Nature Restoration Law

  • Search08.06.2023

Natur auf der Kippe

Die EU will Europa zu besserem Naturschutz verpflichten, doch das Gesetz droht zu scheitern. Die Grünen-Abgeordnete Jutta Paulus erklärt, was bei dem Streit auf dem Spiel steht – und warum sie noch auf eine Einigung hofft.

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    Jutta Paulus, grüne EU-Abgeordnete, kämpft in Brüssel für das Nature Restoration Law zur Wiederherstellung zerstörter Natur.

     

    Jutta Paulus, geboren 1967 in Gießen, ist seit 2019 Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament. Sie gehört dem Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit an und engagiert sich für das Nature Restoration Law. Damit will die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten dazu bringen, zerstörte Naturräume wiederzubeleben und besser zu schützen. Doch nachdem sich die konservative EVP als größte Fraktion im EU-Parlament dagegen ausgesprochen hat, steht das Gesetz auf der Kippe. Paulus fürchtet, dass Europa die Chance verpasst, die Biodiversitätskrise zu stoppen, was auf lange Sicht in eine Ernährungskrise führen könne.

    Frau Paulus, im vergangenen Sommer hat die EU-Kommission den Entwurf zum Nature Restoration Law als wichtigen Pfeiler ihrer Biodiversitätsstrategie und damit des Green Deals vorgelegt. Worum geht es dabei?
    Jutta Paulus: Wie die Klimakrise bedroht die Biodiversitätskrise das Leben auf der Erde. Der Großteil der natürlichen Lebensräume ist zerstört, wodurch Pflanzen- und Tierarten aussterben, die notwendig sind, damit die Natur uns das geben kann, was wir als Menschen zum Leben benötigen: sauberes Wasser, reine Luft oder ertragreiche Böden. Bisher wurden in der EU wertvolle Gebiete zwar geschützt, aber die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt: Das reicht nicht aus. Deshalb geht das Nature Restoration Law weiter und will wertvolle Gebiete nicht mehr nur schützen, sondern vielmehr sollen die Mitgliedsstaaten die Natur wiederbeleben.

    Sie sprechen die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) an, die 1992 von der EU eingeführt wurde. Neben nationalen Gesetzen und zusammen mit der Vogelschutzrichtlinie ist sie der einzige europäische Naturschutzrahmen für die Mitgliedstaaten. Damals sollten die Länder innerhalb von drei Jahren alle schützenswerten Lebensräume kartieren und der Kommission melden, und dann gegebenenfalls unter Schutz stellen. Warum hat das nicht ausgereicht?
    Paulus: Ein Problem ist, dass überhaupt nicht alle Lebensräume, die nach den Vorgaben des FFH wertvoll sind, gemeldet und gelistet wurden. Nehmen Sie das aktuelle Beispiel der Hafenerweiterung in Rostock. Dort gibt es mehrere Hundert Hektar Küstenüberflutungsmoor, welches abgesehen von seiner Funktion als CO2-Speicher auch als Naturraum wichtig ist, jetzt aber als Ausbaufläche für den Hafen zur Diskussion steht. Dieses Gebiet müsste schon lange nach FFH-Richtlinie geschützt sein, wurde aber nicht gemeldet. Das zeigt, dass weder bei uns noch bei den anderen Mitgliedsstaaten sichergestellt ist, dass alle wertvollen Gebiete überhaupt geschützt sind.

    Wie soll das Nature Restoration Law das ändern?
    Paulus: Das Gesetz ist natürlich mehr als eine Deadline für die vorhandene FFH-Richtlinie. Aber es baut auf ihr auf und verwendet die FFH-Typisierung und Bewertung von Gebieten. Allerdings fordert es die Mitgliedsstaaten nun dazu auf, noch einmal genau hinzuschauen, wo Renaturierungsbedarf besteht und neben den bereits gemeldeten Flächen möglich ist. Daneben macht es konkrete Zielvorgaben, damit in der EU bis 2050 90 Prozent der zerstörten Flächen renaturiert werden, und sanktioniert Verfehlung.

    Graureiher an der Boye einem Nebenfluss der Emscher: Die Renaturierung des Gebiets gilt als großer Erfolg für die Biodiversität.

    Graureiher an der Boye, einem Nebenfluss der Emscher: Die Renaturierung des Gebiets gilt als großer Erfolg für die Biodiversität.

    Gab es vorher keine Sanktionen?
    Paulus: Doch. Auch Deutschland hat noch Verfahren anhängig, weil es beispielsweise seine Graslandschaften nicht ausreichend schützt. Aber das neue Gesetz stärkt den Sanktionsmechanismus, und die Kommission wird die Arbeit der Mitgliedsstaaten auch sehr viel genauer als in der Vergangenheit kontrollieren.

    Insgesamt zählen heute mehr als 27.000 Areale zu den gelisteten Gebieten, die von der EU als Natura-2000-Netz zusammengefügt wurden. Dann gibt es noch nationale Schutzgebiete, sodass etwa 26 Prozent der europäischen Landesfläche und zwölf Prozent der Meeresfläche bereits geschützt sind. Das klingt eigentlich ganz gut.
    Paulus: Aber die Vergangenheit hat gezeigt: Der Schutztitel allein reicht nicht aus. Alle sechs Jahre müssen die Länder über den Zustand ihrer geschützten Gebiete berichten, und der letzte Berichtszeitraum von 2013 bis 2018 hat gezeigt: 81 Prozent der geschützten Ökosysteme sind in einem schlechten bis sehr schlechten Zustand.

    Was heißt schlechter Zustand?
    Paulus: Wir reden von trockengelegten Mooren, begradigten Flüssen, intensiv landwirtschaftlich genutzten Grasflächen und Wäldern, in denen wichtige Arten ihren Lebensraum verloren haben. Jeder Staat ist geografisch anders beschaffen und muss sich mit unterschiedlichen Zerstörungen von Lebensräumen befassen. Entsprechend legt das Gesetz keine Blaupause für alle an, sondern jeder Mitgliedstaat wird seinen eigenen Renaturierungsplan vorlegen, in dem er entscheidet, wo er mit der Renaturierung beginnt und wo er seine Schwerpunkte setzt.

    Der Agrar- und Fischereiausschuss haben den Gesetzentwurf bereits abgelehnt. Ihre Angst besteht darin, dass vor allem Landwirte und Fischer Flächen abgeben müssen und Einbußen erleiden, damit neue Schutzzonen entstehen.
    Paulus: Das nehmen wir sehr ernst. Genau um dieser Befürchtung zu begegnen, haben wir als übergeordnetes Ziel Ernährungssicherheit im Text festgehalten. Schließlich geht es der Kommission mit dem Nature Restoration Law darum, die Ökosystemleistungen der Natur zu steigern, damit wir weiterhin unsere Lebensmittel anbauen können. Es geht um das Wohl der Natur zum Wohle des Menschen. Aber dafür müssen wir wertvolle Gebiete schützen und dort unsere menschlichen Aktivitäten zumindest zu einem gewissen Maß begrenzen.

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    Windparks auf dem Meer sind quasi im Nebeneffekt zu Schutzzonen geworden. Durch den Stopp der Fischerei dort, aber auch die Anhäufung von Steinen an den Fundamenten der Windräder siedeln sich verschiedene Arten an

    Jutta Paulus

    Wie funktioniert das?
    Paulus: Nehmen wir das Beispiel Offshore-Wind: Viele Windparks auf dem Meer sind quasi im Nebeneffekt zu Schutzzonen geworden, weil dort keine Schiffe fahren dürfen, um nicht Kabel oder Windräder zu beschädigen. Durch den Stopp der Fischerei dort, aber auch die Anhäufung von Steinen an den Fundamenten der Windräder siedeln sich verschiedene Arten an, die als Nahrung für wieder andere Arten dienen. Windparks haben sich teilweise zu Kinderstuben für Fische entwickelt und dafür gesorgt, dass die Populationen auch außerhalb der Windparks wachsen. In dem Moment, in dem ich die Bestände abfische und ihre Reproduktion störe, habe ich als Industrie ein viel größeres Problem als mit Schutzzonen, in denen Fischbestände wieder ordentlich heranwachsen.

    Und was bedeutet das für landwirtschaftliche Flächen?
    Paulus: Renaturieren heißt nicht zwingend, ich stelle Wildnis her, sondern ich gebe der Natur mehr Raum. Das kann bedeuten, dass ich um meine Felder herum die Randstreifen nicht komplett abmähe. Oder dass ich intensiv genutzte Weidelgrasacker, die bisher viermal im Jahr gemäht wurden, mit einer Blühwiesenmischung einsäe und nur zweimal im Jahr abernte. Eventuell erst ab Juni, wenn alle Wiesenbrüter durch sind.

    Das bedeutet allerdings weniger Ertrag für den Bauern.
    Paulus: Je nachdem, was er macht. Und es ist völlig klar, dass die Einbußen kompensiert werden müssen. Diese Familien leben von der Landwirtschaft und müssen für den Ausfall Gelder vom Staat bekommen, gar keine Frage. Aber wenn wir Böden, Lebensräume für Bestäuber und unsere Wasserressourcen nicht stärker pflegen, werden wir irgendwann nichts mehr anbauen können. Und dann laufen wir wirklich auf eine Ernährungskrise zu.

    Die Landwirte beklagen auch, dass ihnen mit dem Gesetz mehr Dokumentation droht.
    Paulus: Das stimmt, es kommt mehr auf einen Berufsstand zu, der ohnehin wenige Kapazitäten für administrative Arbeiten hat. Aber nehmen Sie Staaten wie Irland: Dort müssen die Landwirte seit Jahren ein sogenanntes Pflanzenspritzbuch führen, und es klappt. Wir können uns nicht nur sperren, sondern müssen dorthin schauen, wo etwas gut funktioniert. Andersherum können Sie als Betrieb nicht erwarten, dass Sie Zahlungen vom Staat erhalten, wenn Sie nicht nachweisen können, dass Sie bestimmte Vorgaben dafür erfüllen.

    Laufen wir mit dem Gesetz nicht in das klassische Dilemma zwischen Natur- und Klimaschutz, weil darin ein Verschlechterungsverbot für renaturierte Flächen steht, man also keine Flächen nachträglich für Fotovoltaik und Windkraft nutzen kann?
    Paulus: Diese Flächenkonkurrenz ist uns völlig bewusst. Genau deshalb haben wir noch einmal festgeschrieben, dass die Mitgliedstaaten bei ihren Plänen für die Renaturierung frühzeitig darauf achten sollen, dass Synergieeffekte entstehen. Wenn man zum Beispiel einen Maisacker hat, der im Frühjahr immer mit Gülle gedüngt wurde, könnten als eine Aufwertung der Fläche dort jetzt Solarpanele installiert und drumherum Wiesenblumen gesät werden. Das wäre trotz der Solartechnik eine deutliche Verbesserung zum Maisacker. Solche Ansätze hat die Kommission bereits in ihren Leitlinien, die stetig weiterentwickelt und wissenschaftlich begleitet werden, sodass wir eben nicht in die Problematik laufen, Klima- und Naturschutz zu blockieren.

    Als politische Vertretung von Landwirtschaft und Fischindustrie hat die Europäische Volkspartei den Gesetzentwurf abgelehnt. Was geschieht, wenn es keine Einigung gibt?
    Paulus: Natürlich wird es knapp, wenn sich die größte Fraktion dagegenstellt. Wir müssen jetzt hoffen, dass alle anderen mitstimmen. Dazu sind wir den Bedenkenträgern noch einmal deutlich entgegengekommen. Ursprünglich lautete der Text, dass 30 Prozent der gesamten Landesfläche bis 2030 wiederhergestellt werden muss. Jetzt haben wir uns auf die Wiederherstellung von 30 Prozent der zerstörten Flächen geeinigt – das ist eine deutliche Abschwächung und macht es den Bedenkenträgern leichter. Es ist aber auch klar: Wenn ein so wichtiges Gesetzesvorhaben der Kommission blockiert wird, stellt das auf lange Sicht auch andere Projekte in Frage und schadet somit allen.

    Die Fragen stellte Kathinka Burkhardt.

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