Multiple Krisen

  • Search12.02.2023

Warum alles mit allem verbunden ist – und wie Wale das Klima schützen

Der Klimawandel verschärft das Artensterben und befeuert globale Konflikte, er führt zu Armut, Migration und Pandemien. All diese Krisen hängen zusammen – sie lassen sich nicht unabhängig voneinander lösen.

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    Blauwale sind Klimaschützer: Mit ihren Ausscheidungen fördern sie das Wachstum von Phytoplankton, das CO2 aufnimmt. Außerdem speichern sie selbst CO2 in ihren Körpern.

    Gärtner der Meere: Blauwale bringen mit ihren Ausscheidungen das Leben in den Ozeanen zum Erblühen.

     

    Von Volker Kühn

    Die Geschichte des wohl größten Tieres, das die Erde je hervorgebracht hat, ist schrecklich und wunderbar zugleich. Sie ist eine Tragödie und eine Erzählung der Hoffnung, sie berichtet von der Gier des Menschen und von seiner Fähigkeit zur Einsicht, und sie zeigt, wie alles auf diesem Planeten mit allem verbunden ist. Es ist die Geschichte des Blauwals.

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    I. Blauwal, Krill und Phytoplankton: Artenschutz ist Klimaschutz

    Die majestätischen Riesen durchziehen die Ozeane seit vier Millionen Jahren, manche 30 Meter lang und 200 Tonnen schwer. Hunderttausende von ihnen gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Schleuderten Walfänger von ihren wackeligen Booten Harpunen nach ihnen, entkamen die schnellen Tiere meist.

    Das industrielle Abschlachten begann erst, als ein Norweger 1864 die Harpunenkanone erfand. Sie feuerte Sprengladungen ab, die im Walkörper explodierten und Schwefelsäure freisetzten, woran der Wal verendete. Den Kadaver pumpten die Jäger mit Druckluft auf, damit er nicht versank.

    Mindestens 380.000 Blauwale wurden so allein im 20. Jahrhundert erlegt, dazu rund eineinhalb Millionen anderer Großwale. Ihre Körper lieferten Fleisch, vor allem aber Tran für Lampenöl, Schmierstoffe, Margarine oder Seife. In den 1960er-Jahren gab es höchstens noch 3000 Blauwale. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Art ausgerottet sein würde.

    Dass es nicht dazu kam, hat zwei Ursachen; die eine ist ernüchternd, die andere ermutigend. Zum einen lohnte sich der Aufwand für die kommerzielle Jagd umso weniger, je seltener die Wale wurden. Zum anderen nahm die erwachende Umweltbewegung den Kampf für das Überleben der intelligenten Tiere mit ihrem ausgeprägten Sozialverhalten auf. Sie machte den Wal zum Symboltier für den Naturschutz; das Massenschlachten in den Meeren ließ sich öffentlich bald kaum noch vermitteln. Beides führte 1986 zum Stopp des Walfangs.

    Seither erholen sich die Bestände. Heute ziehen wieder bis zu 25.000 Blauwale umher, die Großwale insgesamt werden auf 1,3 Millionen geschätzt. Ihre Rückkehr belegt, mit welch unbändiger Kraft sich die Natur regeneriert, wenn der Mensch ihr den Raum dazu lässt. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen für den Artenschutz.

    Und für den Klimaschutz.

    Denn der Blauwal hält noch weitere Lehren bereit, die erst allmählich verstanden werden. Der Biologe und Autor Lothar Frenz schildert sie in seinem wunderbaren Buch „Wer wird überleben? Die Zukunft von Natur und Mensch“.

    Für Frenz sind Blauwale „die Gärtner der Meere“. Vor Beginn der industriellen Jagd haben sie jährlich 150 Millionen Tonnen Krill vertilgt. Das übertrifft die Biomasse der gesamten jährlichen Fischerei. Nach dem Tod Hunderttausender Blauwale vermehrte sich der Krill aber nicht etwa, wie es beim Verschwinden des größten Krillvertilgers zu vermuten gewesen wäre. Zur allgemeinen Überraschung nahm die Menge ab.

    Blauwal vor der kanadischen Küste: Das größte Säugetier der Welt ist ein „Gärtner der Meere“ – es fördert mit seinen Ausscheidungen das Wachstum von Phytoplankton.

    Bis zu 25.000 Blauwale leben wieder in den Ozeanen.

    Heute weiß man, woran das liegt: Dem Krill fehlte die Grundlage, das Phytoplankton. Diese winzigen Algen stehen am Anfang der Nahrungskette in den Ozeanen. Sie wiederum benötigen eisenreiches Wasser, um zu wachsen – und das lieferten ihnen die Ausscheidungen der vom Krill vollgefressenen Blauwale. Mit diesem Dünger reicherten die Gärtner der Meere das Eisen im Wasser mindestens zehnmillionenfach an und trugen so zum Algenwachstum bei.

    Phytoplankton ist aber nicht nur Grundlage der Artenvielfalt im Meer, es kommt auch dem Klima zugute. Denn die Algen betreiben Photosynthese, und das in erstaunlichem Ausmaß. Sie produzieren schätzungsweise die Hälfte des Sauerstoffs in der Atmosphäre und wandeln jährlich 37 Milliarden Tonnen CO2 in organisches Material um. Selbst der Amazonas, die grüne Lunge der Erde, ist nicht annähernd so produktiv. Blauwale sind folglich Klimaschützer. „Je mehr Phytoplankton dank der Wale in den Ozeanen schwimmt, desto mehr Kohlenstoff entnimmt es der Atmosphäre“, schreibt Frenz.

    Obendrein schützen sie das Klima nicht nur indirekt als Düngerlieferanten. Sie binden in ihren gewaltigen Körpern auch selbst CO2. Auf 33 Tonnen je Tier haben Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) die Menge 2019 geschätzt. Ein 100 Jahre alter Baum dagegen kommt gerade mal auf zwei Tonnen. Sinken die Wale nach ihrem Tod auf den Meeresgrund, bleibt das CO2 dort, weil es mit dem Tran in den Boden sickert oder von Tiefseekreaturen aufgenommen wird. Großwale leben lassen – das ist dem IWF zufolge Klimaschutz mit unschlagbarem Preisleistungsverhältnis.

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    II. Irak, Syrien und Ukraine: Klimaschutz ist Friedensschutz

    Am 5. Februar 2003 legte Colin Powell einen der bemerkenswertesten Auftritte in der Geschichte der UN-Sicherheitskonferenz hin. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit zog der US-Außenminister ein Röhrchen mit einer weißen Substanz aus seiner Tasche. In solchen Gefäßen könne Anthrax transportiert werden – ein Nervengift, das erwiesenermaßen Teil des Arsenals an Massenvernichtungswaffen des irakischen Diktators Saddam Hussein sei, erklärte Powell.

    Diese Waffen besaß der Irak in Wirklichkeit nicht. Doch die Lüge hielt US-Präsident George W. Bush nicht davon ab, sechs Wochen später den Befehl zum Angriff auf das Land zu geben.

    Worum es in dem Krieg tatsächlich ging, war aus Sicht der globalen Friedensbewegung klar. „No blood for oil“, „Kein Blut für Öl“ stand auf den Plakaten, mit denen Menschen in vielen Ländern der Welt gegen den US-Einmarsch demonstrierten. Das Kriegsziel der USA sei die Kontrolle der irakischen Ölfelder.

    „Kein Blut für Öl“: Junge Menschen demonstrieren 2003 in Hamburg gegen den Irakkrieg. Fossile Rohstoffe wie Öl befeuern Kriege weltweit.

    Antikriegsdemo in Hamburg 2003: Fossile Rohstoffe befeuern bewaffnete Konflikte.

    Fossile Rohstoffe standen immer wieder im Zentrum bewaffneter Konflikte. Der Krieg zwischen Iran und Irak 1980 bis 1988, die Golfkriege 1990/91 und 2003, der Bürgerkrieg im Sudan 1983 bis 2005, sie alle wurden befeuert vom Kampf um Öl. An fossilen Rohstoffen entzünden sich Konflikte, das belegt auch der Global Peace Index. Demnach sind Ölstaaten häufiger in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt als Länder ohne eigene Vorkommen.

    Für Wissenschaftler wie Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist die Abkehr von Öl, Gas und Kohle daher zwingend, um die Gefahr von Konflikten zu mindern. Wer nicht darauf angewiesen ist, bei Autokraten und Diktatoren vom Golf bis nach Russland zu kaufen, nimmt ihnen Macht, Geld und Einfluss. Der Kriegsmaschinerie geht sprichwörtlich der Sprit aus. Die Energiewende ist für Kemfert deshalb „das beste Friedensprojekt der Welt“.

    Von Klimaschutz und erneuerbaren Energien profitieren zudem auch Konfliktregionen, die nicht auf großen Rohstoffvorkommen sitzen. Das zeigt Syrien, wo seit 2011 ein Bürgerkrieg wütet. Das einst vergleichsweise fruchtbare Land wurde von 2006 bis 2010 von einer dramatischen Dürre geplagt. Ackerboden wurde zu Wüste, das Vieh verendete, Hoffnungslosigkeit machte sich breit, der Streit um Wasser verschärfte ethnische Konflikte. Es war eine Lage, in der der „Islamische Staat“ leichtes Spiel hatte. Die Klimakrise wirkte sich so als Katalysator bestehender Konflikte aus.

    Auch den russischen Überfall auf die Ukraine sieht Kemfert als fossilen Energiekrieg, schon weil der Westen lange Zeit Russlands Kriegskasse durch den Kauf von Gas und Öl füllte. Nur Unabhängigkeit von fossilen Energien durch eine Versorgung mit Erneuerbaren verhindere, dass Länder wie Deutschland zum Spielball geopolitischer Interessen würden.

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    III. Zwillingskrisen, Drillingskrisen, Vierlingskrisen

    Artenschutz ist Klimaschutz, aber es gilt auch andersherum: Wer den Klimawandel bremst, verhindert, dass Tiere und Pflanzen ihren Lebensraum verlieren und aussterben. Die Artenkrise und die Klimakrise sind zwei Seiten derselben Medaille oder „Zwillingskrisen“, wie Ökologen sagen.

    Klimaschutz ist Friedensschutz, aber der Erhalt des Friedens dient zugleich dem Klima: Wo Bomben fallen, baut niemand Windräder. Wo Bomben fallen, werden die Ressourcen der Natur noch rücksichtsloser geplündert. Artensterben, Erderhitzung und Krieg sind Drillingskrisen.

    Die Wechselwirkungen sind komplex, doch sie beschränken sich nicht auf diese Felder. Artenschutz ist auch Gesundheitsschutz, das zeigen Pandemien wie Sars, Mers und Covid-19: Die Gefahr, dass gefährliche Viren vom Tier auf den Menschen überspringen, steigt, je tiefer er in die letzten Naturparadiese vordringt, je dichter er den Tieren auf die Pelle rückt.

    Zwillingskrisen, Drillingskrisen, Vierlingskrisen, die Reihe ließe sich fortsetzen. Man denke nur daran, wie sich Krieg, Klima, Wohlstand und Migration bedingen. Ihre Gleichzeitigkeit verleiht diesen Krisen eine erschlagende Wucht. Es überfordert die menschliche Psyche, sich auf alles zugleich zu konzentrieren. Der Drang, die Krisen zu sortieren, ihnen Prioritäten zu geben und dann eine nach der anderen anzugehen, ist nur zu verständlich.

    Doch auch gefährlich. Denn wer etwa die Erderhitzung auf Kosten der Natur bekämpft oder die Armut auf Kosten des Klimas, gewinnt wenig oder nichts. Im Zeitalter der multiplen Krisen hilft Flickschusterei nicht weiter, es sind umfassende Antworten nötig. So wie in der Energieversorgung zur Stromwende die Wärmewende und die Verkehrswende kommen müssen, um die Klimawende nicht zu verpassen, braucht es auch auf allen anderen Ebenen übergreifende Ansätze.

    Ob die Wende gelingt, ist eine Schicksalsfrage mit offenem Ausgang. Es ist ja noch nie wirklich probiert worden.

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