Wenig Sonne, kaum Wind: schwierige Zeiten für die Erneuerbaren. Noch springen in solchen Phasen Kohlekraftwerke ein. Künftig geht es auch ohne sie.
Versorgung mit 100 Prozent Ökostrom
- 02.02.2021
Sicher durch die Dunkelflaute
Von Denis Dilba
Es war wie immer keine Überraschung, dass auch in diesem Winter Wetterlagen auftraten, bei denen tagelang nahezu Windstille herrschte und gleichzeitig kein Sonnenstrahl zum Boden durchdrang. Zuletzt war das vom 15. bis 17. Januar der Fall. Genauso wenig überraschend werden dann die Kritiker der Energiewende laut: Wind und Sonne, heißt es während solcher Dunkelflauten, könnten das Land nicht zuverlässig mit Strom versorgen. Parallel betonen die Betreiber fossiler Kraftwerke, dass ihre Anlagen gerade auf Hochtouren laufen und so den Job machen, den eigentlich die Erneuerbaren erledigen sollen.
Wie also, fragen längst nicht nur Kritiker, sieht eine Welt aus, die vollständig auf grüner Energie beruht? 2030 soll der Ökostromanteil nach derzeitigen Plänen der Bundesregierung bei 65 Prozent liegen, 2050 bei 100 Prozent. Droht in kommenden Wintern ein Leben in Kälte und Dunkelheit?
Der Ökostromanteil wächst und wächst. Trotzdem ist das deutsche Netz stabil
Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE), kennt solche Unkenrufe. „Ich halte schon den Begriff Dunkelflaute für schwierig, weil er suggeriert, dass uns mit der Energiewende droht, im Dunkeln zu sitzen“, sagt die frühere Grünen-Chefin im Gespräch mit EnergieWinde. „Fakt ist aber: Weder in Zeiten schwacher Ökostromproduktion noch zu Spitzenzeiten der Produktion von erneuerbarem Strom ist es hierzulande bisher zu langanhaltenden Stromausfällen gekommen. An manchen Tagen liegen wir sogar über Stunden bei einem Anteil von 75 Prozent und mehr.“ Deutschland habe international seit Jahren mit die niedrigsten Netzausfallzeiten.
Mit der heutigen Technik bekommen wir keine 100 Prozent Ökostrom hin. Aber genauso wenig bekommen wir mit der heutigen Technik 100 Prozent Atom- oder Kohlestrom hin
Volker Quaschning, Energiewissenschaftler
Dass es keine größeren Ausfälle gibt, führen Kritiker darauf zurück, dass im Zweifel eben fossile Kraftwerke einspringen. Dass man mit dem bisherigen Ökostromausbau einfach fortfahren könne, bis irgendwann 100 Prozent erreicht sind, behaupten allerdings auch Befürworter der Energiewende nicht. „Selbstverständlich müssen wir das System ändern, wenn wir die Stromerzeugung verändern“, sagt Volker Quaschning, Professor für Erneuerbare Energiesysteme an der Hochschule für Wirtschaft und Technik in Berlin. „Mit der heutigen Technik bekommen wir keine 100 Prozent Ökostrom hin. Aber genauso wenig bekommen wir mit der heutigen Technik 100 Prozent Atom- oder Kohlestrom hin“, erklärt er gegenüber EnergieWinde.
Die Ziele sind realistisch – wenn ausreichend Wind- und Solarpark gebaut werden
Die Frage sei daher, was konkret zu tun ist, um die Ziele zu erreichen, sagt Quaschning. Die technische Machbarkeit sowohl der 65 Prozent 2030 als auch der 100er-Marke 2050 steht für ihn wie auch für BEE-Präsidentin Peter außer Frage. „Die erste Überlegung, die man anstellen muss, um sich einer Lösung zu nähern, ist: 65 Prozent wovon?“, sagt Quaschning.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Strombedarf 2030 knapp unter dem aktuellen Wert von rund 600 Terawattstunden (TWh) liegt. Peter und der BEE prognostizieren für 2030 allerdings 740 TWh. Mit ähnlichen oder noch höheren Werten kalkulieren das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI), die Deutsche Energie-Agentur (Dena) und sogar das Bundesverkehrsministerium. Deutschland steuert demnach auf eine gewaltige Ökostromlücke zu.
Die niedrigen Annahmen der Bundesregierung beruhen auf der Erwartung einer wachsenden Effizienz: Moderne Fabrikanlagen, Verkehrssysteme oder Haushaltsgeräte verbrauchen weniger Strom als ihre Vorgänger. Aus Sicht von Peter ist das zu kurz gedacht. Die Bundesregierung unterschlage dabei ihre eigenen Angaben für den Bedarf an grünem Wasserstoff. „Wenn man den Beitrag von Effizienzmaßnahmen in den vergangenen Jahren betrachtet und dazu den wachsenden Strombedarf insbesondere durch elektrische Wärmepumpen, durch Elektromobilität und grünen Wasserstoff für Industrie und Luftfahrt sieht, wird klar, dass man von einer deutlichen Erhöhung ausgehen muss.“
Fast alle Experten sähen das genauso, sagt Quaschning. „Von dieser Grundlage hängt aber ab, welche Maßnahmen wir treffen müssen, um zunächst das 65-Prozent-Ziel zu erreichen.“
„Wir brauchen also einen viel ambitionierteren Zubau der Erneuerbaren, besonders in der Windenergie und der Fotovoltaik“, sagt der Energiewissenschaftler Volker Quaschning.
Allen voran betrifft das die Ausbauraten der Erneuerbaren. „Bei der Regierungsprognose könnte man sich mit ein bisschen Zubau hier und da bis zum 65-Prozent-Ziel 2030 durchwurschteln“, sagt Quaschning. Dann hätte man aber nur das Zwischenziel für den Stromsektor erreicht. „Die Sektoren Wärme, Verkehr und Industrie wären dann noch weitgehend fossil – womit noch knapp drei Viertel des Weges vor uns liegen würden. Wir brauchen also einen viel ambitionierteren Zubau der Erneuerbaren, besonders in der Windenergie und der Fotovoltaik.“
Dieser, so Quaschning, müsse sich auf den höheren Strombedarf beziehen, der bis 2030 hauptsächlich durch Elektroautos im Verkehrssektor und elektrische Wärmepumpen erzeugt werde. Gerade die Kombination der Sektoren, die sogenannte Sektorkopplung, bringe aber Intelligenz ins System – die auch helfe, das 65-Prozent-Ziel bei höherem Strombedarf zu erfüllen.
Stromspeicher? Gibt es bereits – in Form der wachsenden E-Autoflotte
Der Energiewissenschaftler hat dabei eine Lastverschiebung im Sinn: Wenn Windräder und Solaranlagen bei entsprechendem Wetter mehr Strom produzieren, als im Netz benötigt wird, können mit dem Überschuss Elektroautos geladen werden. „Das Potenzial ist riesig: Erreicht der Anteil an E-Autos am Gesamtbestand zehn Prozent und nehmen wir an, dass sie im Durchschnitt eine 40-Kilowattstundenbatterie haben, würden sie weit mehr Speicherkapazität bieten als alle Pumpspeicherkraftwerke in Deutschland zusammengenommen“, sagt Quaschning. Sehr viel mehr Speichertechnologie brauche man für das 65-Prozent-Ziel eigentlich nicht.
Weil die Stromschwankungen im Netz mit dem wachsenden Anteil Erneuerbarer zunehmen, benötigt man aus Sicht von BEE-Präsidentin Peter bis 2030 aber auf jeden Fall noch Backup-Kraftwerke, die vor allem mit Gas befeuert werden. „Die Atomkraftwerke laufen nächstes Jahr aus und Kohlekraftwerke sind nicht kompatibel mit Klimazielen. Sie werden zudem immer unwirtschaftlicher“, sagt Peter. „Um das neue Stromsystem flexibel zu steuern, werden in absehbarer Zeit auch die regelbaren Gaskraftwerke überwunden werden müssen, denn auch sie stoßen klimaschädigendes CO2 aus.“
BEE-Präsidentin Simone Peter hält den Umstieg auf 100 Prozent Ökostrom schon deutlich vor 2050 für machbar. Das Foto zeigt sie bei ihrer Abschiedsrede als Grünen-Chefin 2018.
Mehr und mehr könnten zuschaltbare Erneuerbare wie Bioenergie, Geothermie und Wasserkraft ihre flexible Rolle in der Stromproduktion spielen, sagt Peter: „Würde man den Bestand an Bioenergieanlagen in Deutschland komplett auf flexible Fahrweise umstellen, könnte man ad hoc 60 Erdgaskraftwerksblöcke ersetzen.“ Aber auch die fluktuierenden erneuerbaren Quellen leisteten bei weiterem Ausbau ihren Beitrag, ebenso wie Speicher, Lastmanagement und die Kopplung der Sektoren.
Ab 2030 wird Wasserstoff wichtig. Er kann in Gaskraftwerken verfeuert werden
Für die Zeit nach 2030 werden dann vermehrt Speicherlösungen benötigt. „Wenn wir 70, 80, 90 Prozent Ökostrom erreichen, werden wir den Überschuss auch nicht mehr puffern können, wenn wir alle Elektroautos gleichzeitig laden“, sagt Quaschning. „Dann müssen wir Power-to-Gas-Anlagen anwerfen, die aus dem erneuerbaren Strom grünen Wasserstoff produzieren.“ Den könne man über lange Zeiträume speichern und nutzen, um die während einer Dunkelflaute benötigten großen Strommengen mit Hilfe von wasserstoffbefeuerten Gaskraftwerken zu produzieren.
Batteriespeicher eigneten sich besser für kleinere Energiemengen und häufiges Be- und Entladen, so Quaschning. Die Akkus würden ab 2030 vermehrt die Aufgabe übernehmen, den tagsüber produzierten Ökostrom nachts verfügbar zu machen. Da bis 2050 auch in den europäischen Nachbarländern mehr Ökostrom produziert wird, könne man zudem von einem grenzüberschreitenden Ausgleich der Strombedarfe ausgehen, ergänzt Peter.
Derzeit stockt die Energiewende. Dahinter dürfte auch Wahltaktik stecken
„Der Weg, wie wir die Ökostromziele erreichen können ist ziemlich klar“, fasst Quaschning zusammen: „Was noch fehlt, ist der politische Wille, diesen Weg auch zu beschreiten.“ Mit dem aktuellen Kurs bleibe man jedenfalls spätestens 2030 in der Energiewende stecken. „Die Bundesregierung hat keine Ideen von Speichertechnologien, Lastmanagement und verfehlt die nötigen Ausbauraten eklatant“, sagt der Energiewirtschaftsexperte. Er vermutet dahinter Wahltaktik: Die CDU gehe offenbar von Koalitionsverhandlungen mit den Grünen aus. „Und die Grünen wollen in jedem Fall mehr Klimaschutz als die CDU.“ Um mehr Verhandlungsmasse zu haben, hänge man die Latte daher besonders tief.
Auch Peter verspricht sich bald wieder mehr Rückenwind für die Energiewende. Dafür sprächen schon die verschärften Klimaschutzziele der EU: Mindestens 55 Prozent CO2-Einsparung bis 2030 sind bereits beschlossen, 60 Prozent, wie vom Europäischen Parlament gefordert, noch möglich. „In jedem Fall muss die Bundesregierung ihre Klimaschutzziele und ihre Ziele für erneuerbare Energien anpassen. Wir gehen davon aus, dass wir mit entsprechend angepassten Ausbauzielen und -mengen 2030 schon bei 80 Prozent Ökostromanteil sein können und damit deutlich früher als 2050 bei 100 Prozent.“