Doch Detloff sagt auch: „Ich bin glücklich über jede Klage gegen die Windindustrie, die wir nicht führen müssen.“ Denn dass mehr Ökostrom gebraucht wird, wenn die konventionellen Energien wegfallen, ist natürlich auch dem Nabu klar. Nur dürfe der Ausbau eben nicht allein auf Kosten des Naturschutzes erfolgen.
Neue, leisere Baumethoden schützen den lärmempfindlichen Schweinswal
Dabei erkennt der Nabu-Mann durchaus an, dass gerade die Offshore-Windenergie in den gut zehn Jahren seit dem Bau des ersten deutschen Meereswindparks eine steile Lernkurve durchlaufen habe. Da ist zum Beispiel der Lärm, der beim Setzen der Fundamente im Meeresgrund entsteht. Meist werden sie gerammt, wobei der Schall sich unter Wasser kilometerweit ausbreitete. Darunter leidet vor allem der besonders lärmempfindliche Schweinswal.
Doch inzwischen hält die Industrie Grenzwerte ein und arbeitet mit Methoden wie Schallschutzrohren und Blasenschleiern, um den Lärm zu verringern. Mit der sogenannten Suction-Bucket-Technologie können die Fundamente sogar fast lautlos per Unterdruck im Boden verankert werden.
Bau eines Offshore-Windparks: Ein Blasenschleier begrenzt die Ausbreitung des Schalls beim Rammen der Fundamente in den Meeresboden.
Solche Maßnahmen hätten sich als sehr effektiv erwiesen, konstatierte 2018 der unabhängige Umweltgutachter Georg Nehls im Interview mit EnergieWinde. Und sei der Bau erst einmal abgeschlossen, würden die Windräder das Tier nicht mehr stören. „Schweinswale schwimmen munter durch die Parks“, sagt Nehls.
Zudem siedeln sich in den durch Felsbrocken geschützten Fundamenten neue Tier- und Pflanzenarten an, die in der überwiegend sandigen deutschen Nordsee ansonsten keinen Lebensraum finden. Das beurteilen manche Naturschützer zwar kritisch, weil es dadurch zu einer nicht natürlichen Artenzusammensetzung kommt, stellt faktisch aber einen Zugewinn an Biodiversität dar. Die Windparks sind darüber hinaus ein Rückzugsraum, in dem sich die Fischbestände erholen können – für Fangflotten sind die Flächen tabu.
Die Ostsee ist laut Nabu an ihrer Belastungsgrenze. In der Nordsee wäre noch Platz
Das alles ändert aber nichts daran, dass vor allem die Vogelwelt von Offshore-Windparks stark betroffen ist. Deswegen würde sich Anne Böhnke-Henrichs, Referentin für Meeresschutz beim Nabu, einen Paradigmenwechsel in der Industrie wünschen: „Statt zu schauen, wie man so viele Windräder wie möglich ins Meer stellen kann, sollte man zuerst erforschen, wie viel naturverträglich machbar ist, und dann beim Ausbau von diesem Budget ausgehen.“
Für die deutsche Ostsee ist das Budget aus Sicht von Böhnke-Henrichs bereits erschöpft. Zu groß sei die Belastung des Meeres durch die verschiedensten Akteure wie Fischerei, Militär und Tourismus sowie die bereits bestehenden Windparks. Dass mit dem Projekt Gennaker kürzlich ein weiterer Windpark in Sichtweite der Halbinsel Darß genehmigt wurde, sei daher unverständlich.
In der Nordsee dagegen gibt es Böhnke-Henrichs zufolge noch Flächen, in denen ein naturverträglicher Ausbau möglich ist. Die Forderung der Industrie, den auf 15 Gigawatt im Jahr 2030 gedeckelten Ausbau deutlich anzuheben, lehnt sie allerdings ab.
Bei der Frage, wie viele Windräder nötig sind, ist der Naturschutz gespalten
An diesem Punkt zeigt sich, dass der Konflikt um die Energiewende nicht nur zwischen Klima- und Naturschützern verläuft, sondern auch mitten durch die Naturschutzverbände selbst. Der WWF etwa beschreibt in seiner gemeinsam mit dem Öko-Institut und Prognos erstellten Studie „Zukunft Stromsystem“ ganz andere Szenarien für den Ausbau der Windkraft auf See. Demnach seien auf dem Weg zu einer zu 100 Prozent erneuerbar versorgten Welt schon 2030 Offshore-Windräder mit einer Kapazität von 27 Gigawatt in Deutschland nötig. 2035 seien es 33 und 2050 sogar 51 Gigawatt. Zum Vergleich: Heute haben Deutschlands Offshore-Windparks eine Gesamtkapazität von unter sieben Gigawatt.
Zwar ist in Hintergrundgesprächen zu hören, dass die Meeresschützer im WWF nicht begeistert von diesen Zahlen ihres eigenen Verbands gewesen seien und dass es sich eher um eine theoretische Potenzialanalyse handele, nicht um einen verbindlichen Forderungskatalog. Dennoch scheinen auch andere Verbände der Offshore-Windkraft gegenüber aufgeschlossener zu sein als der Nabu.
Die heute geplanten Windparks auf See produzieren günstigeren Strom als jedes Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerk
Niklas Schinerl, Greenpeace
Greenpeace-Energieexperte Niklas Schinerl etwa verweist gegenüber EnergieWinde auf das enorme Potenzial der Technologie. „Durch die hohe Zahl an Volllaststunden spielt die Offshore-Windenergie für die Energiewende in Deutschland eine zentrale Rolle. Die heute geplanten Windparks auf See produzieren günstigeren Strom als jedes Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerk.“ Wobei natürlich für den Ausbau die beste Technik vorgeschrieben werden müsse, um die Belastung für die Meereswelt so gering wie möglich zu halten.
Mehr Offshore-Wind? Nur, wenn andere Industrien zurückstecken, sagt der Nabu
Doch auch Kim Detloff vom Nabu sträubt sich nicht grundsätzlich gegen eine begrenzte Anhebung des Deckels über der Offshore-Windkraft. „Wenn wir als Gesellschaft zu dem Schluss kommen, dass wir mehr als die bislang vorgesehenen 15 Gigawatt Offshore-Wind in Nord- und Ostsee brauchen, dann müssen wir eben andere Belastungsfaktoren aus dem System nehmen“, sagt Detloff. „Naturverträglich kann das nur funktionieren, wenn dafür etwa der Sand- und Kiesabbau, die Schifffahrt, das Militär oder die Fischerei Abstriche machen.“
Den Konflikt zwischen Naturschutz und Klimaschutz würde zwar auch dieser Weg nicht komplett aus der Welt schaffen, aber zumindest entschärfen. Doch gleichzeitig wären neue Konflikte mit anderen Nutzern des Meeres programmiert. Wie man es auch dreht und wendet: Die Zeiten einer Klimaschutzpolitik, die niemandem wehtut, sind vorbei.