Im BASF-Werk in Ludwigshafen wird Rohbenzin unter Wasserdampf bei 840 Grad aufgespalten. Die Anlagen laufen rund um die Uhr – der Standort verbraucht sechs Terawattstunden Strom pro Jahr.
Energieverbrauch 2030
- 13.11.2019
Die ignorierte Ökostromlücke
Von Kathinka Burkhardt
Wer an 2008 denkt, erinnert sich vielleicht an die Finanzkrise, Obamas Wahl oder das vergeigte EM-Finale gegen Spanien. Aber an den eigenen Stromverbrauch? Wohl kaum. Und an den Gesamtstromverbrauch Deutschlands? Erst recht nicht. Dabei wäre es gut, diese Zahl parat zu haben. Denn daran richtet die Bundesregierung ihre Klimaschutzstrategie aus.
2008 hatte Deutschland einen Bruttostromverbrauch von 619 Terawattstunden. Brutto, weil darin auch der Strom eingerechnet ist, den Kraftwerke für den eigenen Betrieb benötigen, sowie jener, der beim Transport durch die Netze verloren geht. Netto kam Deutschland auf 524 Terawattstunden.
Wenn nun also im Klimaschutzprogramm der Bundesregierung das Ziel steht, 2030 einen Ökostromanteil von 65 Prozent zu erreichen, ist gemeint: gemessen am Bruttostromverbrauch von 2008. Und wenn es dort heißt, der Verbrauch solle im selben Zeitraum durch „ambitionierte Effizienzmaßnahmen“ gesenkt werden, sind die Richtlinie die 524 Terawattstunden netto.
Aber statt diese Zahlen konkret zu nennen, hat sich das Klimakabinett im Oktober folgende etwa sperrige Formulierung zum erwarteten Strombedarf überlegt: „Gegenwärtig wird davon ausgegangen, dass sich dieser aufgrund zunehmender Stromnachfrage der Bereiche Wärme und Verkehr auf der einen Seite und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz auf der anderen Seite im Jahr 2030 geringfügig unterhalb des heutigen Niveaus bewegen dürfte.“
Doch an dieser Prognose haben Vertreter aus Wissenschaft und Industrie erhebliche Zweifel. Sie befürchten, dass Deutschland 2030 nicht weniger, sondern mehr Strom verbrauchen wird als heute. Viel mehr. Aber woher soll die Energie kommen, wenn die ausgelobten 65 Prozent Ökostrom dann nicht an 619 Terawattstunden bemessen werden müssen, sondern an 700 oder 800?
In der Wirtschaft brodelt es: Die Klimapolitik müsse ehrgeiziger werden
Oder sogar an 1008 Terawattstunden. Denn das ist der Nettostromverbrauch, den Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich in einer kürzlich veröffentlichten Studie für 2050 berechnet haben. So viel Energie sei nötig, wenn Deutschland bis dahin tatsächlich 95 Prozent der CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990 einsparen will. Also fast doppelt so viel, wie die Bundesregierung prophezeit.
In der Wirtschaft brodelt es schon seit Längerem, wenn es um die künftige Stromversorgung geht. „Allein die Chemieindustrie wird so viel Strom benötigen, dass sich die deutschen Energieerzeuger daran verheben würden“, sagte Holger Lösch, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), kürzlich auf einer Konferenz, zu der der Energiekonzern Ørsted und der „Tagesspiegel“ nach Berlin geladen hatten. Bereits im vergangenen Jahr hatte der BDI eine Studie vorgelegt, der zufolge eine Reduktion der Emissionen um 80 Prozent zwar technisch machbar sei, aber die Umsetzung eine deutliche Verstärkung aller bisherigen Anstrengungen nötig mache – und den Einsatz von unpopulären Technologien wie der Speicherung von CO2 im Untergrund.
Der Strombedarf in der Chemie ist gigantisch. Er überfordert die Energiekonzerne
Bestes Beispiel für den wachsenden Strombedarf der Industrie ist der Chemiekonzern BASF. An seinem Standort in Ludwigshafen verbraucht das Unternehmen schon jetzt rund sechs Terawattstunden Strom pro Jahr – ein Prozent der Gesamtmenge in Deutschland.
Zwar wird der Großteil in konzerneigenen Kraftwerken produziert. Aber das könnte sich bald ändern: Der Konzern arbeitet daran, seine sogenannten Steamcracker auf erneuerbare Energien umzustellen. Diese riesigen Anlagen, die Rohbenzin unter Wasserdampf bei 840 Grad aufspalten, werden bislang von Erdgasöfen beheizt. Um künftig deutlich weniger CO2 freizusetzen, sollen die Öfen durch eine strombetriebene Lösung ersetzt werden. Für solche Umstellungen benötige die Chemieindustrie mehr Energie, als die deutschen Produzenten liefern könnten, sagte Lösch.
Doch selbst wenn BASF eine technische Lösung findet, seine Erdgasöfen auf Erneuerbare umzustellen, bleibt aus Sicht von Konzernchef Martin Brudermüller ein Problem: Grüner Strom sei momentan noch zu teuer, um wirtschaftlich zu arbeiten.
Statt Ökostrom auszubauen, wird die Windenergie abgewürgt, klagt die Branche
Ob in der Chemieindustrie, der Stahlerzeugung oder in anderen Branchen: Viele Produktionsanlagen stehen in den kommenden Jahren vor der Erneuerung. Soll die Industrie bis 2050 klimaneutral wirtschaften, müssen nach und nach Maschinen und Energiesysteme auf CO2-Effizienz umgestellt werden – also vor allem auf Ökostrom.
Allerdings ist völlig offen, woher der grüne Strom kommen soll. Laut der Studie aus Jülich bräuchte Deutschland 2050 eine Kraftwerkskapazität von 471 Gigawatt. 2018 waren rund 118 Gigawatt Erneuerbare installiert. Folglich müssten jährlich im Schnitt rund 11,5 Gigawatt hinzukommen. Zwischen 1995 und 2017 waren es allerdings gerade einmal acht Gigawatt. Und derzeit sieht es nicht danach aus, als würde Deutschland den Ausbau der Erneuerbaren mit Nachdruck vorantreiben. Im Gegenteil: Die derzeit im Bundeswirtschaftsministerium geplante restriktive Abstandsregelung für Windräder beschreiben Branchenvertreter vielmehr als „Todesstoß für die Energiewende“.
Es ist besorgniserregend, dass die Bundesregierung in ihrem Klimaschutzprogramm an diesem niedrigen Stromverbrauch festhält. Die Industrie hat schon viel ambitioniertere Pläne als die Politik
Hermann Albers, Präsident des Bundesverbands Windenergie
„Es ist besorgniserregend, dass die Bundesregierung in ihrem neuen Klimaschutzprogramm weiterhin an diesem niedrigen Stromverbrauch festhält“, sagte Hermann Albers, Präsident des Bundesverbands Windenergie, auf der Konferenz in Berlin. „Die Industrie hat schon viel ambitioniertere Pläne als die Politik“, so Albers.
Nicht nur sein Verband beobachtet, dass viele Unternehmen klimaneutrale Strategien einschlagen wollen. „Wir haben täglich Anrufe von Unternehmen, die ihr Geschäft auf klimaneutrale Prozesse umstellen möchten und viele Fragen dazu haben“, sagte Eberhard Brandes, Vorstand der Umweltschutzorganisation WWF Deutschland. Sehr oft gehe es darum, wo der dazu nötige Ökostrom herkommen könnte.
Auch in der Koalition mehren sich Zweifel. Folgen hat das bislang aber nicht
Doch nicht nur die Industrie wird mehr Strom brauchen. Auch die sieben bis zehn Millionen Elektroautos, die die Regierung bis 2030 auf die Straße bringen will, brauchen Energie. Parallel soll die Bahn mehr Güter auf die Schiene bringen und die Privathaushalte werden ebenfalls zusätzlichen Strom verbrauchen, um CO2 einzusparen – allen Effizienzmaßnahmen zum Trotz.
Immerhin mehren sich auch in den Reihen der Großen Koalition die Zweifel an den selbst gesetzten Zielen. „Mir bereitet die Frage, wie viel Strom wir 2030 benötigen werden, durchaus Sorgen“, sagte Johann Saathoff von der SPD. Er sei skeptisch, dass der Nettostromverbrauch auf einem ähnlichen Niveau wie heute bleiben wird. Vielmehr könne er „um den Faktor zehn höher“ liegen.
Aber die Stromverbrauchsprognose anheben? Das will die Bundesregierung offenbar nicht. Vielmehr setzt sie alle Hoffnungen auf eine noch nicht marktreife Technologie: Wasserstoff, als Speicher für Ökostrom. Im Dezember will Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung inklusive konkretem Maßnahmenplan vorlegen.
Allerdings braucht man auch zur Herstellung von sauberem Wasserstoff Ökostrom. Sehr viel Ökostrom.