Faszinierendes Prinzip: Schlangenförmige Wellenkraftwerke wie diese inzwischen verschrottete Anlage in Schottland liegen quer zum Wellenkamm im Wasser. Ihre Glieder folgen dem Auf und Ab der Wogen und geben die Bewegung an Generatoren weiter.
Wellen- und Gezeitenkraftwerke
- 19.02.2019
Strom vom Seeungeheuer
Von Robert Otto-Moog
Das Zukunftsversprechen des globalen Energiemarkts tauchte vor gut zehn Jahren in der aufgewühlten Nordsee vor den schottischen Orkney-Inseln auf: eine 180 Meter lange Seeschlange aus rotem Stahl, 1300 Tonnen schwer. Das Ungetüm war das modernste Wellenkraftwerk der Welt, mitfinanziert vom Essener Energieversorger Eon. Branchenkenner prophezeiten der Technologie eine große Zukunft, schließlich war die Idee dahinter bestechend: Welche Energiequelle steht schon so beständig und in so vielen Teilen der der Welt zur Verfügung wie Meereswellen? Der an dem Projekt beteiligte Eon-Manager Amaan Lafayette war sich 2009 jedenfalls sicher: Wellenkraft werde „das große Ding auf dem Energiemarkt von 2020“ sein.
Er sollte sich täuschen. 2017 kaufte die örtlichen Behörden die Seeschlange, um sie zu verschrotten. Da war Eon längst aus dem Projekt ausgestiegen und der Entwickler des Meereskraftwerks insolvent.
Die schottische Seeschlange ist nur eines aus einer ganzen Reihe von Beispielen, in denen hoffnungsvolle Start-ups und große Konzerne versucht haben, die Kraft des Meeres zu nutzen. Eons Investition fiel in eine Zeit, in der regelrechte Goldgräberstimmung herrschte. 2012 attestierte der Weltklimarat allein der Wellenkraft ein theoretisches Energiepotenzial von jährlich 29.500 Terawattstunden (TWh) – fast das Fünfzigfache des Stromverbrauchs in Deutschland.
Und dabei sind Wellen nicht einmal die einzige Kraftquelle im Meer: Hinzu kommt die Energie, die aus Ebbe und Flut gewonnen werden kann, aus Meeresströmungen oder aus unterschiedlichen Salzgehalten im Wasser. Alle Segmente versprechen satte und vor allem gut berechenbare Erträge. Besonders Strömungen sind hervorragend prognostizierbar.
Genutzt wird die Energie aus dem Meer allerdings kaum. Warum ist das so?
Eon, RWE, EnBW, Siemens, Voith: Sie alle haben in Meereskraftwerke investiert
„Es wurden Ende der 90er-Jahre unglaublich hohe Erwartungen geweckt, dass man die Technologien schnell zur Marktreife bringt“, sagt Jochen Bard vom Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik in Kassel. Der Physiker forscht seit 20 Jahren zum Thema Meeresenergie. „Viele Unternehmen haben die Herausforderungen unterschätzt“, sagt er. Mit gravierenden Folgen: Nicht nur Eon versenkte sein Projekt im Meer.
RWE beispielsweise installierte 2010 zusammen mit dem baden-württembergischen Turbinenhersteller Voith eine rund 13 Millionen Pfund teure Strömungsturbine vor der schottischen Küste. Voith lieferte auch Teile für das erste kommerzielle Wellenkraftwerk, das seit 2010 in Mutriku an der baskischen Küste 250 Haushalte versorgt. Siemens übernahm 2012 die Firma Marine Current Turbines (MCT) aus Bristol, die Gezeitenturbinen baut. Und der Karlsruher Energieversorger EnBW kündigte 2006 sogar an, in Niedersachsen das erste deutsche Meeresenergiekraftwerk zu bauen.
Was diese Unternehmen eint: Sie haben sich alle aus dem Markt zurückgezogen. Voith baut seine Turbinen lieber für Wasserkraftwerke statt für die Wellen- und Gezeitenkraft, Siemens trennte sich 2015 von MCT, Eon konzentriert seine Aktivitäten im Bereich erneuerbare Energien genauso wie EnBW auf Wind- und Solarenergie. Die Pläne für das Kraftwerk in der Nordsee scheiterten 2008 vor allem an der notwendigen Wellenhöhe, heißt es bei EnBW. „Ich glaube, dass alle Entwickler von Meeresenergiesystemen irgendwann einsehen mussten, dass der Weg zum Erfolg sehr viel komplizierter ist als Anfangs gedacht“, sagt Axel Bochert, Leiter des Studiengangs Maritime Technologien an der Hochschule Bremerhaven.
Im regulären Betrieb sind heute vor allem Meereskraftwerke, die ihre Energie aus den Gezeiten schöpfen – weltweit existieren aktuell sechs davon. Das älteste und lange Zeit größte arbeitet seit 1966 in Rance in der Bretagne. Weitere folgten in Russland, China, Kanada und Südkorea. In Großbritannien kippte die Politik im vergangenen Sommer den Bau einer sogenannten „Lagune“ vor der walisischen Küste, die 1,3 Milliarden Pfund kosten sollte. „Gezeitenkraftwerke funktionieren nur, wenn man sie sehr groß baut“, sagt Physiker Bard. Entsprechend hoch sind Baukosten und Risiken – der wohl entscheidende Punkt, warum die Technologie den Durchbruch bisher nicht geschafft hat.
Trotzdem hält Axel Bochert die Stromerzeugung aus Gezeitenströmungen für die vielversprechendste Form der Meeresenergienutzung – auch wenn sich noch keine bestimmte Technologie durchgesetzt hat und die Einsatzorte begrenzt sind. In Deutschland zum Beispiel komme sie nicht in Frage.
In Großbritannien ist das Potenzial für Gezeitenkraftwerke besonders groß
Ganz anders sieht das auf den britischen Inseln aus, wo sich viele Orte für Wellen- und Gezeitenkraftwerke eignen würden. Bislang sind entsprechende Projekte über den Forschungsstatus allerdings nicht hinausgekommen. „Entwicklungstechnisch hinken die Meeresenergien der Windenergie um mindestens 20 Jahre hinterher“, sagt Bochert. „Diese Zeit müssen wir den Meeresenergien auch noch geben.“
Die Frage ist aber, wer das finanziert.
Von den etablierten Energiekonzernen ist das derzeit zumindest nicht zu erwarten. „Wellenkraftwerke sind im Vergleich zu anderen Technologien nicht wirtschaftlich“, sagt Eon-Sprecher Markus Nitschke. Die Entwicklung bei Solar- und Windkraft habe einen Vorsprung, „mit dem kommt alles andere nicht mehr mit“. Auch für Siemens ging die Entwicklung des Marktes nicht schnell genug.
Die Branche ist in einer Situation wie die Windkraft in den 80ern
Bochert sieht dabei „erstaunliche Parallelen“ zu den Anfängen der Windenergie in den 80er-Jahren, als die öffentlich geförderte Windkraftanlage Growian zum Reinfall wurde, der viele Investoren abschreckte. Wie damals müssten heute auch in der Meeresenergie vor allem Enthusiasten die Entwicklung vorantreiben.
Auch Forscher Bard glaubt, dass kleine Projekte den Weg ebnen werden. „Inselprojekte im wahrsten Sinne des Wortes“, sagt er. Dort, wo die Stromgestehungskosten ohnehin hoch seien, könne die verhältnismäßig teure Meeresenergie zur ernsthaften Alternative werden – beispielsweise auf den Kap Verden. Dort will das Start-up Sinn Power aus München mit „handlichen“ Wellenkraftwerken umweltschädliche Dieselaggregate ersetzen.
Wenn sich die Parallelen zur Windenergie bestätigen, sagt Bochert, steigen in 20 Jahren auch die großen Konzerne wieder ein. „Wir müssen also darauf vertrauen, dass die Enthusiasten durchhalten, bis diese Einsicht kommt.“
Vielleicht liegt die Zukunft des europäischen Energiemarkts dann wirklich in der aufgewühlten Nordsee.