SPD-Energiepolitikerin Nina Scheer

  • Search27.10.2025

„Die Energiewende stärkt die Demokratie“

Nina Scheer ist einer der führenden Köpfe in der Energiepolitik der SPD. Im Interview fordert sie staatliche Mittel für den Netzausbau, plädiert für mehr Ökostrom – verrät, wo sie mit Schwarz-Rot hadert.

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    Nina Scheer setzt sich für mehr Gerechtigkeit in der Energiewende ein. Den milliardenteuren Netzausbau sieht sie als Aufgabe des Staates, nicht der Stromkunden.

    Nina Scheer setzt sich für mehr Gerechtigkeit in der Energiewende ein. Den milliardenteuren Netzausbau sieht sie als Aufgabe des Staates, nicht der Stromkunden.

     

    Frau Scheer, Sie sagten einmal, es sei eine zentrale Menschheitsaufgabe, den Umstieg auf erneuerbare Energien so schnell wie möglich zu schaffen. Warum?
    Nina Scheer: Weil es für Volkswirtschaften und die gesamte Menschheit gravierende Folgen hat, von fossilen Energieressourcen weiter abhängig zu sein. Es ist ja nicht nur der Klimawandel, der schon Grund genug wäre, die Energiewende zu schaffen. Wir sehen Kriege um Ressourcen – ich erinnere an die Golfkriege. Dieses Ringen um Vormachtstellungen wird auch beim jüngsten Zolldeal zwischen Donald Trump und Ursula von der Leyen erkennbar: Europa soll sich verpflichten, aus den USA fossile Rohstoffe im Volumen von 750 Milliarden Dollar zu kaufen. Je mehr sich Abhängigkeiten verfestigen und Verknappung zuspitzt, desto gefährlicher werden auch Aufrüstungsspiralen und desto mehr geraten demokratische Strukturen unter Druck. Reichtum – auch aus Ressourcenhandel, in den Händen von Oligarchen – kann sich dann auch als weltumspannender Faschismus Bahn brechen. Und warum hat Donald Trump wohl Interesse an Grönland?

    Was meinen Sie?
    Scheer: Wegen der Ressourcen, die dort lagern. Festzuhalten ist: Fossile Energieressourcen binden CO2, das nicht weiter in die Atmosphäre gelangen darf. Entscheidend wird sein, auf welchem Weg dies erreichbar ist. Setzen wir an den Folgewirkungen an, dem CO2-Ausstoß, oder bereits am Anfang der Verursachungskette? Das ist meines Erachtens die entscheidende Frage. Wir sollten den Vorteil der Erneuerbaren nicht allein darauf reduzieren, dass sie den CO2-Ausstoß mindern.

    Wie meinen Sie das?
    Scheer: Ein alleiniger Fokus auf CO2 und übrigens auch auf die Atomenergie suggeriert, man könne den Klimawandel in den Griff bekommen, indem man CO2 aus der Atmosphäre entnimmt, ohne aber auch eine Abkehr von der Nutzung fossiler Ressourcen erreichen zu müssen. Der Fokus auf CO2 nutzt dabei interessanterweise eben jenen, die CO2 emittieren, da entsprechende Klimaschutzpolitiken anhand des Emissionshandels in erster Linie auf einen Umgang mit CO2 zielen, statt die Emissionen zu unterbinden. Damit bleibt die fossile Ressourcennutzung „mit am Tisch“.

    Und gestaltet die Zukunft mit?
    Scheer: Genau. Zwar wird auch die Vermeidung belohnt; Vermeidung ist aber beim Fokus auf CO2 nicht zwingend, solange aus wettbewerblichen Gründen nur ausreichend Dispens verlangt wird. Dies spiegelt auch die aktuelle Debatte erneut wider: Sobald der Emissionshandel „spürbar“ wird, werden Hilfen, werden weitere kostenlose Zertifkatezuteilungen, wird zeitlicher Aufschub verlangt. Gilt der Umgang mit CO2 einmal auch rechtlich betrachtet als Klimaschutz – und dies ist beim CO2-Handel der Fall –, ist es nur noch ein kleiner Schritt, diesen Umgang im Sinne von Klimaschutz auch staatlich zu fördern –, weil Klimaschutz ja nun mal eine Menschheitsaufgabe ist. Eine solche Förderung schafft aber unweigerlich eine ökonomische Konkurrenz zur echten Vermeidung von CO2 und damit auch eine Konkurrenz zu Erneuerbaren Energien. Diese politisch entstehende Konkurrenz wird viel zu wenig thematisiert. Zwar kennen die meisten den Begriff „klimaschädliche Subventionen“.

    Wenn es aber dann etwa darum geht, CCU – Carbon Capture and Utilization, also die Abscheidung und Nutzung von CO2 – und CCS – Carbon Capture and Storage, die Abscheidung und Speicherung von CO2 – als Beitrag zum Klimaschutz zu fördern, würden die wenigsten diesen Begriff im Kopf haben. Und bei der Frage nach generellen Energiesubventionen würden wohl die meisten an die Förderungen der Erneuerbaren denken. Dabei sind all die klimaschädlichen Subventionen, auch solche, die in Bezug auf CCU oder CCS eingesetzt würden, ebenfalls Energiesubventionen – mit dem einzigen Unterschied, dass sie an einem anderen Glied in der Wertschöpfungskette ansetzen. Der Fokus auf CO2 als Instrument des Klimaschutzes kann nur dann auch marktlich in Bezug auf die gesamte Wertschöpfungskette funktionieren, wenn es keinerlei Förderung von Technologien im Umgang mit CO2-Emissionsentstehung und dem Umgang mit CO2 gibt. Mit Förderung, egal an welcher Stufe der Wertschöpfung man ansetzt, hat es immer einen marktverzerrenden Effekt gegenüber den Vermeidungsalternativen, den erneuerbaren Energien.

    Dieser Effekt wirkt verharmlosend mit Blick auf die weiteren Folgewirkungen fossiler Ressourcen: Emittenten können zu Akteuren des Klimaschutzes werden, während sie weiter fossile Ressourcen im Energiesystem halten – Atomenergie eingeschlossen. Deswegen ist es so wichtig, beim Klimaschutz keine Verengung auf CO₂ vorzunehmen.

    Nina Scheer, Jahrgang 1971, ist seit 2013 Abgeordnete im Bundestag und Energiepolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Seit 2011 gehört sie der SPD-Grundwertekommission an. Sie hat abgeschlossene Studien in Musik (mit dem Hauptfach Violine) und Jura sowie in Politikwissenschaft promoviert. Vor Mandatsantritt arbeitete sie zuletzt mehrere Jahre als Geschäftsführerin von UnternehmensGrün eV. und hatte verschiedene Lehraufträge. 2018 initiierte Nina Scheer den Sozialdemokratischen Energiewende-Appell. Nina Scheer ist die Tochter des SPD-Energiepolitikers Hermann Scheer, einem der Architekten des Erneuerbare-Energie-Gesetzes (EEG).  Foto: Picture-Alliance/dts-Agentur

    Sogar der Weltklimarat IPCC vertritt die Auffassung, dass es ohne Kohlenstoffabscheidung und -speicherung im großen Maßstab nicht gelingen wird, den Klimawandel auf ein verträgliches Maß zu begrenzen.
    Scheer: CCU und CCS sind teuer. Und sie lösen nicht die Konflikte, die um die Nutzung endlicher fossiler Ressourcen entstehen. Ganz zu schweigen von den Eingriffen in die Umwelt, hätten wir auch nicht die immensen Speichermöglichkeiten, die für die großen Mengen an CO2 benötigt würden.

    Die Bundesregierung will CCS aber vorantreiben!
    Scheer: Ich empfinde es als einen schwerwiegenden Fehlgriff, dass die schwarz-rote Koalition sich auf die Anwendung von CCS auch an Gaskraftwerken verständigt hat – die Notwendigkeit des Ausschlusses an Gaskraftwerken hat die SPD-Bundestagsfraktion auch in einem Positionspapier zu Negativemissionstechnologien erläutert. Wir haben als Koalition nun allerdings lediglich die Ermöglichung dieser Anwendung vereinbart. Ob CCS je zur Anwendung bei Gaskraftwerken kommen wird, ist damit nicht entschieden. Förderungen sind ebenfalls nicht vereinbart. CCS erhöht zudem den Energieverbrauch. Solange dieser fossil ist, verschärft dies das Problem.

    2024 kamen fast 60 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Quellen. Der Anteil an der verbrauchten Primärenergie betrug jedoch nur rund 20 Prozent. Wie können wir diese Lücke schließen?
    Scheer: Wir müssen insbesondere im Wärme- und Verkehrsbereich vorankommen und konsequent Erneuerbare, Abwärme und Speicher nutzen. Den lokal und regional sehr unterschiedlichen Voraussetzungen muss mit ausreichend Förderungen begegnet werden. Und: Wir brauchen eine andere Finanzierung der Energienetze.

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    Uns steht eine echte Transformationsdekade bevor – und für die dürfen nicht allein die Stromkunden bezahlen

    Nina Scheer

    Was schwebt Ihnen vor?
    Scheer: Bisher läuft alles über Netzentgelte. Uns steht aber eine echte Transformationsdekade bevor. Die Verbraucher zahlen den Netzaus- und -umbau über die Energiepreise. Bedenkt man, dass wir in relativ kurzer Zeit die gesamte Energieinfrastruktur umkrempeln, wovon auch unsere Kinder in den nächsten Jahrzehnten profitieren werden, ist es mehr als naheliegend, diese Ausgaben, die wohl bei weit über 500 Milliarden Euro liegen werden, nicht die Stromkunden zahlen zu lassen. Ich halte das für eine staatliche Aufgabe. Autobahnen werden auch über Steuern finanziert.

    Die europarechtlich begründete geltende Festlegungskompetenz verlangt zwar, dass die Netzentgelte durch die Bundesnetzagentur ausgestaltet werden. Die Rechtslage schließt aber nicht aus, die Finanzierung von Netzausbau- und Netzumbau aus den Netzentgelten „herauszuschneiden“ und staatlich zu regeln.

    Beim Zuwachs an Erneuerbaren sind wir trotz großer Fortschritte noch nicht da, wo wir hinmüssen. Wie schaffen wir die Ausbauziele?
    Scheer: Es darf beim Hochlauf der Erneuerbaren nun zu keinen weiteren Fadenrissen kommen. Die aktuell geführte Strommengendiskussion ist ein Beispiel. Es wäre fatal, wenn durch veränderte Strombedarfsprognosen mittelbar ein Fragezeichen an den Ausbau der Erneuerbaren gesetzt würde – zumal die Strommengen ja auch einen Anreiz für mehr Speicher bieten, die wir dringend ins System bringen müssen. Wir brauchen nun beschleunigt den Ausbau und die Einbindung von Speichern wie Flexibilitäten, damit die fluktuierenden Erneuerbaren aufgefangen werden können und wir schnellstmöglich unsere Abhängigkeit von den fossilen Ressourcen, auch von Gaskraftwerken überwinden.

    Wenn man auf die Geschichte der Energiewende blickt, die auch Ihr Vater Hermann Scheer stark geprägt hat, zieht sich durch die Jahrzehnte eine Grundskepsis: Können die Erneuerbaren es wirklich? Wie erklären Sie sich das?
    Scheer: Ganz einfach: Es gibt nach wie vor genügend Interessensvertreter, denen diese Zweifel nutzen. Die Erzählungen von einer „Energiewende mit Augenmaß" oder dass man doch keine „Alleingänge" machen solle, nutzen denen, die gern ihre Investitionen in fossile Strukturen amortisiert sehen wollen. Man muss immer bedenken: Wenn im Gesamtenergiemix heute erst etwa 23 Prozent erneuerbar sind, sind 77 Prozent noch fossil. Das spiegelt sich auch in Interessenvertretung und Lobbying-Aktivität wider. So darf es nicht verwundern, wenn solche Zweifel nach wie vor Verbreitung finden, zumal auch manche Medienhäuser eine Nähe zu entsprechenden Interessensgruppen haben dürften.

    Bau eines Windparks im Rheinischen Braunkohlerevier: Es darf keine weiteren Fadenrisse geben, sagt Nina Scheer.

    Bau eines Windparks im Rheinischen Braunkohlerevier: Es darf keine weiteren Fadenrisse geben, sagt Nina Scheer.

    Das EEG wurde zum Exportschlager. Es wurde aber auch oft verändert und neu justiert. Sind dabei Fehler passiert?
    Scheer: Ja, auf der Wegstrecke sogar eine Reihe von – meines Erachtens durchaus gesteuerten – Fehlern. Viele wurden aber auch inzwischen wieder beseitigt. Sie dürfen nun nicht wiederholt werden.

    Woran denken Sie?
    Scheer: Etwa an die mengenmäßige Beschränkung des Windenergieausbaus aus Netzkapazitätsgründen. Hier gab es mit § 36c EEG 2017 sogenannte „Netzausbaugebiete“, womit – anders als es das Wording meinen lässt – nicht der Netzausbau vorangebracht wurde, sondern eine jährliche Mengenbeschränkung für Windenergieausbau eingeführt wurde. Der Energiewende wurde damit gleich in mehrfacher Hinsicht geschadet: Dem Ausbau, der gerade in Fahrt kam, wurde ein Dämpfer versetzt, für Investoren wurde es entsprechend unattraktiver, die positiven Skalierungseffekte wurden abgedämpft, die Arbeitsplatzzugewinne blieben aus, Know-how und Arbeitskräfte wanderten bzw. gingen verloren, Anreize für Speicher und Netzumbau wurden rausgenommen und die Option auf mehr sauberen Strom entsprechend eingeschränkt – ganz zu schweigen von der wettbewerblichen Lage. Man kann darüber streiten, ob der Auslöser nur eine verengte Effizienzbetrachtung war, oder ob die konventionelle Energiewirtschaft entsprechende Stichworte lieferte – oder sich beides gegenseitig ergänzte.

    Auch der unter Schwarz-Gelb eingeführte 52-Gigawatt-Solardeckel wurde (2021, noch unter Schwarz-Rot) gerade noch rechtzeitig beseitigt, bevor er erreicht war. Kritisch sehe ich das Prozedere und das Ausmaß der damals eingeführten Ausschreibungen für Windenergie, die so übrigens vom damaligen Koalitionsvertrag nicht gedeckt waren. In der 18. Legislaturperiode [2013 bis 2017, es regierte eine Große Koalition, Anm. d. Red.] habe ich aus eben diesen Gründen bei der EEG-Novelle mit Nein gestimmt. Lieber wäre es mir allerdings gewesen, ich hätte in der Koalition durchsetzen können, dass entsprechende Änderungen unterbleiben.

    Ist das Ideal einer dezentralen Energiewende noch lebendig – oder haben große Windparks und Freiflächenfotovoltaik dieser Vision den Rang abgelaufen?
    Scheer: Ja, unbedingt ist es noch lebendig! Wir sehen das etwa an Balkonkraftwerken, Genossenschaftsprojekten oder Quartierskonzepten. Entscheidend ist, dass wir nun mit verbesserter Netzauslastung, Überbauungen und Speichern vorankommen. Wenn der aktuelle Versorgungsbericht der Bundesnetzagentur eine gigantische Zahl von systemisch benötigten Gigawatt aufzeigt, zugleich aber die „um Einlass bittenden“ Batteriespeicher nicht zum Zuge kommen und installierte erneuerbare Energie aus Netzengpassgründen abgeregelt wird sowie Bioenergieleistung verloren zu gehen droht, zeigt dies, was zu tun ist.

    Interessant ist auch, dass Katherina Reiche auf ihrem jüngsten Besuch in der Ukraine zugesagte Hilfen für die Energieinfrastruktur „dezentral“ verstehen möchte. Da kann ich ihr nur recht geben. Wenn es auf Sicherheit im Energiesystem ankommt, ist die Dezentralität der Schlüssel. Allerdings: Das gilt nicht nur für Kriegsgebiete, sondern auch präventiv und zur Steigerung von auch systemischer Resilienz, mithin: Es gilt generell.

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    Entscheidend ist der interdisziplinäre Blick. Es hilft rein gar nichts, nur auf die physikalische Effizienz zu blicken

    Nina Scheer

    Auf welche erneuerbare Energiequelle setzen Sie persönlich? Gerade beim Ausbau der Solarenergie gibt es ja durchaus Kontroversen ...
    Scheer: Entscheidend ist der interdisziplinäre Blick. Es hilft rein gar nichts, nur auf die physikalische Effizienz zu blicken. Es muss immer zugleich in den Fokus: Von welchen Ressourcen mache ich mich mit welcher Technik abhängig? Welche Arbeitskräfte werden wo gebunden? Welche Wertschöpfung löst dies wo aus? Was bedeutet das für lokale Akteure? Wie wirkt sich der Zuwachs an Erneuerbaren auf das Gemeinschaftsgefühl aus? Bei wem landen welche Gewinne? Wie begegne ich Verhetzungspotenzialen?

    Verhetzungspotenziale?
    Scheer: Es ist geradezu grotesk, wenn unter Verweis auf Physik und ökonomisch begründet bei Fotovoltaikdachanlagen auf die Bremse getreten werden soll. Selbst wenn der Quadratmeter auf der Fläche rein physikalisch und in Cent mehr Ertrag bringt: Auch dieser Quadratmeter muss erst entstehen und verlangt die Verfügbarkeit von Fläche, Akteure, Investitionsbereitschaft und so weiter. Wir können es uns nicht leisten, auf die Dachbesitzer zu verzichten, die gern zu Akteuren der Energiewende werden wollen – und auch nicht auf ihre Dächer. Fotovoltaik auf der Fläche muss ohne Wenn und Aber vorangebracht werden – aber definitiv nicht zulasten der Dachflächen. Es ist für die Energiewende hinderlich, die Potenziale gegeneinander auszuspielen.

    Ein anderes Beispiel ist die Bioenergie: Es kursieren Schlechterstellungen für Biomasse. Es wäre fatal, auf diese Quelle nun teilweise zu verzichten, zumal sie noch weiter zu hebende Flexibilitätspotenziale enthält und vor Ort für Versorgungskonzepte steht. Möglicherweise würde dann stattdessen hier und da wieder auf Erdgas umgestiegen. Gleiches gilt insbesondere in Bayern für die Wasserkraft. Im Bundesdurchschnitt sind die Zahlen zu vernachlässigen. Aber würden wir deswegen bundesseitig die Wasserkraft aufkündigen, wäre das für Bayern ein Rückschritt in der Energiewende. Solar und Wind sind dabei klar die Säulen – in Kombination mit Flexibilitäten und Speichern. Je besser es vor Ort als Gemeinschaftsaufgabe gelingt, desto stabiler wird das Gebäude. Und: Weil sich viele Menschen einbringen können, stärkt die Energiewende auch die Demokratie.

    In Fragen der Verhetzung gibt es zudem Kräfte, die gezielt gegen Erneuerbare hetzen und auch bestehende Herausforderungen entsprechend zu nutzen wissen. Auch deswegen ist es – jenseits von der systemischen Aufgabe – zum Beispiel immens wichtig, heute abgeregelten Strom nutzbar zu machen, statt Windkraftanlagen stillstehen zu lassen.

    Tunnel des Suedlink-Kabels an der Elbe: Der Netzausbau ist eine Generationenaufgabe, sagt Nina Scheer.

    Tunnel des Suedlink-Kabels an der Elbe: Der Netzausbau ist eine Generationenaufgabe, sagt Nina Scheer.

    Erneuerbare produzieren konkurrenzlos günstig Strom, die Rechnungen privater Haushalte sind aber weiterhin hoch. Wie lässt sich das ändern?
    Scheer: Wir müssen, so schnell es geht, von den teuren Gaskraftwerken loskommen, die in der Merit Order für die hohen Preise stehen. Zudem plädiere ich, wie schon erläutert, für eine grundlegende Reform der Netzentgelte.

    In Ihrer Partei, der SPD, gab es lange eine starke Fraktion, die sich für Gasimporte aussprach. Hat der russische Angriff auf die Ukraine zu einem nachhaltigen Umdenken geführt?
    Scheer: Es hat in der SPD lange Kräfte gegeben, die mit Blick auf die in den Kohlerevieren arbeitenden Menschen hier eine entsprechende Notwendigkeit der verlängerten Nutzung sahen. Dabei habe ich über meine aktiven Jahre zumindest einen äußerst starken Einfluss insbesondere vonseiten der IGBCE vernommen. Diese Kräfte gibt es auch heute noch, wobei Sorgen vor nicht schritthaltendem Strukturwandel und die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie benannt werden.

    Seit einigen Jahren haben wir in der SPD aber – auch aus arbeitsplatzsichernder Perspektive – eine klare und auch beschlussseitig getragene Position für den Vorrang der Erneuerbaren, was sich übrigens auch über die Grundwerte „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ begründet: Es geht um für alle Menschen verfügbare wie bezahlbare und damit „gerechte“, da erneuerbare Energie – im Einklang mit den Lebensgrundlagen. Solidarisch gegenüber nachfolgenden Generationen sowie zugunsten von Freiheit durch überwundene Abhängigkeiten.

    Die Energiewende hat nicht nur eine technische und politische, sondern auch eine soziale Dimension. Wie lässt sich sicherstellen, dass sie sozial gerecht gestaltet wird?
    Scheer: Indem wir nicht zu abstrakt diskutieren. Zwar treffen uns die Folgen des Klimawandels durch Extremwetterereignisse auch in Europa bereits spürbar. Dennoch bleibt der Klimaschutz für viele eine abstrakte Größe. Zudem darf es nicht zu Maßnahmen kommen, die ungerecht wirken, zumal erwiesenermaßen mit steigendem Einkommen und Vermögen – beziehungsweise auf Staaten bezogen: mit dem Grad der Industrialisierung – auch die Emissionsverantwortlichkeit steigt.

    Was schlussfolgern Sie daraus?
    Scheer: Dass es umso wichtiger ist, den Fokus auf die Energiewende zu legen: Den Menschen muss die Energiewende ermöglicht werden – einfach, sofort und in allen Bereichen. Es muss ein Benefit für die Menschen sein. Oder mit Professor Mojib Latif gesprochen: „Klimaschutz muss Spaß machen.“

    Spaß ist schön und gut, aber geht es nicht auch um Verzicht oder wenigstens um die Verantwortung eines jeden Einzelnen?
    Scheer: Nach meiner festen Überzeugung sind die Menschen auch zu Einschränkungen bereit und nehmen dies nicht als Verzicht wahr, wenn es dabei nur gerecht zugeht und alle verhältnismäßig gleichermaßen betroffen sind. Wenn Reiche weiter unbekümmert fliegen und heizen können, Ärmere aber bereits beim ÖPNV tief in den Geldbeutel schauen müssen, funktioniert es nicht. Deswegen ist auch der Infrastrukturumbau, die Gewährleistung von Teilhabe im Sinne einer staatlichen Aufgabe, so bedeutsam. Und wenn es im Winter in Deutschland keine eingeflogenen Erdbeeren gäbe – für niemanden –, wäre das sicher für die Allermeisten okay. Vielen würde es möglicherweise noch nicht einmal auffallen.

    Die Fragen stellte Nils Husmann. Das Interview wurde schriftlich geführt.

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