Atomenergie

  • Search02.09.2022

Frankreichs marode Meiler werden zur Dauerbaustelle

In Frankreich braut sich angesichts des Ausfalls von mehr als der Hälfte aller Atomreaktoren ein dramatischer Energie-Engpass an. Darunter leiden auch die Nachbarländer.

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    Seit 15 Jahren laufen die Arbeiten am Reaktor in Flamanville (Foto von 2009). Der Bau verzögert sich laufend– und wird immer teurer.

     

    Von Heimo Fischer

    Deutschland blickt zurzeit nach Osten. Zumindest wenn es um die Gründe für einen Engpass auf dem Energiemarkt geht. Dabei würde es sich lohnen, auch den Nachbarn auf der anderen Seite näher zu betrachten. Denn im Schatten des Ukraine-Konflikts hat sich ein Szenario entwickelt, das die Versorgung mit Strom in Europa mächtig durcheinanderwirbelt. Die Rede ist von Frankreich.

    Traditionell setzt das Land bei der Energieversorgung auf Atomkraft. Rund 70 Prozent des Stroms kommen aus den 56 Meilern, die der teilprivatisierte Versorger Electricité de France (EdF) betreibt. Allerdings sind derzeit 33 Reaktoren außer Betrieb. Vier von ihnen sollen im November wieder ans Netz gehen, vielleicht auch später. Bei anderen ist der Neustart ungewiss. Was beim vergleichsweise geringeren Stromverbrauch im Sommer noch auszuhalten ist, könnte Europas Energiekrise im Winter massiv verschärfen.

    Die Produktion von Atomstrom in Frankreich ist auf den tiefsten Wert seit Jahren gefallen. Im August produzierten die Atomkraftwerke nur etwas mehr als halb so viel wie im August 2015. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Ob dem Land ein Blackout droht, der sich über das europäische Verbundnetz auch in anderen Ländern auswirken könnte, ist schwer zu sagen. „Das kann im Moment niemand seriös prognostizieren“, sagt Mycle Schneider, der in Paris den renommierten World Nuclear Industry Status Report (WNISR) herausgibt. Vieles hänge davon ab, wie der Winter wird, so Schneider im Gespräch mit EnergieWinde. Grundsätzlich gelte, dass in Frankreich 2,4 Gigawatt installierter Leistung zusätzlich nötig seien – und zwar für jedes Grad, um das die Temperatur sinkt.

    Die Mängel sind eklatant. Sie betreffen selbst die jüngsten Meiler

    Im Winter benötigt Frankreich mehr Strom als vergleichbare Industrieländer. Denn etwa 40 Prozent der Häuser und Wohnungen werden elektrisch geheizt. Die strombetriebenen Radiatoren sind in zahlreichen Haushalten fest installiert. Ein Grund ist, dass Atomstrom in den vergangenen Jahrzehnten oft im Überfluss vorhanden und preiswert war.

    Doch nun hat das Land Probleme, ausreichend Strom zu erzeugen. Das liegt zum einen daran, dass der Kraftwerkspark im Sommer gewartet wird. Dieses Mal fallen die Prüfungen aber umfassender aus als in den vergangenen Jahren. Aufgrund der Pandemie haben sich anstehende Prüfungen verschoben. Nun werden sie nachgeholt − mit teils schockierendem Ergebnis. Denn an zahlreichen Reaktoren entdeckten die Fachleute Rostschäden an Schweißnähten, ausgerechnet im Notkühlsystem. Betroffen sind auch die jüngsten, leistungsstarken Meiler. „Es ist zu befürchten, dass bei den folgenden Kontrollen weitere Probleme auftauchen“, sagt Schneider.

    Von den Fluten der stolzen Loireist derzeit wenig zu sehen. Die Dürre setzt auch den französischen Kernkraftwerken zu: Ihnen fehlt das Kühlwasser aus den Flüssen.

    Von den Fluten der stolzen Loire ist derzeit wenig zu sehen. Die Dürre setzt auch den französischen Kernkraftwerken zu: Ihnen fehlt das Kühlwasser aus den Flüssen.

    Rost ist aber nicht der einzige Mangel. Durch die Hitzewelle ist das nötige Kühlwasser in den Flüssen knapp geworden. Auch deshalb müssen Betreiber Reaktoren herunterfahren. Die zuständige Aufsichtsbehörde erlaubte zwar, dass bestimmte Atomkraftwerke die Flüsse mit ihrem Kühlwasser stärker als gewöhnlich aufheizen dürfen. Das Problem wurde dadurch aber nicht gelöst.

    Die Handelspreise gehen durch die Decke – noch weit stärker als in Deutschland

    Der Engpass wirkt sich auf die Strompreise aus. Der Großhandelsmarkt im Nachbarland spielt verrückt. Im August wurden in Frankreich nach Angaben der Plattform Energy-Charts.info die Terminkontrakte für das vierte Quartal 86 Prozent teurer gehandelt als in Deutschland. Der Leiter des Dienstes, Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut ISE in Freiburg, führte die Differenz vor allem auf die abgeschalteten Kernkraftwerke zurück. Zahlen der Netzbetreiber zeigen laut Energy-Charts, dass Deutschland dieses Jahr 3,2 Terrawattstunden Strom aus Frankreich beziehen wird. In umgekehrter Richtung werden 13,6 Terrawattstunden fließen.

    Das bedeutet, dass Frankreich noch mehr als sonst auf andere Länder angewiesen ist, um sich mit Strom einzudecken. „Frankreich ist seit Jahren Nettoimporteur von Strom aus Deutschland“, sagt Nuklearexperte Schneider. Im August dieses Jahres habe das Land zum ersten Mal von allen Nachbarn Strom kaufen müssen. „Dass Frankreich nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer Strom importiert, hat es in diesem Ausmaß noch nicht gegeben.“

    Mycle Schneider, Atomkraft-Experte. Foto: Nina Schneider

    „Es ist zu befürchten, dass weitere Probleme auftreten“, sagt der Atomexperte Mycle Schneider.

    Weil besonders Deutschland Strom nach Frankreich exportiert, liegt auf der Hand, dass der Nachbar vom Ausbau der erneuerbaren Energien hierzulande profitiert, insbesondere von der Windenergie, die fast ein Viertel am deutschen Strommix stellt. „Die erneuerbaren Energien leisten in Deutschland im Moment einen sehr wichtigen Beitrag zur europäischen Versorgungssicherheit“, bestätigt im EnergieWinde-Gespräch Sven Rösner, Geschäftsführer des Deutsch-Französischen Büros für die Energiewende in Paris.

    Das wirkt sich allerdings auch auf das europäische Preisgefüge aus. „Für Erzeuger ist es attraktiv, ihren Strom dorthin zu verkaufen, wo die Preise hoch sind“, sagt Andreas Löschel, Professor für Umwelt-/Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit an der Ruhr-Universität Bochum. Dadurch verknappt sich das Angebot im eigenen Land und der Strompreis geht auch dort weiter nach oben, so Löschel gegenüber EnergieWinde.

    Die Ausfälle treffen EdF hart. Der Konzern muss den Strom am Markt nachkaufen

    EdF hat angekündigt, dieses Jahr 70 Terrawattstunden Atomstrom weniger zu erzeugen. Das ist so viel wie die Schweiz in einem Jahr verbraucht. Die fehlende Energie muss der Konzern zu hohen Preisen einkaufen, um ihn an seine Kunden zu liefern. EdF rechnet auch deshalb mit einem Gewinneinbruch von 19 Milliarden Euro im laufenden Jahr.

    Auf die Verbraucher abwälzen, kann EdF die erhöhten Kosten nicht. Denn die Regierung hat einen Preisdeckel für Strom verfügt. Dadurch entfällt zudem ein Anreiz zum Stromsparen, was die Probleme des Konzerns weiter verstärkt. Frankreich plant auch deshalb eine Komplettübernahme von EdF. Das Angebot liegt bei knapp zehn Milliarden Euro.

    16 Jahre später, 19 Milliarden Euro teurer: der Reaktor in Flamanville ist ein Fiasko

    Hilfe ist dringend nötig, da es bei EdF viele Baustellen gibt. Eine davon ist der geplante Europäische Druckwasserreaktor (EPR) in Flamanville. Er sollte ursprünglich 3,3, Milliarden Euro kosten. Der Bau begann 2007 und sollte 2012 abgeschlossen sein. Doch die Fertigstellung verschob sich immer wieder. Der französische Rechnungshof geht mittlerweile von mehr als 19 Milliarden Euro Kosten aus. Der Betrieb soll nach aktuellem Stand 2023 beginnen, woran aber erhebliche Zweifel bestehen. Denn der EPR entwickelt sich auch in anderen Ländern zum Fiasko.

    Einen Reaktor ähnlichen Bauart errichtet EdF im britischen Hinkley Point. Auch dort gibt es Probleme. Ein weiterer Reaktor des Typs ging Ende 2021 im finnischen Olkiluoto mit 13 Jahren Verspätung ans Netz. Er kostete mehr als dreimal so viel wie geplant. Einen erheblichen Teil der zusätzlichen Kosten musste das Herstellerkonsortium tragen − also Siemens und der französische Atomkonzern Areva, den EdF mittlerweile übernommen hat.

    Macron hält an der Atomkraft fest – und setzt parallel auf Offshore-Wind

    Trotz der gigantischen Probleme bleibt Frankreich der Atomkraft treu. Zumindest verbal. Im Februar kündigte Präsident Emmanuel Macron Milliardeninvestitionen für den Bau von sechs neuen Druckwasserreaktoren an sowie Machbarkeitsstudien für acht weitere. Er gab sich unverdrossen zuversichtlich. Einen Fehlschlag wie in Flamanville soll es nicht mehr geben. „Wir haben daraus gelernt und werden nun schneller sein.“

    Atomstrom ist allerdings nicht mehr die einzige Karte, auf die Frankreich setzt. Parallel plant das Land, die Erneuerbaren massiv auszubauen, vor allem in der Offshore-Windenergie. Auch das ist ein Lerneffekt aus den Mängeln der Atomkraft.

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