Klimaforscher Tim Lenton

  • Search16.10.2025

Kipppunkte, die Hoffnung geben

Hitze, Dürre, Stürme, Fluten: Die Klimakrise spitzt sich zu. Doch auch die Energiewende gewinnt Fahrt, sagt Klimaforscher Tim Lenton. Ein Gespräch über die Ängste der fossilen Industrie und die Handlungsmacht des Einzelnen.

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    Sprengung der Kühltürme des Kohlekraftwerks Cottam: Großbritannien hat den Kohleausstieg bereits 2024 vollzogen: Kohlestrom war gegenüber Wind- und Solarstrom nicht mehr konkurrenzfähig.

    Sprengung der Kühltürme des britischen Kohlekraftwerks Cottam im August 2025: Ökostrom wird weltweit immer günstiger – und verdrängt fossile Kraftwerke zunehmend aus dem Markt.

     

    Mit den steigenden Temperaturen auf der Erde schmelzen die arktischen Permafrostböden. Dadurch gelangt der Klimakiller Methan in die Atmosphäre, befeuert die Erderhitzung zusätzlich und führt so zur Freisetzung weiteren Methans. Solche Entwicklungen sind in der Klimaforschung als „Kipppunkte“ bekannt – Entwicklungen, die sich selbst beschleunigen. Tim Lenton ist einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet. Doch nicht alle Kipppunkte sind Teufelskreise, sagt der Brite: Es gibt auch Kipppunkte zum Guten.

    Professor Lenton, in Ihrem neuen Buch beschreiben Sie Kipppunkte im Klima – also Situationen, in denen sich Prozesse abrupt und unumkehrbar verändern. Wen wollen Sie damit erreichen?
    Tim Lenton: Als Forscher habe ich schon viel Akademisches geschrieben, aber mit „Positive Tipping Points“ wende ich mich an die breite Öffentlichkeit. Ich möchte zeigen, dass wir mehr Handlungsmacht besitzen, als uns oft bewusst ist. Wir sind nicht passiv einer komplexen, beängstigenden Klimakrise ausgeliefert – wir können selbst Veränderungen anstoßen, die das System ins Positive kippen. Das zeigen nicht nur theoretische Modelle, sondern inzwischen auch ganz konkrete Beispiele.

    Der Begriff „Kipppunkt“ ist in der Klimaforschung eigentlich negativ besetzt: Er steht für bedrohliche Entwicklungen wie das sich selbst beschleunigende Abschmelzen des Eisschildes. Sie rücken nun positive Kipppunkte in den Fokus. Warum?
    Lenton: Weil wir sie brauchen – und weil sie tatsächlich existieren. Schon als ich in den 2000er-Jahren zu negativen Kipppunkten forschte, entwickelte ich die Hypothese, dass es sie auch im Positiven geben muss. Gesellschaften haben sich immer wieder abrupt verändert – das wissen wir aus der Geschichte. Damals fehlten mir noch die Belege, dass Ähnliches auch im Klimasystem möglich ist. Inzwischen sehen wir sie. Etwa in der Solarenergie, deren Verbreitung sich selbst beschleunigt – ein klassischer Kipppunkt. Genau solche Prozesse geben mir Hoffnung.

    Tim Lenton ist Professor für Klimawandel und Erdsystemwissenschaft an der University of Exeter und Gründungsdirektor des Global Systems Institute. Er zählt zu den führenden Experten für Klima-Kipppunkte und berät Politik und Wirtschaft zu nachhaltigem Wandel. In seinem aktuellen Buch Positive „Tipping Points: How to Fix the Climate Crisis“ (Oxford University Press, 2025) zeigt er, wie kleine Veränderungen große gesellschaftliche Transformationen auslösen können.  Foto: University of Exeter

    Sie sprechen von Handlungsmacht, schreiben aber auch, dass oft aufrüttelnde Ereignisse sind, die Verhaltensänderungen auslösen – etwa  die Waldbrände in Kalifornien. Braucht es immer erst die Katastrophe?
    Lenton: Oft handeln wir tatsächlich erst, wenn die Krise längst da ist. Ein Beispiel ist der britische Clean Air Act von 1956: Er kam erst vier Jahre nach dem „Great Smog“ von London, der Tausende Menschen das Leben kostete. Dabei hatten sich die gravierenden Folgen der Luftverschmutzung schon seit den 1880er-Jahren gezeigt. Wenn wir jedoch irreversible Kipppunkte verhindern wollen, dürfen wir nicht so lange warten. Wir müssen stärker betonen, was es zu gewinnen gibt: Saubere Luft rettet Leben, gesunde Ernährung verbessert unser Wohlbefinden, und günstige Solarenergie oder Batterietechnik kann in Afrika erstmals Millionen Menschen Strom bringen. Solche unmittelbaren Vorteile motivieren – oft mehr als die Angst vor der Katastrophe.

    Welcher negative Kipppunkt bereitet Ihnen die größten Sorgen?
    In unserem Tipping Points Report schreiben wir, dass die Korallenriffe den kritischen Punkt sehr wahrscheinlich schon überschritten haben. Aber besonders besorgt bin ich über die Atlantische Umwälzströmung (AMOC). Wenn sie kippt, drohen Europa eisige Winter bei gleichzeitig extrem heißen Sommern. In Westafrika und Indien könnten die Monsune ausbleiben, mit verheerenden Folgen für Millionen Menschen.

    Der „Great Smog“ in London 1952 kostete Tausende Menschen das Leben. Tim Lenton beschreibt in seinem Buch „Positive Tipping Points“, dass es oft erst Katastrophen braucht, um Verhaltensänderungen zu bewirken.

    London im Dezember 1952: Bei Windstille und Frost stauten sich die Abgase der Kohleöfen tagelang über der Stadt. Der „Great Smog“ kostete Tausende Menschen das Leben.

    Und was stimmt Sie hoffnungsvoll?
    Lenton: Die Entwicklung der erneuerbaren Energien, insbesondere der Solarenergie. Sie ist heute fast überall günstiger als fossile Kraftwerke. Der Ersatz alter Kohlekraftwerke durch Solaranlagen und Speicher ist ökonomisch sinnvoll. Zudem ergänzt er sich ideal mit der immer günstigeren Windenergie. Gemeinsam können sie rund 25 Prozent der Emissionen einsparen. Sie bilden die Grundlage die E-Mobilität und die Elektrifizierung der Wirtschaft. Das ist für mich der Schlüssel zur Emissionsreduktion.

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    Wenn die Solarenergie durch Skaleneffekte immer günstiger wird, steigen Akzeptanz und Verbreitung automatisch – selbst wenn sich die politische Lage verschlechtert

    Tim Lenton

    Der Ausbau der Erneuerbaren brauchte in der Vergangenheit viel staatliche Unterstützung und Subventionen. Wo liegt der Unterschied zwischen echten Kipppunkten und staatlichen Programmen?
    Lenton: Ein positiver Kipppunkt liegt vor, wenn sich ein Wandel auch ohne politische Eingriffe selbst beschleunigt. Wenn etwa die Solarenergie durch Skaleneffekte immer günstiger wird, steigen Akzeptanz und Verbreitung automatisch – selbst wenn sich die politische Lage verschlechtert. Genau das beobachten wir gerade. Natürlich kann Politik diesen Wandel fördern oder bremsen, aber sie ist nicht allein entscheidend.

    Ihre Worte könnten bald auf dem Prüfstand stehen: Weltweit sind konservative Kräfte auf dem Vormarsch. Viele stellen den Klimawandel in Frage und halten Klimaschutz für unnötig. Was bedeutet das für die Transformation?
    Lenton: Es ist bedrohlich – aber nicht hoffnungslos. Kipppunkte bedeuten auch, dass eine motivierte Minderheit die Mehrheit mitziehen kann, wenn sie auf positive Rückkopplungseffekte setzt. Was wir aktuell sehen – etwa in den USA unter Trump – ist eine Reaktion darauf, dass die Profiteure des fossilen Status quo den drohenden Machtverlust spüren. Deshalb schlagen sie zurück. Das ist politökonomisch nachvollziehbar, aber natürlich ist es gefährlich und auf vielen Ebenen verabscheuungswürdig.

    Klimaprotest in Kanada im September 2025: „Wir müssen uns als große Mehrheit Gehör verschaffen“, sagt Tim Lenton.

    Klimaprotest in Kanada im September 2025: „Wir müssen uns als große Mehrheit Gehör verschaffen“, sagt Tim Lenton.

    Das klingt erst mal nicht sehr hoffnungsfroh.
    Lenton: Umfragen zufolge glauben fast 80 Prozent der Menschen in verschiedensten Kulturen, dass der Klimawandel ein ernstzunehmendes Phänomen ist und dass Regierungen sich darum kümmern sollten. Wenn also einzelne Regierungen versuchen, eine Minderheitenposition umso lauter zu vertreten und den Wandel zu blockieren, müssen wir uns als große Mehrheit Gehör verschaffen und Klimaschutz einfordern. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir uns gegen Desinformation stemmen und das Vertrauen in Wissenschaft aufrechterhalten. Das mag abstrakt klingen, aber ich erinnere daran, dass es an der Schwelle zum 20. Jahrhundert schon einmal eine Phase gab, in der sich die Macht massiv in den Händen einiger reicher Monopolisten in den USA konzentrierte. Und was kam danach? Das große progressive Zeitalter mit zahlreichen Reformen vom Wahlrecht für Frauen bis zum Sozialen Sicherheitsnetz und dem New Deal. Für uns heute könnte ein solcher Meilenstein der Green New Deal sein.

    Sie sprechen sich in Ihrem Buch für einen global gerechten Klimaschutz aus. Was bedeutet das konkret?
    Lenton: Ich bin überzeugt, dass Gerechtigkeit bei der Transformation eine Schlüsselrolle spielen muss. Wir müssen dabei auch reflektieren, wie viele Vorteile der Wandel im Ganzen bringt und welchen Schaden oder welche Ungerechtigkeit wir zu lindern versuchen. Deshalb finde ich manche der Debatten fehlgeleitet. Wenn man beispielsweise über die Zustände beim Kobalt-Abbau im Kongo spricht, dann ist das Problem nicht durch die Nachfrage nach kritischen Mineralien entstanden, sondern geht mindestens auf die Zeit des Bürgerkriegs und der Völkermorde und Milizen zurück.

    Shop für PV-Paneele in Kenia: Die Solarenergie biete Hunderte Millionen Menschen in Afrika die Chance auf günstigen und sauberen Strom, sagt Lenton.

    Wofür plädieren Sie also?
    Lenton: Ohne das Unrecht zu entschuldigen, muss man es ins Verhältnis setzen zu dem enormen Nutzen, den die Energietransformation einer Vielzahl der ärmsten Menschen der Welt bringt: In Afrika etwa eröffnet sich durch dezentrale Solaranlagen eine historische Chance: Zugang zu günstiger Elektrizität für Hunderte Millionen Menschen. Das ist ein riesiger Gerechtigkeitsgewinn. Natürlich gibt es gleichzeitig auch berechtigte Sorgen über die Zustände beim Rohstoffabbau oder bei Lieferketten, das dürfen wir nicht ignorieren. Aber sie sollten uns nicht den Blick auf das große Ganze verstellen. Es trifft die Ärmsten und Schwächsten der Welt unverhältnismäßig stark, wenn wir den Klimawandel weiterlaufen lassen.

    Was ist Ihrer Meinung nach der nächste Sektor, der positiv kippen könnte?
    Lenton: Die Verbreitung von Wärmepumpen zeigt in einigen Ländern bereits eine positive Dynamik. Auch beim elektrischen Gütertransport sehen wir Bewegung, vor allem in China. Und bei der Ernährung, beim Rückgang des Fleischkonsums, könnte in einigen Industrieländern ein sozialer Kipppunkt näher rücken.

    Überblick der Kipppunkte im globalen Klimasystem: Die Weltkarte zeigt, welche System bei welcher Erwärmung kippen könnten. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Was wünschen Sie sich konkret von der Weltklimakonferenz im November im brasilianischen Belém?
    Lenton: Im Tipping Points Report sprechen wir eine klare Empfehlung aus: ein verpflichtender Einstieg in saubere Alternativen und der Ausstieg aus fossilen Energiequellen mit gesetzlichen Vorgaben wie Verkaufsverboten für neue Diesel- und Benzinfahrzeuge. Es gibt ja bereits marktreife Alternativen. So werden Rückkopplungseffekte erzeugt, die zu weiter steigender Qualität und niedrigeren Preisen führen.

    Und welche Nachricht zum Klima gibt Ihnen derzeit die größte Hoffnung?
    Lenton: Ganz klar: was sich aktuell in der Batterietechnologie tut. Da kommt eine neue Generation auf uns zu, die noch effizienter und günstiger ist. Das wird ein riesiger Hebel für die Elektrifizierung ganzer Systeme. Und genau solche technologischen Kipppunkte brauchen wir.

    Die Fragen stellte Jasmin Lörchner.

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