Fördertürme in Kalifornien um 1910: Schon wenige Jahre nach dem ersten Fund bohren Hunderte Firmen in den USA nach Öl.
Abschied vom Ölzeitalter
- 29.07.2020
Rausch und Kater
Von Jasmin Lörchner
Allen Hamill will gerade mit einer Schaufel um das Bohrloch herum aufräumen, da ertönt ein Donnern wie aus einer abgefeuerten Kanone. Dann schießt eine Zunge blauen Gases aus dem Loch, bevor es gespenstisch ruhig wird. Neugierig macht Hamill ein paar Schritte zum Loch und schaut hinein, als es zu blubbern beginnt. Er sieht, wie zähflüssiges Öl langsam auf- und wieder absteigt, als würde das Gestein atmen. „Schließlich kam es mit einer solchen Kraft hoch, dass es direkt bis durch die Spitze des Bohrturms schoss“, erinnert sich Hamill Jahre später.
Ein Mitglied der Crew eilt in die texanische Kleinstadt Beaumont, um dem Eigentümer des Bohrturms Bescheid zu geben. Er findet Anthony Francis Lucas im Lebensmittelladen. Lucas vergisst seine Einkäufe, springt auf sein Pferd und reitet im wilden Galopp zum Hügel südlich der Stadt.
Dort schießt das Öl 30 Meter hoch aus dem Bohrloch und überzieht die Umgebung mit einem schmierigen schwarzen Film. Das Rauschen der Fontäne ist so laut, dass es zahlreiche Schaulustige anlockt. Die kommen an diesem 10. Januar 1901 aus dem Staunen nicht mehr heraus: Vor ihnen sprudelt die erste Ölquelle in Texas. Neun Tage braucht die Crew, um sie unter Kontrolle zu bringen. Mehr als 100.000 Barrel, fast 16 Millionen Liter, fließen aus der Quelle – pro Tag.
Öl beschert Amerika Reichtum und Macht – und es führt das Land in Kriege
„Spindletop“, benannt nach dem Hügel, auf dem die Bohrung stattfand, markiert den Beginn des Ölbooms in Texas und läutet das Ölzeitalter in den USA ein. Der neue Kraftstoff beschert dem Land Wohlstand, Fortschritt und Macht – aber er stürzt es auch in eine Abhängigkeit, der es bis heute nicht entkommen ist. Öl ist der Treibstoff seiner Wirtschaft; mehr noch: Es ist die Grundlage seines optimistischen, auf Wachstum ausgerichteten mobilen Lebensstils, des American Way of Life.
Doch das hat seinen Preis. Stockt der Ölnachschub, kommt Amerikas Motor ins Stottern. Und so entwickelt das Land seit 120 Jahren immer ausgefeiltere, immer waghalsigere Methoden, um seinen Durst nach Öl zu stillen. Die Folgen für Natur und Umwelt sind längst nicht mehr zu übersehen, aber auch Amerikas Außenpolitik wird vom Öl dominiert – bis hin zum Krieg.
Doch das ist nicht abzusehen, als Anthony Francis Lucas und sein Kompagnon Pattillo Higgins 1901 den Boden auf dem Spindletop Hill aufbohren. Higgins hat zu diesem Zeitpunkt bereits ein Jahrzehnt lang erfolglos nach Öl gesucht. Nach einem Besuch in Pennsylvania, wo schon seit 1859 eine kleine Ölquelle ausgebeutet wird, eignet sich Higgins im Selbststudium geologische Kenntnisse an. Als er hört, dass in der Gegend um Beaumont immer wieder schimmernde Öllachen auf Bächen gesichtet wurden, untersucht er die Landschaft genau. Dort hält man ihn für einen Spinner, weil er nach Schwefelgerüchen schnüffelt. Für Higgins jedoch sind sie der Beweis für seine These, dass unter dem Spindletop Hill ein Salzstock existiert, der eine Kammer mit Öl beherbergt.
Nach zahllosen erfolglosen Bohrversuchen schaltet Higgins, beinahe bankrott, eine Anzeige in der örtlichen Zeitung, die das Interesse des Ingenieurs Anthony Francis Lucas weckt. Lucas findet neue Investoren und beschafft frisches Kapital. Im Oktober 1900 beginnen die Bohrungen. Am 10. Januar 1901 treffen sie auf Öl.
Beaumont wird zur ersten Ölboomtown der Welt, die Bodenpreise explodieren
Ihr Fund weckt Begehrlichkeiten: Innerhalb von drei Monaten schwillt die Bevölkerung der Kleinstadt Beaumont von 10.000 auf 30.000 an. Das verschlafene Nest im Osten von Texas wird zur ersten Ölboomtown der Welt. Spekulanten treiben die Bodenpreise in ungeahnte Höhen. Ein Einwohner, der sein Land drei Jahre lang für 150 Dollar nicht loswurde, verkauft es jetzt für 20.000. Der Käufer schlägt es innerhalb von 15 Minuten wieder los, als ihm jemand 50.000 Dollar bietet.
Schon im September 1901 sind mindestens sechs Bohrungen auf dem Spindletop Hill aktiv, innerhalb eines Jahres steigt die Zahl auf 285. Bis 1902 werden mehr als 500 Förderunternehmen gegründet, darunter die Gulf Oil Corporation und Texaco, die heute zum Großkonzern Chevron gehören. 15,5 Millionen Barrel Öl werden in dem Jahr gefördert.
Doch die Fördermengen sinken bald wieder, von 100.000 auf nur noch 10.000 Barrel täglich. Die Glücksritter weichen mit ihren Fördertürmen erst an die Flanken des Hügels aus, dann bohren sie tiefer. Dank verbesserter Technik erlebt Spindletop in den Zwanzigerjahren einen zweiten Boom, in dem erneut viele Millionen Barrel Öl gefördert werden. Zu diesem Zeitpunkt sprudelt es bereits auch an anderen Orten aus dem Boden, im Westen von Texas genauso wie in Kalifornien – die USA sind im Ölfieber. Der Kraftstoff schafft eine ungekannte Mobilität: Waren im Jahr 1900 nur 8000 Pkw auf den Straßen, sind es 1910 bereits 458.000 und weitere zehn Jahre später 8,1 Millionen.
Amerikas Öl treibt die Panzer der Alliierten an – und hilft beim Aufbau Europas
Für die US-Regierung bedeutet das Öl einen gewaltigen Machtzuwachs. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts werden 70 Prozent des Öls weltweit in den USA gefördert. Im Ersten Weltkrieg treibt es die Lastwagen, Panzer und Flugzeuge der Alliierten an. „Sie schwammen auf einer Welle von Öl zum Sieg“, konstatiert ein britischer Staatsmann später. Da hat der Siegeszug des Öls gerade erst begonnen. Der Federal Aid Road Act von 1921 ist der Startschuss zum Ausbau eines landesweiten Straßennetzes, das spätere System der Highways und Interstates. Die Große Depression führt zwar auch die Ölindustrie in eine Krise, doch mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sind Kraftstoffe für Kampfflugzeuge, Zerstörer und Tanker wieder so gefragt, dass die USA im eigenen Land Geschwindigkeitsbegrenzungen einführen und Gas rationieren, um den Verbrauch einzuschränken.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligen sich die Amerikaner über den Marshallplan nicht nur mit Finanzhilfen, sondern maßgeblich auch mit Öl am Wiederaufbau in Europa. Die USA selbst erleben einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung, angetrieben von der zähflüssigen Energiequelle. Die Zahl der Autos verdoppelt sich zwischen 1945 und 1955 auf 52 Millionen. Fernsehgeräte und Kühlschränke halten Einzug in beinahe jeden Haushalt, Eigenheime und Vorstädte sprießen aus dem Boden. Autokinos und Fastfood-Restaurants sorgen für Freizeitvergnügen, der Drive-In wird geboren. Und überall sorgen Tankstellen dafür, dass den Amerikanern das Elixier für ihren mobilen Lebensstil nie ausgeht.
Eines der ersten Drive-through-Restaurants ist 1972 ein McDonald’s-Filiale in der Nähe von New York.
Die Rolle der USA als Ölnation Nummer eins bleibt allerdings nicht unangefochten. Spätestens in den Sechzigern wird klar, dass der Mittlere Osten ein ernstzunehmender Konkurrent ist. Die Amerikaner können ihren Durst ohnehin nicht mehr selbst stillen: Zwischen 1973 und 1977 steigen die Importe von 30 auf 50 Prozent. Wie sehr der Kraftstoff ihr Leben bestimmt, lernen die Amerikaner (genauso wie Deutschland) auf schmerzvolle Weise durch das Ölembargo von 1973. Vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen, die Benzinpreise steigen binnen weniger Monate um 40 Prozent. Die Regierung setzt das Tempolimit herab und verdonnert die Autoindustrie dazu, spritsparende Motoren zu bauen.
In einer Nation, die stolz auf harte Arbeit, starke Familien, tief verbundene Gemeinden und unseren Glauben an Gott war, verehren zu viele die Hemmungslosigkeit und den Konsum
US-Präsident Jimmy Carter 1979
Im Weißen Haus erkennt US-Präsident Jimmy Carter den gefährlichen Weg, den die USA eingeschlagen haben. „In einer Nation, die stolz auf harte Arbeit, starke Familien, tief verbundene Gemeinden und unseren Glauben an Gott war, verehren zu viele die Hemmungslosigkeit und den Konsum“, weist er 1979 seine Landsleute zurecht. Der Demokrat stößt Programme an, die alternative Energiequellen fördern sollen. Doch schon ein Jahr später wird er von Ronald Reagan abgelöst – und die Achtziger werden zum wegbereitenden Jahrzehnt für riskante Ölbohrungen in der Tiefsee.
1969 werden Offshore-Bohrungen verboten – allerdings nicht im Golf von Mexiko
Die ersten Bohrungen im Wasser gab es schon zur Jahrhundertwende, als Ölbohrtürme entlang von Piers errichtet wurden. Es folgten Bohrtürme auf Seen, etwa dem Caddo Lake in Louisiana. Ins offene Meer traute sich aber niemand. Nachdem Ende der 40er-Jahre im Golf von Mexiko Ölfelder entdeckt worden waren, lief 1954 die erste mobile Plattform Mr. Charlie in einem Schiffswerk in Louisiana vom Stapel. Nach einem Unfall 1969, bei dem zwischen 80.000 und 100.000 Barrel Öl vor Santa Barbara an der kalifornischen Küste ausliefen, wurden Offshore-Bohrungen auf den Golf von Mexiko und Alaska begrenzt.
Während die amerikanische Wirtschaft und mit ihr die Ölindustrie in den 80er-Jahren eine Rezession durchmacht, experimentieren die großen Konzerne mit schwimmenden Plattformen, die tiefer bohren und – so die Hoffnung – mehr Öl fördern können. Immer weiter dringen Conoco, BP, Mobil und Exxon ins Meer vor, immer öfter haben sie dank neuer Technologien Erfolg. Während die Förderung an Land stetig abnimmt, steigt die Offshore-Fördermenge ab 1991 mehr als ein Jahrzehnt lang pausenlos bis auf zwei Millionen Barrel pro Tag.
Doch die Technologie dahinter hat ihre Tücken: Um die immens teuren Bohrinseln rentabel zu machen, sind die Einsätze streng durchkalkuliert. Neue Ölfelder müssen innerhalb eines strikten Zeitplans erfolgreich erschlossen werden, damit sie für die Konzerne profitabel sind. Eine der modernsten Tiefseeplattformen, die Deepwater Horizon, soll 2010 in nur 21 Tagen ein neues Bohrloch im Macondo-Ölfeld im Golf von Mexiko erschließen. Doch das „Höllen-Bohrloch“, wie es die Arbeiter nennen, macht immer wieder Probleme, die Bohrung dauert 43 Tage. Die Verzögerung kostet den Ölförderer BP 21 Millionen Dollar.
Beim Deepwater-Horizon-Unglück laufen 800 Millionen Liter Öl aus
Aus Sorge um den Profit machen die Manager am 20. April 2010 bei den letzten Sicherheitstests Druck. Es kommt zum Blowout, zwei Explosionen erschüttern die Bohrinsel. Elf Männer sterben. Die Plattform brennt zwei Tage, bevor sie im Golf versinkt. Weil sie dabei das Förderrohr aus dem Bohrloch reißt, treten in den kommenden Wochen rund 800 Millionen Liter Öl aus dem Bohrloch aus und verseuchen den Golf von Mexiko. Auf dem Höhepunkt der Umweltkatastrophe bekämpfen 47.000 Menschen die Ölpest, das Ökosystem leidet bis heute.
Schon vor der Deepwater-Horizon-Katastrophe entdecken Teile Amerikas ihr Gewissen für die Umwelt. US-Vizepräsident Al Gore macht sich in den Neunzigern für mehr Umweltschutz stark, sein Chef Bill Clinton bringt 1993 eine Verordnung auf den Weg: Autos sollen künftig weniger schädliche Abgase freisetzen. Es ist eine Chance zur Erforschung neuer Antriebe. Doch die Autoindustrie ist nicht bereit, auf Öl zu verzichten, und bewirbt SUVs, die von der Verordnung ausgenommen sind. Bald tauschen Amerikaner in Massen ihre Zwei- und Viertürer gegen immer größer werdende „Stadtgeländewagen“.
„Amerika ist süchtig nach Öl“, seufzt Clintons Nachfolger George W. Bush in seiner Rede an die Nation 2006 – und kündigt an, bis zu 75 Prozent der Importe aus dem Nahen Osten mit Ethanol und anderen Energiequellen ersetzen zu wollen. Schon die Aussicht auf ein verknapptes Angebot verstärkt die Nachfrage. Die Preise klettern in neue Höhen und erreichen im Sommer 2008 das Allzeithoch von 147 Dollar pro Barrel. Unter Bushs Ägide fällt auch der Irakkrieg von 2003, als dessen Ursache nicht zuletzt der US-Zugang zu den Ölquellen des Landes gilt.
Ausgerechnet in der Amtszeit Obamas schafft Fracking den Durchbruch
Einen neuen Höhepunkt erreicht die Ölförderung in den USA ausgerechnet unter Bushs gerade in Deutschland so beliebtem Nachfolger Barack Obama. Obwohl der den Klimawandel als Gefahr erkennt und Verordnungen zum Umweltschutz auf den Weg bringt, fällt in seine Amtszeit der Durchbruch der umstrittenen Fracking-Technologie.
Frühe Formen von Fracking – Bohrlöcher mittels Dynamit oder Nitroglyzerin aufzubrechen, um die Fördermenge zu erhöhen – gab es schon in den ersten Tagen der konventionellen Ölförderung. Ab 1949 verbreitet sich hydraulisches Fracking: Unter hohem Druck wird eine Mischung aus Wasser und Chemikalien in das Bohrloch gepresst, um Risse im Gestein zu vergrößern und den Durchfluss von Öl und Gas zu erhöhen. Zur Jahrtausendwende setzt sich die Technik dank des texanischen Ingenieurs und Ölunternehmers George Mitchell am Markt durch.
Seit 2009 ist die Menge an Öl, die durch Fracking gewonnen wird, stetig gestiegen. Nach Jahrzehnten der Ölimporte haben sich die USA wieder vor Saudi-Arabien und Russland an die Spitze der Förderländer gesetzt.
Aber die Technik bringt hohe Kosten für die Umwelt mit sich, von kontaminiertem Wasser bis zu Erdbeben in den Fördergebieten. Zudem ist sie mit einem immensem finanziellen Aufwand verbunden. Folgt man der durch ihre Artikel zum Enron-Skandal bekannt gewordenen US-Journalistin Bethany McLean, ist Fracking sogar ein Minusgeschäft. Denn die Fördermenge eines Fracking-Bohrlochs fällt im zweiten Jahr nach der Erschließung dramatisch ab: Während sie bei konventionellen Bohrlöchern innerhalb eines Jahres um zehn Prozent zurückgeht, sind es bei Fracking-Bohrlöchern 69 Prozent. Um weiter fördern zu können, müssen die Unternehmen immer mehr Löcher bohren – und dafür immer neues Kapital einsetzen.
Amerikas Ölproduktion steht heute vielerorts still. Das Geschäft rentiert sich nicht
McLean spricht von einem „Fracking-Fiebertraum“: Bis 2017 hätten die 60 größten Förderer und Produzenten 34 Quartale in Folge Verluste erwirtschaftet. Die Coronakrise verschärft die Probleme der Branche. Hinzu kommt, dass Saudi-Arabien und Russland sich über ihre Fördermengen streiten. Das Überangebot am Markt hat zu einem empfindlichen Preisrutsch geführt. Im April 2020 war der Preis sogar zum ersten Mal in der Geschichte negativ: Weil die Lager übervoll waren, zahlten die Lieferanten ihren Kunden Geld dafür, dass sie ihnen das Öl abnahmen.
Die Produktion steht in den USA vielerorts still, Zehntausende Arbeiter verlieren in Texas ihre Jobs. Für die ohnehin angeschlagenen Fracking-Unternehmen ist die Entwicklung fatal: Zahlreiche Unternehmen melden Insolvenz an. Jetzt sei die Zeit gekommen, den finanziellen und ökologischen Schaden zusammenzurechnen, schrieb Bethany McLean kürzlich in der „New York Times“. Die USA könnten die Krise zum Aufbruch in ein neues Energiezeitalter nutzen.
Immerhin ist das Ölmekka des Landes auch der Geburtsort einer grünen Revolution in Amerika: Texas ist der größte Produzent von Windenergie in den USA.