Ökologe Klement Tockner

  • Search03.12.2022

„Wir führen Krieg gegen unsere Zukunft“

Am 7. Dezember beginnt der Weltnaturgipfel COP15 in Montreal. Er soll Wege finden, um das dramatische Artensterben zu stoppen. Naturforscher Klement Tockner erklärt, warum sich die Welt ein Scheitern nicht erlauben darf.

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    Klement Tockner wuchs mit acht Geschwistern in der Steiermark auf, wo seine Eltern einen Bergbauernhof hatten. Der Biologe beschäftigt sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit vor allem mit Flüssen und ihren begleitenden Ökosystemen, er gilt als international führender Süßwasserökologe. Seit 2021 ist der 60-Jährige Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, der größten Forschungseinrichtung der Leibniz-Gemeinschaft mit sieben Instituten und drei Museen in Frankfurt, Dresden und Görlitz. EnergieWinde hat den renommierten Forscher im Vorfeld des Weltnaturgipfels COP15 gesprochen, der am 7. Dezember im kanadischen Montreal beginnt.

    Herr Tockner, warum gibt es eigentlich keine Kartoffelbrei-Attacken gegen das Artensterben?
    Klement Tockner: Im Vergleich zur Erderwärmung ist das Thema schwieriger zu fassen. Hochwasser, Waldbrände und andere Naturkatastrophen machen anschaulich, dass die Erderwärmung deutlich zu einer Zunahme an Extremereignissen führt. Es gibt somit sehr sichtbare, existenzbedrohende Konsequenzen. Bei der biologischen Vielfalt sind die Änderungen und auch die Auswirkungen schleichender. Aber wenn der Amazonas-Urwald zum Beispiel eine bestimmte kritische Größe unterschreitet, kann er sich nicht mehr selbst erhalten und wandelt sich in eine Steppenlandschaft um – mit drastischen globalen Auswirkungen auf den Wasserhaushalt, die Kohlenstoffspeicherung und die biologische Vielfalt. Diese Entwicklung ist dann unumkehrbar.

    Olaf Scholz sagt, der Weltnaturgipfel muss ein Wendepunkt sein für unsere Naturschutzbemühungen. Wie realistisch ist das?
    Tockner: Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, dass der Gipfel nicht zum Erfolg wird. Wenn wir jetzt nicht die Trendwende schaffen, dann wird es unglaublich schwierig, gegenzusteuern. Die Erhaltung der Biodiversität wird zudem viel, viel aufwändiger werden für die nächsten Generationen, wenn sie überhaupt noch möglich ist.

    Werden Sie in Montreal mit am Verhandlungstisch sitzen?
    Tockner: Ich werde virtuell dabei sein als Teil der Senckenberg-Delegation. Wir haben einen Beobachter-Status bei der Konferenz, deswegen werden wir wohl nur noch wenig direkt beeinflussen können. Trotzdem können wir natürlich viele Hintergrundgespräche mit den Delegationsmitgliedern führen. Sicher eine spannende Erfahrung.

    Feuer am Amazonas:  Wenn der Regenwald eine kritische Größe unterschreitet, kann er sich nicht mehr selbst regulieren. Das hätte fatale Folgen für das Klima auf der Erde.

    Feuer am Amazonas: Wenn der Regenwald eine kritische Größe unterschreitet, wird er zur Steppenlandschaft, warnt Klement Tockner.

    Stimmen die Vorverhandlungen Sie optimistisch?
    Tockner: Die waren mehr als ernüchternd. Es ist insbesondere schade, dass es im Wesentlichen nur darum geht, wer wie viel an Ausgleichszahlungen zwischen dem globalen Norden und Süden bezahlt.

    Aber es ist doch eindeutig, dass die Länder des globalen Nordens in der Schuld stehen.
    Tockner: Natürlich verbrauchen wir durch unseren Lebensstil sehr viel an Biodiversität im globalen Süden und sind zugleich hauptverantwortlich für die Erderwärmung. Insofern muss es Ausgleichszahlungen geben. Wir haben hierfür in unserer „Berliner Erklärung“ im Mai dieses Jahres acht Milliarden Euro pro Jahr von der Bundesrepublik Deutschland gefordert – immerhin handelt es sich um die weltweit viertgrößte Volkswirtschaft. Und noch etwas: Wenn wir in Deutschland und Europa nicht in der Lage sind, unsere wenigen derzeitigen Wildflusslandschaften und Urwälder zu erhalten, dann sind wir als Vorbild für andere Regionen nicht glaubwürdig.

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    Es handelt sich beim rapiden Verlust der Biodiversität um eine, ich würde sogar sagen, die größte Herausforderung, vor der wir stehen

    Klement Tockner

    Die Summe wäre nur rund ein Zehntel der umweltschädlichen Subventionen in Deutschland.
    Tockner: Pro Jahr werden bundesweit knapp 65 Milliarden Euro an umweltschädigenden Subventionen ausgegeben. Daher müssen bestehende finanzielle Anreize, Steuern und Subventionen so reformiert und umgewidmet werden, dass öffentliche und private Finanzströme auf naturverträgliche Aktivitäten ausgerichtet werden. Das schafft einheitliche Spielregeln für die Wirtschaft und vermeidet Marktverzerrungen. Es handelt sich schließlich beim rapiden Verlust der Biodiversität um eine, ich würde sogar sagen, die größte Herausforderung, vor der wir stehen. Zum einen, weil „einmal verloren“ zumeist „für immer verloren“ bedeutet. Zum anderen, weil wir eben nicht wissen, was ein zehn-, zwanzig- oder sogar fünfzigprozentiger Rückgang dieser Vielfalt für die Natur und damit auch für unsere eigene Existenz langfristig bedeutet. Und wenn wir nicht genau abschätzen können, was die Konsequenzen sind, dann ist die Politik besonders gefordert, ja verpflichtet, Vorsorge zu treffen.

    Der Regenwald am Kongo ist die Heimat von mehr als 400 Säugetier- und über 1000 Vogelarten. Die artenreichsten Regionen der Erde sollen unter Schutz gestellt werden.

    Eines der Hauptziele des Weltnaturgipfels ist es, 30 Prozent der Land- und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen. Klingt doch ambitioniert.
    Tockner: Die biologische Vielfalt ist das akkumulierte Wissen von mehr als dreieinhalb Milliarden Jahren natürlicher Evolution. Das sind die Bibliotheken der Natur. Aber wir verwenden unseren Planeten als Abfallkübel und als Steinbruch. Das kann nicht gutgehen! Insofern ist eine gemeinsame globale Anstrengung notwendig, um die vielfältigsten Ökosysteme zu sichern, oder wenn möglich, wiederherzustellen. Daher ist das 30x30-Ziel eine unverzichtbare Vorgabe, die wir unbedingt erreichen müssen.

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    Wir müssen einen Ansatz finden, um, salopp ausgedrückt, Natur- und Menschenschutz zusammenzubringen

    Klement Tockner

    30 Prozent der Erde werden zu menschenfreien Zonen?
    Tockner: Es braucht strenge Schutzmaßnahmen für die noch vorhandenen Wildnisgebiete, etwa durch die Etablierung von Nationalparks, um so die artenreichsten Lebensräume langfristig zu sichern. Aber für Schutzgebiete bedeutet das nicht generell: Betreten verboten! Wir müssen einen anderen Ansatz finden, um, salopp ausgedrückt, Natur- und Menschenschutz zusammenzubringen. Wir müssen Klimaschutz, Biodiversitätsschutz, aber auch den Schutz unserer kulturellen Vielfalt verbinden und Synergien schaffen. Deswegen müssen die Menschen vor Ort in das nachhaltige Management von Schutzgebieten von Beginn an aktiv eingebunden werden.

    Um welche 30 Prozent der Landflächen sollte es gehen? Die artenreichsten?
    Tockner: Ja, denn diese nehmen zumeist auch eine zentrale Rolle als Kohlenstoffspeicher ein. Dazu gehören tropische Regenwälder, Mangrovengebiete, Korallenriffe oder auch Fluss- oder Moorsysteme. Klimaschutz und Biodiversitätsschutz sind eng miteinander verwoben.

    Lassen sich kleinere Schutzgebiete vielleicht besser kontrollieren?
    Tockner: Das ist eine lange Diskussion. In erster Linie müssen wir natürlich die zusammenhängenden großen Schutzgebiete oder naturnahen Gebiete wie das Amazonasbecken oder das Kongobecken langfristig sichern. Aber natürlich ist die biologische Vielfalt nicht nur auf diese Gebiete konzentriert. Genauso müssen wir in Europa die letzten Urwälder in den Karpaten erhalten. Und auch das „Rewilding“ ist ein guter Ansatz, um Gebiete wieder natürlichen Prozessen zu überlassen. Die Lausitz und andere ehemalige Braunkohlereviere, aber auch ehemalige Truppenübungsplätze sind zum Beispiel hervorragende Naturschutzgebiete.

    Überhaupt sollte Deutschland auf naturbasierte Lösungen setzen, fordern Sie.
    Tockner: Die Wiedervernässung der Moore, die Renaturierung der Auengebiete, der Umbau von Forstmonokulturen zu Mischwäldern, das Belassen von Totholz in den Wäldern oder in Gewässern – das sind alles naturbasierte Maßnahmen, die sowohl dem Klimaschutz als auch dem Schutz der biologischen Vielfalt zugutekommen.

    Der Alpensteinbock stand Anfang des 20. Jahrhunderts kurz vor der Ausrottung. Seine Wiederansiedlung gilt als eine der größten Erfolgsgeschichten im europäischen Artenschutz.

    Wo sehen Sie Erfolge?
    Tockner: Die Wiedereinbürgerung des Wolfs in Deutschland – dass der Wolf in einer relativ dicht besiedelten Landschaft wieder Fuß fassen kann, ist eine Erfolgsgeschichte. Wir müssen natürlich alles daransetzen, die Mensch-Wolf-Konflikte zu lösen. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Erfolgsbeispiele: den Iberischen Luchs, den Alpensteinbock und die Auswilderung von Bartgeiern. Sehr häufig standen partizipative Prozesse dahinter, wo man die Bevölkerung von Beginn an einbezogen hat, um die Akzeptanz zu erhöhen und Verständnis zu schaffen.

    Und das Artensterben aufzuhalten?
    Tockner: Wir müssen mit der Natur und nicht gegen sie arbeiten. Das ist zwar eine Binsenweisheit. Aber beim Umsetzen merkt man, wie schwierig es ist. Wir brauchen einen Schulterschluss zwischen der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik und der Zivilgesellschaft. Keine einzelne Gruppe kann das allein schaffen.

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    Der größte Faktor, der zum Rückgang der biologischen Vielfalt geführt hat und führt, ist die Landwirtschaft

    Klement Tockner

    Welche sind die großen Hebel?
    Tockner: Der größte Faktor, der zum Rückgang der biologischen Vielfalt geführt hat und führt, ist die Landwirtschaft. Wir müssen die Produktionsprozesse ändern, um etwa mit Präzisionslandwirtschaft den Pestizid- und Nährstoffeintrag massiv zu reduzieren. Wir müssen natürlich auch unser Konsumverhalten ändern: Wir essen in Mitteleuropa drei- bis viermal mehr Fleisch, als gesund ist. Und der dritte Aspekt ist, dass 30 Prozent der Lebensmittel verderben oder weggeschmissen werden. Drei Hebel, an denen man ansetzen kann – für die Natur und auch für unsere Gesundheit.

    Selbst ein grüner Landwirtschaftsminister kann solche Hebel aber nicht eben mal umlegen.
    Tockner: Ich glaube, wir sind uns der Dramatik und der Unumkehrbarkeit der Veränderungen nicht bewusst. Wir führen eine Art Krieg gegen unsere eigene Zukunft. Aber es ist ein unfairer Kampf, weil die Zukunft sich ja nicht wehren kann. Was uns auch nicht bewusst ist: Wenn wir eine Erwärmung von drei Grad haben, wenn wir einen Verlust von 40 Prozent der Artenvielfalt haben, dann werden große Teile des Planeten unbewohnbar sein. Beim Klima- und Biodiversitätsschutz geht es um eine Existenzfrage, nicht um ein „Nice-to-have“.

    Bartgeier in den Pyrenäen: Klima- und Artenschutz sind eine Existenzfrage, sagt Klement Tockner.

    Die EU will entwaldungsfreie Lieferketten durchsetzen – welche Rolle spielt die Wirtschaft beim Artenschutz?
    Tockner: Eine ganz zentrale! Es gibt mehr und mehr Unternehmen, die Biodiversität und Kohlenstoff in ihre Berechnungen und ihr Wirtschaften einbeziehen, das muss verbindlich eingefordert und deutlich verstärkt werden. Umgekehrt betreiben neun von zehn Wirtschaftsorganisationen in Europa und in den USA aktives Lobbying gegen verstärkte Umweltmaßnahmen. Die Gefahr des Greenwashings nimmt zu.

    Darum fordern Sie in der gerade veröffentlichten „Frankfurter Erklärung einheitliche und verbindliche Regeln und Standards für Unternehmen?
    Tockner: Mit Selbstverpflichtungen der Wirtschaft kommen wir nicht weiter. Ich glaube, es gibt keine Alternative. Es ist einfach eine Frage, wie rasch wir das umsetzen. Es wird nicht reichen, den Status quo zu verbessern. Wir brauchen fundamentale Veränderungen, wie wir leben und wie wir mit unseren Ressourcen und unserer Natur umgehen. Da sind wir alle gemeinsam gefordert: Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und ganz besonders eine verantwortungsvolle und mutige Politik.

    Haben Sie keine Angst vor Fatalismus?
    Tockner: Wir müssen achtgeben, dass wir nicht nur die Herausforderungen und Probleme aufzeigen, sondern auch über Lösungsmöglichkeiten sprechen – daher finden sich in der Frankfurter Erklärung nicht nur Forderungen, sondern auch Angebote. Wir können die Trendwende noch schaffen. Trotzdem dürfen einzelne Erfolgsbeispiele nicht hinwegtäuschen über die grundlegende, umfassende Zerstörung unserer Umwelt. Wenn wir jetzt nicht eine grundlegende Veränderung hin zu einer natur-positiven Wirtschaft vollziehen, dann wird das Zeitalter des Menschen – das Anthropozän – zur kürzesten Epoche der Erdgeschichte!

    Gibt es denn zumindest die Hoffnung, dass die Erde sich irgendwann wieder vom Menschen erholt?
    Tockner: Ich mache mir um die Erde langfristig keine Sorgen. Aber von den Aussterbeereignissen in der Vergangenheit wissen wir, dass es Millionen Jahre gedauert hat, bis sich eine ähnlich hohe oder oft sogar noch höhere Biodiversität eingestellt hat als vor dem Aussterbeereignis. Und die dominanten Arten sind immer verschwunden. Das sollte uns Menschen beunruhigen.

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    Die Klimakrise und die Artenkrise sind Zwillingskrisen. Sie sind nicht voneinander zu trennen

    Klement Tockner

    In diesem Sinne: Könnte Montreal nicht doch zu einem zweiten Paris werden?
    Tockner: Eigentlich müsste man nur die bereits bestehenden Abkommen massiv stärken, sodass sie wirksam sind. Die Verpflichtungen müssen rigoros eingefordert werden können. Und wenn sie nicht eingehalten werden, muss es klare, auch schmerzhafte Sanktionsmöglichkeiten geben. Ansonsten haben wir das zweihunderteinundfünfzigste internationale Abkommen, das wieder nicht wirkt. Das wäre fatal.

    Ähnlich wie bei den Klimaabkommen …
    Tockner: Die Klimakrise und die Artenkrise sind Zwillingskrisen. Sie sind nicht voneinander zu trennen, und wir müssen Lösungen finden, die beide Krisen gemeinsam bewältigen. Vielleicht werden ja irgendwann die Klima- und die Biodiversitätskonferenz gemeinsam abgehalten. Das wäre ein wichtiger Schritt nach vorn.

    Die Fragen stellte Julia Graven.

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