Energiewende in Schottland

  • Search05.06.2022

Im Takt von Wind und Wellen

Die Schotten sind dem übrigen Vereinigten Königreich beim Ökostrom-Ausbau weit voraus. Zu verdanken haben sie das ihren windumtosten Küsten – und ihrem zupackenden Spirit. Eine Reise in den Norden.

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    Windpark südlich von Glasgow: Schottland deckt rund 40 Prozent seines Strombedarfs mit Windrädern an Land und auf See.

    Windpark südlich von Glasgow: Schottland deckt rund 40 Prozent seines Strombedarfs mit Windrädern an Land und auf See.

     

    Von Nicola de Paoli

    Am Vorabend des Folkmusik-Festivals auf den Orkneyinseln ist die kleine Gemeindehalle der Ortschaft Finstown bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf der Bühne stimmt die Band Fara die Geigen für den nächsten Song. „Unser neues Album heißt Energy Island, weil erneuerbare Energie ein wichtiges Thema ist”, sagt eine der Musikerinnen. „Wie ihr wisst, gibt es auf den Orkneys viel Wind und Wellen.” Im Publikum ist Gelächter zu hören; jedermann im Saal weiß, wovon sie spricht. In dem Song, der nun folgt, geht es um den Wind. In Schottland werden den erneuerbaren Energien neuerdings Songs gewidmet.

    Man muss kein Folkfan sein, um zu wissen, dass Wind und Wellen nicht nur auf den Orkneyinseln, sondern in ganz Schottland im Überfluss vorhanden sind. Das Land spielt für die britische Energiewende daher eine zentrale Rolle. Schon macht der Spruch die Runde, Schottland sei das „Saudi-Arabien der Windenergie“: Ähnlich wie der Persische Golf alle Welt mit Erdöl versorgt, soll Schottland nun das Gleiche mit Erneuerbaren tun. Das 5,5-Millionen-Einwohner-Land an der Nordspitze der britischen Inseln könnte zu einem führenden Energieexporteur werden.

    Strommix in Schottland sowie in England und Wales: Die Statistik zeigt den Anteil erneuerbarer Energie am Stromverbrauch 2021. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Mehr als die Hälfte des schottischen Stromverbrauchs wurde im vergangenen Jahr durch erneuerbare Energien gedeckt. Die Windkraft ist die mit Abstand größte Quelle.

    Es ist dabei nicht allein der Wind an Land und auf See, auf den sich der Blick richtet. Auch die Energie von Wellen und Gezeiten soll eine Rolle spielen. Sie wird im European Marine Energy Centre (EMEC) erforscht, einem Testzentrum in der Ortschaft Stromness auf der Hauptinsel des Orkney-Archipels. Das Institut bietet seinen Kunden die Chance, Pilotanlagen unter echten Bedingungen in den Gewässern vor Orkney zu testen und genießt international einen guten Ruf. Das Potenzial der Technologie sei riesig, sagt eine EMEC-Sprecherin.

    Die Gezeiten lassen sich vorausberechnen – und damit auch der Stromertrag

    Einen Schritt mit Signalwirkung machte die Gezeitenenergie vor rund zwei Jahren, als das Cleantech-Start-up Orbital Marine Power eine Testanlage nach Orkney brachte: Orbital O2 ist mit 680 Tonnen Gewicht und einer Leistung von zwei Megawatt das größte Gezeitenkraftwerk weltweit. Sobald es einsatzbereit ist, soll es pro Jahr rund 2000 Haushalte mit Strom versorgen und gleichzeitig 2200 Tonnen Kohlendioxid einsparen.

    Der Vorteil von Wellen- und Gezeitenenergie ist, dass die Anlagen im Gegensatz zu Solar- und Windanlagen durchgängig Strom liefern – nicht nur bei passendem Wetter. Gezeitenenergie ist dabei besonders attraktiv, weil sich die Gezeiten verlässlich vorausberechnen lassen und damit auch die Menge an produziertem Strom. Im November kündigte die britische Regierung an, künftig 20 Millionen Pfund pro Jahr in die Technologie zu investieren.

    Gezeitenkraftwerk Orbital O2: Die Anlage mit einer Leistung von zwei Megawatt wird vor den Orkney-Inseln in Schottland getestet.

    Das Gezeitenkraftwerk Orbital O2 wird auf einer versenkbaren Schwimmplattform zum Test vor den Orkneys transportiert.

    Die Menschen in Schottland nehmen die Dinge gern selbst in die Hand, auch in der Energiewende. Exemplarisch für ihren Spirit steht ein Projekt auf der kleinen Insel Eigg, 24 Kilometer vor der Westküste. Dort leben nur 110 Menschen, es geht beschaulich zu. Im Jahr 2008 allerdings sorgte Eigg für Schlagzeilen über die Landesgrenzen hinaus. Mit viel Elan und Ehrgeiz hatten sich die Insulaner in der Energieversorgung vom Festland weitgehend unabhängig gemacht.

    Mithilfe von Windenergie, Wasserkraft und Fotovoltaik erzeugt die Insel rund 95 Prozent des benötigten Stroms selbst, sagt Susan Hollands vom Unternehmen Eigg Electric Ltd. Für den Fall, dass einmal nicht genug Energie vorhanden ist, steht als Notlösung ein Dieselgenerator bereit. Unterstützt und gefördert werden Projekte wie auf Eigg mit staatlichem Geld von der Agentur Community Energy Scotland (CARES).

    Windkraft verspricht Unabhängigkeit – ein echtes Argument auf einsamen Inseln

    Es ist Teil der Mentalität vieler Schotten, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen: In der Abgeschiedenheit der Highlands oder auf den Hebrideninseln sind die Menschen gewohnt, bei technischen Problemen selbst anzupacken, weil sie andernfalls oft nicht auf schnelle Abhilfe zählen können. Zu den Bewohnern von Eigg, die für die Energieversorgung der Insel Verantwortung übernommen haben, zählen Landwirte, Rentner, ein Skipper und eine Verkäuferin.

    Energiewende, Marke Eigenbau: Auf Eigg westlich von Schottland haben die Insulaner Windräder aufgestellt.

    Energiewende, Marke Eigenbau: Auf Eigg vor der Westküste haben die Insulaner Windräder aufgestellt.

    Was sich mit der Gezeitenenergie auf den Orkneys und den Windrädern von Eigg im Kleinen beobachten lässt, schafft die Offshore-Windenergie bereits im Großen. Vor allem vor der schottischen Ostküste drehen sich zahlreiche Windräder auf See, weitere Parks sind in Bau oder in Planung. Die britische Regierung hat das Ziel ausgerufen, 2030 bis zu 50 Gigawatt mithilfe von Offshore-Wind zu produzieren. Das wäre rund die Hälfte der Kapazität an erneuerbarer Energie in Großbritannien.

    Neben fest im Meeresboden verankerten Windparks spielen dabei auch schwimmende Anlagen (Floating-Wind) eine Rolle. Rund 30 Kilometer draußen auf dem Meer wurde der weltweit erste kommerzielle schwimmende Windpark Hywind Scotland verankert. „Wir glauben daran, dass Schottland das Potenzial hat, eine weltweit wettbewerbsfähige Offshore-Windindustrie zu bauen“, sagte Sebastian Bringsværd vom norwegischen Betreiberkonzern Equinor.

    Offshore-Windenergie in Schottland: Die Karte zeigt die Lage und Leistung der bis Februar 2022 in Schottland gebauten Offshore-Windparks. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Die Schotten profitieren dabei von ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in der Öl- und Gasförderung. Aberdeen nennt sich gern die „Hauptstadt der Ölindustrie in der Nordsee“. Hier weiß man, wie man mit den harschen Bedingungen auf dem Meer umgeht, mit neun Meter hohen Wellen und salzhaltiger Luft, die die Ausrüstung angreift. Weltweit gebe es kaum andere Standorte mit ähnlich idealen Verhältnissen zum Aufbau einer Offshore-Windindustrie, sagt Meinolf Otto von der schottischen Wirtschafts- und Investitionsvereinigung Scottish Development International (SDI): „Was vor den schottischen Küsten geschieht, ist bedeutsam für die Energiewende in ganz Europa.“ Das Land könne einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, den Kontinent aus der Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu führen, sagt Otto.

    Schottland setzt auf grünen Wasserstoff – auch zum Export auf den Kontinent

    Doch mit dem Bau von Windparks und Gezeitenkraftwerken, von Geothermieanlagen oder Solarparks allein ist es nicht getan. Es braucht auch eine Infrastruktur, um die erzeugte Energie zu den Verbrauchszentren zu bringen, sei es auf dem schottischen Festland oder auf dem europäischen Kontinent. Vor allem in die Windenergie und in grünen Wasserstoff sollen Milliardeninvestitionen fließen.

    Schottland rückt zunehmend in den Fokus der Offshore-Windenergie. Das Foto zeigt einen Dudelsackspieler vor einem Windenergietestfeld bei Aberdeen.

    Schottland rückt in den Fokus der Offshore-Windenergie: Dudelsackspieler vor einem Windenergietestfeld bei Aberdeen.

    Wind und Wasserstoff anstelle der versiegenden Ölquellen in der Nordsee: Kein Ort versinnbildlicht diesen Wandel besser als Flotta. Die knapp neun Quadratkilometer große Insel hat bislang nur einmal von sich reden gemacht. Das war im Jahr 1919, als sich die deutsche Marine unweit der Küste selbst versenkte. In den 1970er-Jahren wurde bei Flotta ein gewaltiges Ölterminal gebaut.

    Genau hier soll nach den Plänen der Betreiber gegen Ende dieses Jahrzehnts Wasserstoff aus Ökostrom produziert und exportiert werden. Er könnte auf Frachtschiffen verladen oder über eine Pipeline zum europäischen Festland transportiert werden, um dort einen Beitrag zur Energiewende zu leisten. Schottlands Vergangenheit ist geprägt vom schwarzen Gold. Die Zukunft ist grün.

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