Verfolgt Russland in der Ukraine auch Rohstoffinteressen?
Blume: Absolut. Es geht um die Krim und den Zugang zum Schwarzen Meer, aber auch um Gebiete, unter denen Rohstoffe lagern. Warum drang Nazi-Deutschland bis nach Stalingrad und in den Kaukasus vor? Das war auch damals eine Schlacht ums Öl. Hier im heutigen Baden-Württemberg gab es das sogenannte Unternehmen Wüste: In mehreren Konzentrationslagern kamen Tausende Menschen um, die aus Schieferöl Mineralöl herstellen mussten. Später hat man diese Abhängigkeit vom Öl für eine lange Zeit hinter einer ökonomischen Theorie verschleiert, die besagte: Wenn alle miteinander handeln, haben alle etwas davon. Wir sollten uns endlich ehrlich machen und sagen, dass erneuerbare und dezentrale Energieerzeugung demokratische Strukturen stärkt. Zentralistische fossile Energiegewinnung stärkt dagegen autoritäre Strukturen.
Ihr Buch heißt „Öl- und Glaubenskriege. Wie das schwarze Gold Politik, Wirtschaft und Religionen vergiftet“. Wie kann es sein, dass durch den Ölreichtum sogar die Religion unter die Räder kommen kann?
Blume: Jede Religion kann in und von autoritären Strukturen verformt werden. Der Klassiker ist natürlich Saudi-Arabien, Herzland des Islam und der einzige Staat der Welt, der noch nach einer Familie benannt ist. Das Königshaus hat mit Ölmilliarden auch dafür gesorgt, dass sich der Wahhabismus, eine fundamentale Lesart des Islam, weltweit ausbreitet, auch in muslimischen Communities im Westen. In Russland sehen wir, wie die russisch-orthodoxe Kirche unter den Einfluss des Staates gekommen ist. Unter Stalin wurde sie brutal verfolgt. Unter Putin wird sie praktisch kooptiert, um den Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren, obwohl dort ebenfalls orthodoxe Christen leben. Also: Ölstaaten führen zu autoritärer Politik und autoritärer Religion. An der Entstehung des Protestantismus sehen Sie das Gegenteil.
Inwiefern?
Blume: Wo die Einkommen an der Basis erwirtschaftet wurden, in kleinen Handwerksbetrieben oder von Kaufleuten etwa, hatte die Reformation die besseren Chancen. Damals sagten sich die Gläubigen: Ich sehe nicht ein, in Rom eine teure Hierarchie zu finanzieren – dann wähle ich meinen Pfarrer lieber selbst.
Also hat dann Religion in Rentierstaaten eine Funktion: die Macht der Herrschenden abzusichern?
Blume: Ja, Religion kann immer beides sein. Sie kann uns sagen: Jeder Mensch ist im Bilde Gottes geschaffen und hat eine menschliche Würde. Das kann eine demokratische, reformierte Form von Religion begründen, die der Lehre folgt: Es gibt kein göttlich legitimiertes Anrecht des Adels oder einer Tyrannei, über andere zu herrschen. Auf der anderen Seite lässt sich aber mit Religion auch ein autoritäres Denken begründen: Ich bin der Zar oder der Kaiser von Gottes Gnaden. Selbst der Herrscher von Aserbaidschan sagte neulich bei der Klimakonferenz, das Öl sei ein Geschenk Gottes. Gott hat gewollt, dass ich reich und der Herrscher bin. In einer Religion kommt es darauf an, was man aus ihr macht.
Es gibt also nicht „den gefährlichen Islam“, wie rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien behaupten, sondern eine Religion ist in ihrer Ausprägung immer ein Produkt ihrer Zeit und – im Falle des Islam – der Strukturen in den Ölstaaten?
Blume: Genau. Und diese Erkenntnis birgt auch Chancen, zum Beispiel aktuell in Syrien. Dort gibt es keine riesigen Rohstoffquellen. Deshalb besteht die Chance, dass wir mit gemäßigten Kräften der ganzen Religion – dazu gehören die Sunniten, die Alawiten, die Christen – gemeinsam an einer Demokratie arbeiten können. Im Irak, wo ich im Einsatz war, müssen Sie dagegen realistisch gucken: Wie finanzieren sich die regional herrschenden Gruppen? Ich habe selbst erlebt, dass mir deren Anführer sagten: Nein, euer deutsches Ausbildungssystem interessiert mich nicht, weil ich will gar nicht, dass die Leute hier gut ausgebildet sind. Die sollen schön abhängig bleiben.
Was folgern Sie daraus?
Blume: Man sollte die Bereiche Energiepolitik und Religion vernetzt denken. Das drücken die erneuerbaren Energien für mich aus: Hey, ich kann auch in Europa etwas für den Frieden tun, indem ich darauf achte, welche Art von Energie ich fördere und zulasse. Ich habe mich sogar bei Kampagnen gegen Windkraft hingestellt und gesagt: Wer die Windenergie nur bekämpft, nimmt in Kauf, dass Antisemiten weiterhin finanziert werden. Das hören nicht alle Leute gerne. Aber es ist nicht mein Job, immer beliebt zu sein, sondern ich habe halt die Aufgabe, solche Dinge auszusprechen.
Derzeit erscheint unklar, in welche Richtung das Pendel schlägt: Setzen sich die Erneuerbaren mit ihren Kostenvorteilen durch, oder wird der Umbau verzögert, weil die fossilen Beharrungskräfte gewinnen? Angenommen, das Pendel schlägt voll aus in Richtung globale Energiewende: Was passiert mit all den Menschen, die heute in Rentierstaaten und unter dem Ressourcenfluch leben?
Blume: Ich stimme zu, dass wir momentan ein Gegeneinander haben zwischen zunehmend erneuerbaren Demokratien, die angegriffen werden von fossilen Timokratien.