Wind verdrängt Kohle: Bislang ist die Energiewende vor allem eine Stromwende. Wenn Deutschland seinen CO2-Ausstoß in den Griff bekommen will, müssen auch Sektoren wie der Verkehr elektrifiziert werden.
Von der Stromwende zur Energiewende
- 09.01.2020
It’s the electricity, stupid!
Von Volker Kühn
Das vergangene Jahr war kein leichtes für die Ökostrombranche, und doch konnte sie wieder einen Rekord feiern: Der Strom, der aus deutschen Steckdosen floss, stammte zu 46 Prozent aus erneuerbaren Quellen. Das ist eine Steigerung um sechs Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr und zugleich der bisher höchste Wert überhaupt, wie das Fraunhofer ISE meldet. Hat Deutschland die Energiewende also schon fast zur Hälfte geschafft?
Leider nicht. Eher zu gut einem Sechstel.
Denn Strom macht nur einen Teil des Energieverbrauchs in Deutschland aus – beim Heizen und im Verkehr zum Beispiel spielt er so gut wie keine Rolle. Gemessen am gesamten Energieverbrauch nimmt sich der Anteil regenerativer Quellen deshalb noch immer sehr bescheiden aus: Er liegt bei knapp 15 Prozent. Dagegen werden gut 60 Prozent der Energie mit Öl und Gas erzeugt. Der Anteil dieser CO2-intensiven Energieträger ist nach Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen 2019 sogar noch etwas stärker gewachsen als der von erneuerbaren Energien (während die Kohle deutlich verloren hat).
Das zeigt, wie weit der Weg in der Energiewende noch immer ist, auch wenn die durchaus beachtlichen Erfolgsmeldungen bei der Umstellung der Stromversorgung das oft verdecken. Weil in der Diskussion so viele verschiedene Zahlen und Begriffe kursieren, liefert EnergieWinde einige Einordnungen und Definitionen.
Aus welchen Quellen stammt die in Deutschland verbrauchte Energie?
Nach aktuellen Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen war Mineralöl 2019 mit einem Anteil von 35 Prozent der wichtigste Energieträger in Deutschland, gefolgt von Gas (25 Prozent), Kohle (18 Prozent), Erneuerbaren (15 Prozent) und Atomkraft (sechs Prozent). Seit Beginn der Energiewende vor zwei Jahrzehnten haben sich die Anteile stark verschoben: Der Anteil Erneuerbarer wächst, die Kernenergie verliert mit der Abschaltung der AKW an Bedeutung. Auch der Anteil von Stein- und Braunkohle geht inzwischen stark zurück, weil sie zunehmend unwirtschaftlich werden. Der Zuwachs beim Mineralöl hat vor allem zwei Ursachen: zum einen das starke Verkehrswachstum mit dem Trend zu schweren, spritfressenden SUV und zum anderen die gestiegene Nachfrage nach leichtem Heizöl aufgrund von gefallenen Preisen.
Aus welchen Quellen stammt Deutschlands Strom?
46 Prozent des deutschen Stroms kamen im vergangenen Jahr laut dem Fraunhofer ISE aus erneuerbaren Quellen. Die wichtigsten Energieträger darunter waren nach Lesart des Bundesverbands Windenergie (BWE) On- und Offshore-Windräder mit einem Anteil von zusammen knapp 25 Prozent. Das stimmt allerdings nur, wenn man die Kohle separat betrachtet: Braunkohle kam 2019 auf knapp 20 Prozent, Steinkohle auf gut neun Prozent – zusammen machte die Kohle also noch immer den größten Posten aus, wenn auch mit sinkender Tendenz.
Im Netz kursieren regelmäßig sehr unterschiedliche Angaben zum Strommix in Deutschland. Das liegt vor allem daran, dass manche Berechnungen die Bruttostromerzeugung zugrunde legen, andere hingegen die Nettostromerzeugung. In die Bruttostromerzeugung werden auch die elektrischen Verluste mit eingerechnet, die in Kraftwerken anfallen. Dieser Strom erreicht das öffentliche Netz gar nicht. Außerdem ist darin die Eigenstromversorgung von Industriebetrieben enthalten, die selbst Kraftwerke betreiben; diese Energie wird ebenfalls nicht ins Netz eingespeist.
Die vom Fraunhofer ISE errechneten 46 Prozent Ökostrom beruhen auf der Nettostromerzeugung. Bei der Bruttostromerzeugung kam Deutschland 2019 laut einer Analyse von Agora Energiewende auf 42,6 Prozent.
Wie hoch ist der Anteil Erneuerbarer in anderen Sektoren?
Statt von einer Energiewende kann in Deutschland bislang bestenfalls von einer Stromwende gesprochen werden. Denn während die Stromwirtschaft bei der Umstellung auf erneuerbare Quellen große Fortschritte erzielt hat, hinken Privathaushalte, Industrie, Gewerbe und vor allem der Verkehr weit hinterher. Die jüngsten Zahlen des Umweltbundesamts dazu beziehen sich auf 2017. Zwar weisen sie den Ökostromanteil in den einzelnen Sektoren nicht separat aus, sondern fassen ihn mit konventionell erzeugtem Strom zusammen. Dennoch geben sie eine gute Einordnung, da der Anteil über alle Sektoren hinweg bekannt ist: Er lag 2017 bei gut 38,5 Prozent.
Den Zahlen zufolge hat die Industrie in diesem Jahr 31 Prozent ihrer Energie in Form von Strom bezogen, im Gewerbe waren es 37 Prozent, bei Privathaushalten 19 Prozent und im Verkehr nicht einmal zwei Prozent. Keiner dieser Sektoren kam also auch nur annähernd an den aktuellen 46-Prozent-Anteil von Erneuerbaren in der Stromwirtschaft heran.
Was muss passieren, damit die Energiewende in Deutschland vorankommt?
Deutschland will bis 2050 klimaneutral werden und so seinen Teil dazu beizutragen, dass sich die Erde möglichst um nicht mehr als 1,5 Grad erhitzt. Dazu muss der Treibhausgasausstoß schnell heruntergefahren werden. Das bedeutet, dass die Energiewende endlich in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft Fahrt aufnehmen muss. Das Zauberwort dazu heißt Sektorenkopplung: Dabei wird Ökostrom zur Erzeugung von Energie in Sektoren wie dem Verkehr oder Wohnen genutzt. Das kann sowohl direkt passieren als auch über die Umwandlung von Ökostrom in andere Energieträger wie etwa Wasserstoff.
Aus Sicht der Forschung kommt die Umstellung auf erneuerbare Quellen bislang viel zu langsam voran. Der Weltklimarat IPCC geht deshalb davon aus, dass neben der Verringerung der Treibhausgasmissionen noch ein weiterer Schritt nötig ist, um die Erderhitzung zu begrenzen: die aktive Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre durch Technologien wie Carbon Capture and Storage (CCS).