Am 26. April 1986 explodierte Block vier des Atomkraftwerks Tschernobyl. Nach dem Super-GAU errichteten die sowjetischen Behörden eine Sperrzone von 30 Kilometern rund um den Reaktor, mehr als 160.000 Menschen mussten ihre Häuser fluchtartig verlassen und wurden umgesiedelt. Viele sind in den Jahrzehnten nach der Katastrophe zurückgekehrt. Heute leben rund 1000 Menschen im Sperrgebiet. Sie werden Samosely genannt, zu Deutsch Selbstsiedler.
Der ukrainische Fotograf Arthur Bondar hat ihr Leben über Jahre dokumentiert. Die Schwarz-Weiß-Bilder auf dieser Seite sind ein eindrucksvoller Ausschnitt davon. Unsere Autorin Natalia Sadovnik hat mit Bondar über die Erlebnisse auf seinen Reisen nach Tschernobyl gesprochen.
Arthur, Sie sind einer der wenigen, wenn nicht der einzige ukrainische Fotograf, der einen Bildband über Tschernobyl gemacht hat. Interessieren sich die Ukrainer nicht dafür?
Arthur Bondar: Deswegen habe ich angefangen – mich überraschte, dass große Arbeiten über Tschernobyl meist aus dem Ausland kommen. In der Ukraine erscheint höchstens ein Zeitungsfoto zum Jahrestag. Natürlich war es in der sowjetischen Zeit ein Tabuthema und wurde totgeschwiegen. Wenn man die Generation danach fragt, winken viele ab. Es ist unser nationales Trauma. Es ist schwer, darüber zu reden, und zugleich wurde schon so viel gesagt. Ich bin 37. Ich erinnere mich natürlich, wie meine Eltern die Fenster zuklebten und Jodtabletten genommen haben. Aber für meine Generation ist Tschernobyl eher eine Art Hype.
Inwiefern?
Bondar: Viele sind in die Sperrzone gefahren, um später sagen zu können, dass sie dort waren. Zu den Jahrestagen schicken alle Medien ihre Fotografen nach Tschernobyl, wenn irgendein Abgeordneter Blumen legt oder eine neue Gedenktafel einweiht. So kam ich auch zum ersten Mal dorthin.
Das war 2007. Wie war Ihr erster Eindruck?
Bondar: Ich habe sofort gemerkt, dass ich mich dort sehr wohl fühle.
Eine unerwartete Antwort.
Bondar: Ja, das denken die meisten. Ich mag keine Großstädte und keine Menschenmassen. An diesem Ort sieht man kaum Menschen und taucht umso mehr in seine Atmosphäre ein.
Von der Atmosphäre in Tschernobyl waren Sie am Anfang so beeindruckt, dass Sie nicht einmal Fotos gemacht haben.
Bondar: Ja, ich bin nach meinem Auftrag einfach spazieren gegangen und habe versucht, den Ort zu verstehen. Da ist eine Leere, aber keine Stille: Tschernobyl klingt nach schwingenden Fenstern, nach Tieren und Blätterrauschen, alles Dinge, die man in der Stadt so nicht hört. Dort ist alles verdichtet. Das hat mich umgehauen. Von da an habe ich keine Gelegenheit ausgelassen, noch mal dorthin zu kommen.
Wenn es sein musste, auch illegal – Sie wurden sogar einmal festgenommen.
Bondar: Man durfte normalerweise nicht ohne Begleitung dahin, aber ich wollte nicht nur die touristischen Routen sehen. Und wie immer in der Ukraine wechselt die Regierung, wechseln auch die Aufseher, also waren meine Beziehungen hin. Sie müssen sich vorstellen: Die Absperrung ist einfach ein Stacheldraht. Und da gibt es jede Menge Löcher. Viele haben Menschen hineingeschnitten, die um das abgesperrte Gebiet wohnen. Als Kompensation dafür, dass sie auf verunreinigten Territorien leben, zahlt ihnen der Staat ganze anderthalb Dollar im Monat. Und so gehen viele in der Zone angeln, jagen oder Pilze sammeln, obwohl das natürlich streng verboten ist.