Kohlekraftwerk in NRW: Mit Datteln 4 soll 2020 ein neuer Kraftwerksblock im Ruhrgebiet in Betrieb gehen. Branchenkenner bezweifeln, dass sich der Schritt rentiert.
Kohlekraftwerke schreiben Verlust
- 01.11.2019
Auf Sparflamme
Von Volker Kühn
Wenn Fotoredakteure Artikel über die Energiewende illustrieren, greifen sie nicht selten zu einem Bild aus dem niedersächsischen Mehrum. Es zeigt ein Steinkohlekraftwerk und Windräder vor einem berückend schönen Morgenhimmel. Zeitungen aus dem ganzen Land haben es bereits gedruckt, auch auf EnergieWinde war es zu sehen. Meist stehen Sätze darunter, die erklären, dass die eine Technologie – die Kohle – bald verschwunden sein werde, während der anderen – dem Wind – die Zukunft gehöre.
Aber stimmt das auch?
Es gibt Meldungen aus den jüngsten Tagen, die nahelegen, dass sich der Kohleausstieg länger hinziehen könnte, als von Klimaschützern erhofft. Da ist zum Beispiel die Entscheidung der Bundesnetzagentur von Ende Oktober. Sie hat die für 2022 geplante Abschaltung eines Steinkohlekraftwerks in München verboten, obwohl ein Bürgerentscheid genau das beschlossen hatte. Unmöglich, erklärte die Behörde: Das Kraftwerk sei systemrelevant, die Stilllegung gefährde die Stromversorgung, eine Alternative gebe es nicht. Frühestens Ende 2024 dürfe es vom Netz gehen.
Steinkohlekraftwerk und Windräder: Im niedersächsischen Mehrum stehen die alte und die neue Energiewelt nebeneinander.
Ebenfalls Ende Oktober sickerte durch, dass Uniper den umstrittenen Neubau des Steinkohlekraftwerks Datteln 4 im kommenden Jahr nun doch in Betrieb nehmen will. Mehr als 1,5 Milliarden Euro hat der Konzern in den Meiler am Nordrand des Ruhrgebiets investiert. Zwar soll er viel effizienter sein als alte Anlagen und deswegen deutlich weniger CO2 ausstoßen. Mit dem geplanten Kohleausstieg zum Jahr 2038 passe die Entscheidung trotzdem nicht zusammen, monieren Klimaschützer.
Und selbst der von der Kohlekommission beschlossene Ausstiegskompromiss ist aus Sicht von Kritikern wie dem Grünen-Politiker Hans-Josef Fell eher ein Bestandsschutz für alte CO2-Schleudern denn ein Ausstiegsfahrplan. Zudem liegt das Papier bereits seit Monaten vor. Den entsprechenden Gesetzesentwurf wird das Kabinett aber voraussichtlich erst in diesem Monat absegnen. Anschließend muss er noch durch Bundestag und Bundesrat, was erst 2020 der Fall sein dürfte. Mitglieder der Kommission hatten deshalb bereits einen Brandbrief an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier geschrieben.
Hat die Kohle in Deutschland also womöglich doch mehr Zukunft, als noch vor Kurzem möglich schien?
Billiger Strom, teure Zertifikate: Vier von fünf Kohlekraftwerken schreiben Verlust
Eher nicht. Denn jenseits tagespolitischer Entwicklungen wie dem Stillegungsverbot in München und dem zähen Ringen um das Ausstiegsgesetz gibt es noch eine andere Ebene: den Markt. Und der entwickelt sich seit geraumer Zeit gegen die Kohleindustrie. Das gilt nicht nur in Deutschland, sondern auch international.
Im August hat sich die britische Klimaschutzorganisation Sandbag mit der wirtschaftlichen Lage der deutschen Braunkohlekraftwerke beschäftigt. In ihrer Studie kommt sie zu dem Schluss, dass die Anlagen allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres einen Verlust von rund 664 Millionen Euro erwirtschaftet hätten. Eine Besserung sei nicht in Sicht: Für die Jahre 2020 bis 2022 prognostizieren die Autoren ein Minus von 1,8 Milliarden Euro.
Grund dafür sei zum einen die Entwicklung an den Terminbörsen für Strom, wo die Preise aufgrund des stetig wachsenden Angebots an erneuerbaren Energien auf niedrigem Niveau liegen. Die Kraftwerksbetreiber nehmen also weniger ein. Zum anderen ist der Preis für die Zertifikate, die Verursacher von CO2 kaufen müssen, deutlich gestiegen. Jahrelang dümpelte er deutlich unter zehn Euro herum – inzwischen liegt er bei gut 25 Euro. Beides habe in Kombination dazu geführt, dass es für die Betreiber von Deutschlands Braunkohlekraftwerken immer schwieriger werde, kostendeckend zu arbeiten.
Die Sandbag-Studie ist nicht die einzige, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Verstromung von Kohle zunehmend unrentabel ist. Erst vor wenigen Tagen hat die ebenfalls aus Großbritannien stammende Organisation Carbon Tracker eine Analyse vorgelegt, der zufolge vier von fünf Kohlekraftwerken in Europa Verluste erwirtschaften, ganz gleich ob sie Braunkohle oder Steinkohle verfeuern.
Auf das laufende Jahr hochgerechnet gehen die Autoren von einem Minus in Höhe von 6,6 Milliarden Euro aus, wovon 1,9 Milliarden Euro auf die deutschen Kraftwerke entfielen.
Klimaschützer warnen davor, Betreiber defizitärer Kraftwerke zu entschädigen
Die Autoren beider Studien räumen allerdings ein, dass sie die genaue Lage der Kraftwerksbetreiber nicht kennen. Sie haben Parameter wie die Kosten von CO2-Zertifikaten oder den Einkauf von Kohle lediglich modelliert. Die Branche widerspricht den Studien denn auch. Zwar sei die Auslastung der Kraftwerke tatsächlich zurückgegangen, heißt es. Doch von Verlusten in der beschriebenen Höhe könne keine Rede sein.
Und auch die Uniper-Pläne zur Inbetriebnahme von Datteln 4 scheinen ein Beleg dafür zu sein, dass die Kohleverstromung nach wie vor ein attraktives Geschäft ist. Doch Branchenkenner verweisen darauf, dass dies auch taktisch motiviert sein könne: Schließlich gehe es für den Konzern darum, für seine Milliardeninvestitionen eine möglichst hohe Entschädigung vom Bund zu bekommen. Und das sei bei einem laufenden Kraftwerk womöglich leichter zu rechtfertigen als bei einem nie in Betrieb gegangenen.
Viele Kohlekraftwerke sind schon heute unwirtschaftlich. Entschädigungen für den Kohleausstieg müssen Sie nur zahlen, wenn es einen wirtschaftlichen Verlust, also entgangene Gewinne gibt
Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
Eine Entspannung der wirtschaftlichen Lage für die Kohleindustrie ist auf der Kostenseite jedenfalls kaum in Sicht. Das gilt schon deshalb, weil die Menge der im Handel befindlichen CO2-Zertifikate seit einer Reform des Emissionshandelssystems spürbar verknappt wird. Dadurch dürfte ihr Preis weiter steigen – und die ohnehin schwindende Auslastung der Kohlekraftwerke sinken. Im ersten Halbjahr 2019 lag der Anteil von Braun- und Steinkohlemeilern am deutschen Energiemix laut der Denkfabrik Agora Energiewende bei lediglich 27 Prozent. Im Gesamtjahr 2018 waren es fast 40 Prozent.
Die Entwicklung befeuert die Diskussion um die Kompensationen, die Energiekonzerne für Kraftwerksstilllegungen erhalten sollen. „Viele Kohlekraftwerke sind schon heute unwirtschaftlich. Entschädigungen für den Kohleausstieg müssen Sie nur zahlen, wenn es einen wirtschaftlichen Verlust, also entgangene Gewinne gibt“, sagte bereits im August die Ökonomin Claudia Kemfert im Interview mit EnergieWinde.
Und das Kraftwerk im niedersächsischen Mehrum? Stand in diesem Jahr bereits monatelang still. Um die täglichen Fixkosten von 100.000 Euro zu decken, sei die Steinkohle sei zu teuer, beziehungsweise der Strompreis zu niedrig, erklärte der Geschäftsführer der Anlage, die dem tschechischen Konzern EPH gehört, in einem Interview.
Während die Politik noch um den Kohleausstieg ringt, schafft der Markt bereits Fakten.
Update Januar 2020
Der steigende CO2-Preis zeigt zunehmend Wirkung: Laut der von Agora Energiewende erstellten Analyse „Die Energiewende im Stromsektor“ haben Deutschlands Braun- und Steinkohlekraftwerke 2019 deutlich weniger zur Stromerzeugung beigetragen als noch im Jahr zuvor. Bei der Braunkohle lag das Minus den Zahlen zufolge bei 22 Prozent, bei der Steinkohle sogar bei 31 Prozent. Neben dem gestiegenen CO2-Preis hätten auch gefallene Gaspreise und eine größere Ökostromproduktion zur Verdrängung der Kohle beigetragen. Die erneuerbaren Energien erreichten mit einem Nettostromanteil von 42,6 Prozent 2019 einen Rekordwert. Ihr Anteil am Bruttostromverbrauch lag nach aktuellen Berechnungen des Fraunhofer ISE 2019 bei 46 Prozent.