Vancouvers grüne DNA
- 11.03.2020
Vom Hippie-Zentrum zum Klimapionier
Von Volker Kühn, Vancouver
Sie tragen bunte Kleider, Mäntel und Stirnbänder, sie lassen sich die Haare wachsen, sie tanzen im Stanley Park und kiffen in den Kellern von Kitsilano: 1971 ist Vancouver der Nabel der globalen Gegenkultur. Amerikanische Kriegsdienstverweigerer treffen auf kanadische Friedensaktivisten, radikale Bürgerrechtler mischen sich mit Sozialisten und Feministen; Buddhisten, Nudisten und Vegetarier begeben sich gemeinsam auf Sinnsuche. Der Sommer of Love, der vier Jahre zuvor in San Francisco begonnen hat, dreht 1300 Kilometer weiter im Norden noch einmal richtig auf.
Was all die Menschen eint, ist der Traum von einer besseren Welt – und die Angst vor der Zerstörung der bestehenden. Mit Demos und Sit-ins protestieren sie gegen den Krieg im fernen Vietnam. Noch größer allerdings ist die Furcht vor einer Bombe, die auf dem amerikanischen Kontinent gezündet werden soll: Die USA planen noch im selben Jahr einen unterirdischen Kernwaffentest. Auf Amchitka, einer Insel weit draußen vor Alaska, soll eine der größten Bomben aller Zeiten detonieren. Mit ihrer Sprengkraft von fünf Megatonnen könnte sie Erdbeben auslösen, fürchtet man, Tsunamis würden selbst weit entfernte Küsten treffen.
Weil sich die Nixon-Regierung mit Protestgesängen nicht von ihren Plänen abbringen lässt, beschließt eine Gruppe von Männern in Vancouver, das Schicksal in die Hand zu nehmen. Mit der „Phyllis Cormac“, einem rostzerfressenen Fischkutter, machen sie sich auf den Weg in die Beringsee, um den Test doch noch zu verhindern. Auf das Segel haben sie das internationale Friedenssymbol und ein Wort in Großbuchstaben gepinselt: „GREENPEACE“.
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Auf dem Segel des Boots, das im Herbst 2019 über den False Creek in Vancouver fährt, prangt kein Friedenssymbol, sondern eine stilisierte Sanduhr, darunter steht in Versalien: „EXTINCTION REBELLION“. Stundenlang kreuzt die kleine Yacht auf dem Meeresarm am Südrand der Innenstadt auf und ab, immer unter der Burrard Street Bridge hindurch. Durch den Regen dringen Musikfetzen von der Brücke herunter, es sind Friedenslieder, die Demonstranten oben auf der Fahrbahn angestimmt haben. Die Zufahrten links und rechts blockieren Polizeiwagen mit Blaulicht, der Verkehr wird umgeleitet.
Happening im Regen: Demonstranten blockieren die Burrard Street Bridge, einen der wichtigsten Zugänge nach Downtown Vancouver.
„Wir werden so lange hierbleiben, wie wir können“, sagt Edison Huang, ein Sprecher von Extinction Rebellion, in die Kamera eines herbeigeeilten TV-Teams. Die Regierung müsse endlich wirksame Maßnahmen zum Schutz der Umwelt einleiten. „Es geht um die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder.“
Am Morgen sind es 100, 150 Demonstranten, bis zum Mittag wächst die Menge auf vielleicht 500 an. Die Zahl der Autos, die zu dieser Zeit über die Burrard Street Bridge fahren würden, liegt um ein Vielfaches höher. Die Brücke ist eine der wichtigsten Zufahrten in die Innenstadt; die von den Behörden nicht genehmigte Blockade kostet die Pendler, die in den Wolkenkratzern von Downtown arbeiten, viel Zeit.
Der Ärger hält sich allerdings in Grenzen. „Wir wissen seit Jahrzehnten vom Klimawandel, aber passiert ist nichts. Vielleicht ist es einfach Zeit für zivilen Ungehorsam“, sagt ein Autofahrer, der an der Polizeiabsperrung wenden muss.
Das klingt nach ungewöhnlich viel Verständnis, passt aber zum Lebensgefühl dieser lässigen Metropole im Südwesten Kanadas. Zweieinhalb Millionen Menschen leben auf dem flachen Streifen zwischen den Pazifikstränden und den Coast Mountains, deren oft schneebedeckte Gipfel gleich hinter der Stadtgrenze auf mehr als 1000 Meter anwachsen. Vancouver ist ein Schmelztiegel der Kulturen, mehr als ein Drittel der Einwohner hat asiatische Wurzeln, nicht mal die Hälfte europäische. Zu Spannungen kommt es selten, Vancouver gilt als Vorbild in Sachen Multikulti. Es geht entspannt zu auf den Straßen, der Auftritt ist leger, der Umgangston entspannt. Eine unangemeldete Demo? Lockt hier kaum jemanden aus der Reserve.
Vor allem, wenn es dabei um die Umwelt geht. Naturverbundenheit steckt tief in der DNA der Vancouverites. Kein Wunder, wenn man sich das Panorama anschaut, vor dem sich diese Stadt aufbaut. Wo sonst kann man vormittags auf dem Pazifik surfen und nachmittags in den Bergen Snowboard fahren? Durch Regenwald laufen und Orcas beobachten? Die Wildnis ist in Vancouver nie weiter als eine Stunde entfernt.
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Während sich die „Phyllis Cormack“ durch den stürmischen Nordpazifik gen Amchitka kämpft, versammeln sich in Vancouver Tausende Studenten zu Protesten vor dem US-Konsulat. Auch in anderen kanadischen Städten gibt es Demonstrationen, ebenso in Alaska und Japan. Die Nachrichten davon geben den Aktivisten an Bord Auftrieb – und zugleich befeuern die Männer die Proteste mit Tonbandaufnahmen, die sie ans Festland funken. Radio- und Fernsehsender verbreiten sie weiter. Lange vor der Erfindung des Internets wird die Mission der „Phyllis Cormac“ auf diese Weise zum medialen Massenereignis. Bob Hunter, so etwas wie der inoffizielle Anführer der Aktivisten auf dem Schiff, spricht davon, eine „Mindbomb“ zünden zu wollen.
Auf Kurs nach Alaska: der Journalist und Aktivist Bob Hunter (links) am Ruder der „Phyllis Cormac“.
Doch als die Männer am 16. Tag ihrer Reise gut 1000 Kilometer vor dem Ziel auf der kleinen Insel Akutan in Alaska Station machen, klettern Beamte der US-Küstenwache an Bord. Sie teilen ihnen mit, dass sie sich bei der Einreise in amerikanische Gewässer beim Zoll hätten melden müssen. Die Aktivisten werden aufgefordert, dies unverzüglich nachzuholen. Und zwar in Sand Point – die Gegenrichtung von Amchitka.
Gleichzeitig jedoch geschieht etwas Bemerkenswertes: Die Küstenwache überreicht der Crew ein handbeschriebenes Blatt Papier, auf dem 18 Beamte unterzeichnet haben. Sie erklären sich solidarisch mit den Zielen der Aktivisten und wünschen ihnen Glück.
Die Mindbomb hat gezündet, mitten in den Reihen der Gegner.
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Von der Sinnlosigkeit eines Atomtests oder dem Wert der Umwelt muss in Vancouver heute niemand mehr überzeugt werden. Die Stadt ist ein Vorreiter der globalen Ökobewegung. Sie gehörte im vergangenen Jahr zu den ersten einer ganzen Reihe von Metropolen, die den Klimanotstand ausgerufen haben.
Das Thema bewegt Vancouver aber schon viel länger. Bereits 1990 erarbeitete ein Komitee im Auftrag der Stadt Maßnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. 2011 beschloss Vancouver den „Greenest City Action Plan“: einen Katalog von Maßnahmen mit dem unbescheidenen Ziel, die grünste Stadt der Welt zu werden.
Einer der Köpfe dahinter ist David Suzuki, Umweltaktivist und Träger des Alternativen Nobelpreises, der im früheren Hippie-Stadtteil Kitsilano lebt. „Wir hatten 21 Weltklimakonferenzen, und nichts ist geschehen. Sie verhandeln über unsere Atmosphäre, die niemandem gehört, aus dem Blickwinkel von 195 nationalen Grenzen. Wie soll das gehen?“, sagte Suzuki 2015 in einem Interview mit dem ARD-Magazin „Weltspiegel“. „Wir müssen auf lokaler Ebene anfangen, hier haben wir die Möglichkeiten dazu.“
Ikonen der Klimabewegung: David Suzuki, Träger des Alternativen Nobelpreises, und „Fridays for Future“-Begründerin Greta Thunberg bei einer Kundgebung 2019 in Vancouver.
Vancouvers Klimaplan umfasst zehn Themengebiete, für die eine Vielzahl konkreter Maßnahmen beschlossen wurden. Im Vordergrund stehen Verkehr und Gebäude, da sie den größten Anteil des städtischen CO2-Ausstoßes ausmachen. Deswegen wird die Sanierung von Altbauten gefördert, Neubauten müssen klimaneutral sein. Viele Wohnblocks und Wolkenkratzer wurden begrünt, das gewaltige Dach des Kongresszentrums ist so zur Heimat für Bienen und andere Insekten geworden.
Die Busse im Stadtgebiet fahren mit Oberleitung längst elektrisch, einige der Fähren rings um die Downtown-Halbinsel haben Elektromotoren. Dazu durchziehen breite Fahrradstraßen die Stadt. An Hauptstraßen wurde dem Autoverkehr dafür eine Spur weggenommen. Zwar dominieren die Pick-ups mit brusthohem Kühlergrill noch immer das Bild, aber mehr und mehr Radler flitzen dazwischen umher.
Im Hafen versorgen Kabel die Kreuzfahrtschiffe mit Strom vom Land – in anderen Häfen erzeugen die Riesenpötte ihren Strom selbst, indem sie Schiffsdiesel verbrennen. Und mitten in Vancouver überlässt die Stadt Urban Farmers sündhaft teuren Grund praktisch kostenlos, damit sie darauf Gemüse ziehen.
Auf diese Weise hat Vancouver einen großen Schritt vorwärts gemacht: Die CO2-Emissionen sanken zwischen 2007 und 2018 um zwölf Prozent, die Zahl der Green-Tech-Jobs ist um 35 Prozent in die Höhe geschnellt. Weil das allerdings nicht genügt, um die Ziele des Weltklimarats zu erreichen, hat Vancouver die Maßnahmen mit dem „Climate Emergency Action Plan“ Anfang 2019 noch einmal verschärft. „Wir müssen den CO2-Ausstoß fünfmal schneller reduzieren als bislang“, erklärt eine Sprecherin der Stadt.
Zwei Großveranstaltungen haben Kanadas Vorzeigemetropole bei ihrem Modernisierungsschub geholfen: die Weltausstellung 1986 und die Olympischen Winterspiele 2010. Vielleicht noch wichtiger aber war das Jahr 1997 als Großbritannien die Kronkolonie Hongkong an China übergab. Viele reiche Hongkong-Chinesen transferierten damals ihr Geld ins Ausland, wovon vor allem Vancouver stark profitierte. Die Stadt erhielt damit die Mittel, um sich neu zu erfinden. Weil der chinesische Einfluss so groß ist, sprechen manche schon von Hongcouver.
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Als die „Phyllis Cormac“ Sand Point erreicht, bricht Streit in der Crew aus. Sieben Tage sind es von hier bis Amchitka. Sollen die Männer einen neuen Anlauf starten, um die Insel zu erreichen? Inzwischen hat sich das Herbstwetter verschlechtert, die Wellen in der eiskalten Beringsee sind meterhoch, die meisten an Bord besitzen keinerlei Erfahrung in der Seefahrt. Hunter will die Mission trotzdem unbedingt fortsetzen. Tagelang können sich die Aktivisten nicht einigen. Dann gibt Hunter auf.
Er ist verzweifelt, das ganze Projekt war ein Fehlschlag. „Wir wollten die Welt durch unser gutes Beispiel retten. Aber in Wahrheit verbrachten wir die meiste Zeit mit Streitereien“, schreibt er später.
Doch zurück in Vancouver empfängt eine jubelnde Menge die Crew wie Helden. „Zwölf wütende Männer haben ein Zeichen gesetzt“, schreibt die „New York Times“. Selbst Kanadas Premierminister Pierre Trudeau verurteilt die Atomtests inzwischen. „Der durch unsere Fahrt ausgelöste politische Druck übertraf unsere kühnsten Träume“, erinnert sich Hunter.
Am 6. November 1971 wird die Bombe auf Amchitka gezündet. Es ist die bislang größte – aber auch die letzte. Wenig später beendet die US-Regierung das Programm und sagt weitere Tests ab.
Da haben die Männer um Hunter schon ihren nächsten Gegner gefunden: Die Gruppe, die sich nun offiziell Greenpeace nennt, wird von Vancouver aus erneut in See stechen. Um die Wale zu retten.