Atomenergie weltweit

  • Search22.09.2023

Kettenreaktion? Von wegen!

Kostenexplosion, technische Probleme, jahrelange Verzögerungen: Weltweit stockt der Bau neuer Atomkraftwerke. Große Fortschritte macht allein China. Doch auch dort wächst die Kapazität der Erneuerbaren um ein Vielfaches schneller.

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    Während der Ausbau der Erneuerbaren boomt, stockt der Ausbau der Kernenergie weltweit. Im Bild: Atomkraftwerk Borssele in den Niederlanden.

    Von Windrädern umstellt: Atomkraftwerk Borssele in den Niederlanden.

     

    Von Kathinka Burkhardt

    Das Gerücht von einer „Renaissance der Atomenergie“ hält sich hartnäckig, doch die Realität rund um den Globus sieht anders aus. In Deutschland ist die Atomkraft seit April Geschichte, und auch wenn viele andere Länder weiter daran festhalten, spielt sie nirgendwo die Hauptrolle beim Umstieg von fossilen auf CO2-freie oder -arme Technologien. Während der Ausbau der Wind- und Solarenergie boomt, sinkt der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Stromversorgung seit Jahren. Ein Überblick über die Lage in Europa, den USA und China.

    Frankreich

    Die Kritik von Staatspräsident Emmanuel Macron an dem deutschen Atomausstieg kommt nicht von ungefähr, muss Frankreich doch mit 56 aktiven Kernkraftwerken seine entsprechend große inländische Atomstromindustrie und den dazugehörenden Arbeitsmarkt verteidigen. Allein in den nächsten zehn Jahren wäre planmäßig die Stilllegung für 22 Reaktoren vorgesehen. Um sie zu ersetzen, hat die Regierung den Bau von mindestens sechs neuen Meilern angekündigt, acht weitere sollen folgen. Konkrete Pläne dazu gibt es aber noch nicht, zumal der Fachkräftemangel die Ziele ausbremsen könnte. Zudem ist der einzige aktuell im Bau befindliche Block Flamanville 3 zu einer milliardenteuren Dauerbaustelle geworden. Die Anlage mit einer Leistung von 1650 Megawatt ging 2012 in Bau, fünf Jahre später sollte sie fertig sein. Jetzt ist der Start für 2024 geplant. Selbst bei der angestrebten Verkürzung des Genehmigungsverfahrens für drei weitere Reaktoren dürften neben Flamanville bis 2035 kaum mehr als zwei neue Anlagen stehen. Gleichzeitig läuft in Frankreich der Ausbau der Offshore-Windkraft mit dem Ziel von 40 Gigawatt in den nächsten 25 Jahren.

    Großbritannien

    Seit fast drei Jahrzehnten hat Großbritannien keinen neuen Atomreaktor mehr in Betrieb genommen. Und auch der nächste wird noch ein paar Jahre auf sich warten lassen. Erst 2028 sollen in Somerset im Südwesten Englands am Standort Hinkley Point zwei Reaktoren mit den Namen C1 und C2 in Betrieb gehen und Strom für sechs Millionen Haushalte liefern. Doch die einst mit 16 Milliarden Pfund veranschlagten Baukosten belaufen sich laut dem französischen Stromkonzern EDF mittlerweile auf 32,7 Milliarden Pfund. Und auch der Strom selbst wird teuer: Die britische Regierung soll 2012 einem festen Mindestabnahmepreis von 90 Pfund pro Megawattstunde plus jährlichem Inflationsausgleich zugestimmt haben. Dadurch würde die Einspeisevergütung derzeit bei deutlich mehr als 120 Pfund pro Megawattstunde liegen, also weit über der von Ökostrom. Der Betrieb der Reaktoren wäre damit unwirtschaftlich. Im Norden von Wales sollten eigentlich bis 2027 die stillgelegten Reaktoren Wylfa 1 und 2 durch neue Siedewasserreaktoren ersetzt werden. Doch das Projekt wurde 2020 aufgegeben. Damit gibt es neben Hinkley Point lediglich Pläne für einen weiteren Reaktor, für den mehrere Standorte im Gespräch sind. Die Genehmigung ist bis 2024 angepeilt.

    Niederlande

    Derzeit verfügt das Nachbarland mit dem Atomkraftwerk Borssele nur über einen einzigen Reaktor. Die Laufzeit reicht noch bis 2034. Die Regierung verfolgt allerdings Pläne zum Bau von zwei neuen Reaktoren, die bis 2035 im Südwesten des Landes in der Provinz Zeeland entstehen könnten. Die Kapazität könnte bei 1000 bis 1650 Megawatt liegen, was einem Anteil von gut 13 Prozent an der niederländischen Stromerzeugung entsprechen würde. Daneben soll der Bau von sogenannten Small-Modular-Reactors (SMR) erforscht werden, also Mini-Atomkraftwerken. Die endgültige Entscheidung zu diesen Plänen soll 2024 fallen.

    Schweden

    Schwedens Klimaministerin hat im Sommer angekündigt, die Atomkraft bis 2045 im Umfang von zehn konventionellen Reaktoren auszubauen. Konkrete Genehmigungen oder Bauvorhaben gibt es bislang aber nicht. Bisher verfügt Schweden über drei Atomkraftwerke, die 30 Prozent der Stromerzeugung ausmachen. Die neuen Reaktoren sollen an den vorhandenen Standorten entstehen. Allerdings gibt es mittlerweile Zweifel am Umfang der Pläne: Zum einen hat die Regierung die offizielle Meldung zu diesem Vorhaben mittlerweile von ihrer Homepage verschwinden lassen. Zum anderen mahnen Atomexperten im Land an, dass die Kosten für einen solchen Ausbau fast doppelt so hoch wären wie für den Ausbau der erneuerbaren Energien, die eigentlich im Fokus der Skandinavier stehen.

    Finnland

    Die Skandinavier dürften für die nächsten Jahre keine Pläne für weitere Reaktoren hegen. Nach 18 Jahren Bauzeit ist in diesem Jahr mit Olkiluoto 3 der größte Reaktor Europas am Netz. Er liefert bis zu 14 Prozent des finnischen Stroms. Ursprünglich sollte der Reaktor schon 2009 in Betrieb gehen und drei Milliarden Euro kosten. Nach vielen technischen Verzögerungen und Pannen kostete der Block am Ende elf Milliarden Euro. Er ist der fünfte in Finnland. Eigentlich war noch ein sechster geplant, der allerdings in Zusammenarbeit mit Rosatom gebaut werden sollte. Aufgrund des Kriegs in der Ukraine liegt das Vorhaben auf Eis. Dennoch, die Finnen sind Atomanhänger: 83 Prozent der Bevölkerung hatten laut einer Umfrage vom vergangenen Herbst eine positive Haltung zur Atomkraft.

    Polen

    Um nicht mehr wie bisher zu 80 Prozent vom fossilen Energieträger Kohle abhängig zu sein, hat sich Deutschlands größter Nachbar im Osten entschieden, in die Atomenergie einzusteigen. Mithilfe des US-Konzerns Westinghouse ist geplant, bis 2033 in der Nähe von Danzig einen Reaktor zu bauen. Bis 2035 soll im etwa 450 Kilometer von Berlin entfernten Ort Patnów ein zweites Kraftwerk mithilfe des südkoreanischen Technologiekonzerns Korea Hydro & Nuclear Power entstehen. Die geplanten Kosten liegen bei 20 Milliarden Euro.

    Tschechien

    Tschechien betreibt zwei Atomkraftwerke, mit dem das Land ein Drittel seines Strombedarfs abdeckt. 2022 startete die Regierung die Ausschreibung für einen neuen Reaktor am vorhandenen Standort Dukovany, der ab 2029 gebaut werden soll. 2025 läuft die ursprünglich geplante Laufzeit von 40 Jahren für den ersten der vier dort im Betrieb befindlichen Blöcke ab. Doch alle vorhandenen Blöcke sollen mindestens bis 2038 laufen, wenn sie – so zumindest die Planung – durch neue Blöcke ersetzt sind.

    Slowakei

    Nach 36 Jahren hat die Slowakei in diesem Jahr endlich den Bau des dritten Blocks im Atomkraftwerk Mochove abgeschlossen. In den kommenden Jahren soll der ebenfalls bereits 1987 begonnene vierte Block fertiggestellt werden. Laut Experten ist die Bausubstanz beider Reaktoren allerdings schon in einem fragwürdigen Maße angegriffen. Ursache der langen Verzögerungen waren politische Turbulenzen, Finanzierungsschwierigkeiten und Streitigkeiten mit dem Nachbarn Österreich. Hinzu kommt, dass die Reaktoren russischer Bauart sind. Während im dritten Block kurz vor Kriegsausbruch noch russische Brennstäbe eingesetzt wurden, soll künftig auf die Technologien westlicher Staaten umgeschwenkt werden. Ziel der Slowakei ist es, mindestens 65 Prozent des eigenen Strombedarfs mit Atomstrom abzudecken.

    Ungarn

    Das einzige ungarische Atomkraftwerk namens Paks wurde 1982 in Betrieb genommen und verfügt über vier Meiler, die die Hälfte der Stromerzeugung im Land beisteuern. Die Regierung Orban hat bereits 2014 mit Russland den Bau zweier neuer Reaktoren unter dem Namen Paks II vertraglich vereinbart, die über russische Kredite finanziert werden sollen. Daran hält Ungarn trotz des Ukraine-Krieges unbeirrt fest: Seit Mitte 2023 laufen die Vorarbeiten, die Meiler sollen spätestens 2032 in Betrieb genommen werden. Der Bau wird vom russischen Atomkonzern Rosatom projektiert, der wiederum das französisch-deutsche Konsortium aus Framatome und Siemens Energy mit dem Bau der Sicherheitssysteme beauftragt hat. Während Ungarn die EU-Sanktionen gegen Russland im Bereich Kernenergie ablehnt, hat die Bundesregierung Siemens-Energy noch keine Lizenz zur Belieferung von Paks II erteilt. Dadurch verzögert sich derzeit das Vorhaben.

    Türkei

    Die Regierung Erdoğan lässt derzeit von Russland das erste kommerzielle Kernkraftwerk des Landes in Akkuyu bauen. Mit seinen drei Reaktoren kommt es auf eine Gesamtleistung von gut 3,3 Gigawatt, was für etwa zehn Prozent des Strombedarfs der Türkei reichen soll. Zwischen 2024 und 2026 soll jährlich ein Reaktor in Betrieb gehen. Die Kosten liegen laut türkischer Regierung bei 20 Milliarden Euro. Trotz der wichtigen Außenwirkung dieses auch polit-strategischen Projekts für Erdoğan und Putin hat sich der Bau bereits verzögert. Ursprünglich sollte auch in Sinop ein Atomkraftwerk gebaut werden, doch nach der Havarie des Atomkraftwerks in Fukushima stiegen die aus Japan stammenden Partnerunternehmen aus.

    China

    Die Volksrepublik hat erst in den Neunzigerjahren ihre ersten Atomkraftwerke in Betrieb genommen, und noch ist der Anteil der Atomenergie am chinesischen Strommix mit fünf Prozent vergleichsweise gering. Doch das soll sich ändern. Angesichts des rasant wachsenden Strombedarfs hat China ein anspruchsvolles Ausbauprogramm aufgelegt, das derzeit 23 Atomreaktoren umfasst. Zwischen 2024 und 2027 sollen die über das gesamte Staatsgebiet verteilten Anlagen in Betrieb genommen werden können. Dennoch wird die Atomkraft der Juniorpartner in der chinesischen Energiewende bleiben. Denn der Ausbau der Solarenergie und der Windkraft an Land und auf See kommt um ein Vielfaches schneller voran.

    USA

    Mit dem dritten Block im Atomkraftwerk Vogtle ist im Bundesstaat Georgia kürzlich der erste neue Reaktor auf amerikanischem Boden seit 30 Jahren in Betrieb gegangen. Im kommenden Jahr soll der fast fertige Block 4 folgen. Ursprünglich war dies nach dem Baubeginn 2013 für 2019 geplant. Die Baukosten von 30 Milliarden US-Dollar übersteigen die einst veranschlagten 14 Milliarden US-Dollar deutlich. Die Bedeutung der Atomenergie in den USA sinkt dennoch: Waren 2012 noch 101 Blöcke in Betrieb, sind es mittlerweile 93, die etwa 19 Prozent des Strombedarfs decken. Die Hälfte der Reaktoren ist seit 40 Jahren in Betrieb, weshalb viele Laufzeiten auf 60 oder auf 80 Jahre verlängert wurden.

    Russland

    Trotz des Überfalls auf die Ukraine baut Russland derzeit drei neue Reaktoren, die zwischen 2024 und 2026 fertiggestellt werden sollen. Russland war das erste Land, das 1954 ein kommerzielles Atomkraftwerk in Betrieb nahm. Bis heute nutzt die Atomindustrie in vielen Ländern der Welt russische Technik und ist auch von der Lieferung russischer Brennstäbe abhängig. Deshalb blieb die Kernenergie in den Sanktionen gegen Russland nach Kriegsbeginn auch weitgehend unberührt.

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