Erste deutsche Arktisexpeditionen

  • Search09.06.2020

Petermanns Polfahrt

Mit einer bizarren Theorie über den Nordpol stößt der Kartograf August Petermann vor 150 Jahren die deutsche Polarforschung an. Die ersten Expeditionen schrammen knapp an der Katastrophe vorbei – und leisten doch Großes.

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    August Petermanns Polarexpedition: Unter dem Jubel der Bevölkerung legen die Expeditionsschiffe „Germania“ und „Hansa“ 1869 in Bremerhaven ab. Ihr Ziel: das Polarmeer.

    Unter dem Jubel der Bevölkerung legen die Expeditionsschiffe „Germania“ und „Hansa“ 1869 in Bremerhaven ab. Ihr Ziel: das Polarmeer.

    Von Volker Kühn

    Der junge deutsche Kartograf, der im Februar 1852 vor der Royal Geographical Society in London steht, um der größten Seefahrernation der Welt zu erklären, was ihre Kapitäne falsch machen, hat seinen Auftritt mit einer Medienkampagne vorbereitet. Er hat auf eigene Kosten einen „Vorschlag an die britische Öffentlichkeit“ gedruckt und so lang Briefe an Englands Tageszeitungen geschrieben, bis der ehrwürdigen Geografenvereinigung keine andere Wahl blieb, als ihn einzuladen. Immerhin behauptet dieser August Petermann, die Lösung für ein Rätsel zu besitzen, das die Briten seit Jahren in Atem hält. Da kann es nicht schaden, ihn anzuhören – ganz gleich, wie abenteuerlich seine Hypothese klingen mag.

    Trotz seiner erst 31 Jahre hat sich Petermann mit modernen Karten zur Bevölkerungsverteilung bereits einen Namen in der Hauptstadt des Empires gemacht. Zudem hat er in Berlin für Alexander von Humboldt gearbeitet, jenen Naturforscher, der seit seiner legendären Südamerikareise Weltruhm genießt.

    Grund genug also für ein gewisses Selbstbewusstsein. Die Hypothese, die er nun präsentiert, ist dennoch mindestens mutig, wenn nicht tollkühn. Petermann, der es in seinem Leben nie weiter in den Norden als bis Schottland schaffen wird, erklärt den Mitgliedern der Königlich Geografischen Gesellschaft, dass er wisse, wo man die verschollene Arktisexpedition von Sir John Franklin suchen müsse. Der Polarforscher ist sieben Jahre zuvor mit den Schiffen „Erebus“ und „Terror“ aufgebrochen, um die Nordwestpassage zu finden, dann aber von der Bildfläche verschwunden. Seit 1848 entsenden die Briten eine Rettungsexpedition nach der anderen, doch alle kehren erfolglos zurück.

    Weil sie an der falschen Stelle suchen, sagt Petermann.

    August Petermann: Der Kartopgraf glaubte an die Theorie des „Eisfreien Polarmeers“ und schickte im 19. Jahrhundert mehrere Expeditionen in den Norden, die tragisch scheiterten.

    Expeditionen am Schreibtisch: August Petermann (1822–1878) glaubt bis zum Ende seines Lebens an das eisfreie Polarmeer.

    Petermann ist überzeugt, dass Franklin nicht im Packeis des kanadisch-arktischen Archipels steckt, sondern dass er das gefunden hat, was als mystische Idee seit dem 16. Jahrhundert unter Entdeckern und Walfängern kursiert: das eisfreie Polarmeer. „Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass im Norden der sibirischen Küste ein Meer existiert, das zu allen Jahreszeiten offen ist; es besteht kein Zweifel, dass ein ebensolches offenes Meer auch auf der amerikanischen Seite existiert; es ist sehr wahrscheinlich, dass diese beiden offenen Meere einen großen, schiffbaren Arktischen Ozean bilden“, schreibt Petermann im „Vorschlag an die britische Öffentlichkeit“. Der Packeisgürtel, auf den Schiffe im hohen Norden stoßen, reiche nur bis zum 80. Breitengrad. Nördlich davon werde das Wasser wärmer.

    Völlig aus der Luft gegriffen sind seine Überlegungen nicht. Zum einen beruft er sich auf Berichte von Naturforschern wie dem Balten Ferdinand von Wrangel, der bei einer Schlittenhundexpedition nördlich von Sibirien offene Wasserflächen gesichtet haben will, sogenannte Polynjas. Für Petermann ein klares Indiz, dem nur endlich ein beherzter Kapitän nachgehen müsse. Nach Worten des Historikers Phillip Felsch macht Petermann an dieser Stelle zum ersten Mal von einer Form Gebrauch, ohne die der spätere Wettlauf zum Nordpol wohl nie zustande gekommen wäre: vom arktischen Konjunktiv. „Um ein nicht existierendes Dampfschiff ergänzt, enthielt Wrangels Beobachtung ein verlockendes Versprechen“, schreibt Felsch in seinem 2010 erschienenen Buch „Wie August Petermann den Nordpol erfand“.

    Zum anderen argumentiert Petermann auf Basis der Erkenntnisse der frühen Klimawissenschaft. Die Funktion des Golfstroms als in den Norden verlaufende Wärmepumpe ist bereits bekannt. Petermann zufolge wird der Strom im Sommer durch das kalte Wasser aus den mächtigen sibirischen Flüssen blockiert, weshalb sich ein Packeisgürtel bilde. Im Winter allerdings, wenn die Flüsse gefroren sind, setze der Golfstrom seinen Weg nach Norden fort und mache westlich von Spitzbergen eine Passage ins Polarmeer frei. Auch andere vertreten solche Thesen, etwa der US-Marineoffizier Silas Bent, der den Kuroshio-Strom vor Japan untersucht hat.

    Zwei Strömungen halten den Nordpol eisfrei, glaubt der US-Marineoffizier Silas Bent, auf den diese Karte Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgeht: der atlantische Golfstrom und der pazifische Kuroshio.

    Petermanns Theorie wird in London zwar kurz diskutiert, dann aber verworfen. „Die Idee, dass Franklin und seine Begleiter ihre Zeit in der Nähe des Nordpols vertrödeln, ist zu absurd, um die geringste Erwägung zu verdienen“, heißt es in einem Leserbrief der „Times“. Zudem hat sich die Notwendigkeit einer weiteren Suche bald erledigt: 1854 stößt der Schotte John Rae bei Inuit auf Gegenstände von Franklins Schiffen. Sie berichten ihm von Weißen, die sich hungernd durch das Land geschleppt hätten und nach und nach gestorben seien; sogar von Kannibalismus unter Franklins Männern ist die Rede. Die Berichte stellen sich später als zutreffend heraus: Franklins Expedition ist katastrophal gescheitert, niemand hat überlebt.

    Nachdem das Interesse der Briten an der Arktis damit schlagartig erlischt, sucht Petermann nun in der Heimat Hilfe, um seine Theorie zu beweisen. Und tatsächlich findet er bald Fürsprecher sowohl in Preußen als auch in Österreich, das damals noch über Häfen an der Adria und eine Marine verfügt. Am Ende geht die erste deutsche Nordpolarexpedition aber auf eine Initiative aus Bremen zurück. Unter dem Kommando Carl Koldeweys von der Bremer Steuermannschule sticht 1868 ein einmastiger Frachtsegler mit zwölf Mann an Bord in See: die noch heute im Deutschen Schifffahrtsmuseum Bremerhaven erhaltene „Grönland. Petermanns detaillierte Anweisungen sehen vor, dass die Expedition an der Ostküste Grönlands so weit nach Norden vordringt wie möglich. Sollte dies nicht möglich sein, soll sie eine Insel nordöstlich von Spitzbergen suchen.

    Tatsächlich stößt die „Grönland“ bis zum 81. Breitengrad vor; bis heute hat es kein Segelschiff ohne Hilfsmotor weiter in den Norden geschafft. Die eigentlichen Ziele aber erreicht sie nicht: Sowohl vor Grönland als auch bei Spitzbergen versperrt Packeis den Weg. Nach vier Monaten kehren die Männer wohlbehalten zurück.

    Mit drei Beibooten erreicht die Besatzung der „Hansa“ 1870 die Missionsstation Friedrichsthal in Südgrönland. Das Mutterschiff liegt da bereits auf dem Grund des Polarmeers.

    Weit dramatischer verläuft Koldeweys zweite Expedition, die im Juni 1869 mit Pomp und Gloria in Bremerhaven aufbricht. Selbst Preußens König Wilhelm I. und sein Kanzler Otto von Bismarck geben sich am Kai die Ehre, als der Schraubendampfer „Germania“ und die Schonerbrigg „Hansa“ mit zusammen 31 Mann ablegen. Auch diesmal gibt Petermann ihnen seitenlange Instruktionen auf den Weg, um endlich einen Beleg für den eisfreien Nordpol zu erhalten. Und auch diesmal läuft nichts wie geplant.

    Das Unheil beginnt, als sich die Schiffe im Juli aufgrund eines missverstandenen Signals vor der grönländischen Küste verlieren. Beide versuchen, den Packeisgürtel zu durchbrechen, die „Hansa“ jedoch bleibt im September stecken und friert ein.

    Die 14 Mann an Bord schaffen ihre Ausrüstung und den Proviant auf die Eisscholle und driften mit ihr durchs arktische Meer ähnlich wie 150 Jahre später der deutsche Forschungseisbrecher „Polarstern“ auf der Mosaic-Expedition. Mitte Oktober wird die „Hansa“ vom Eis zerquetscht und sinkt. 200 Tage treiben die Männer auf der Scholle nach Südwesten, bis sie im Mai 1870 fast komplett weggeschmolzen ist. Jetzt setzen sie ihre Fahrt in den drei Beibooten der „Hansa“ fort. Einen weiteren Monat später erreichen sie entkräftet die Missionsstation Friedrichsthal in Südgrönland. Von dort kehren die Männer mit einem dänischen Segelschiff nach Europa zurück.

    August Petermanns Polarexpeditionen im 19. Jahrhundert scheiterten tragisch. Der Kartograf, der es nie weiter in den Norden als bis Schottland schaffte, glaubte an die Theorie vom Eisfreien Polarmeer.

    Das Polarfieber hat Petermann auch dann noch gepackt, als eine Expedition nach der anderen erfolglos von der Suche nach einem eisfreien Arktischen Ozean zurückkehrt.

    Der „Germania“ hingegen gelingt es, den ersten Packeisgürtel zu durchbrechen und ein ganzes Stück weiter in den Norden vorzustoßen. Dann muss auch sie vor dem Eis kapitulieren. Im September bereitet Koldewey in einer „Germaniahafen“ getauften Bucht der Sabine-Insel die Überwinterung vor.

    Während der folgenden Monate nehmen die Männer astronomische, meteorologische, botanische und erdmagnetische Studien vor und erkunden mit Schlitten die Umgebung. Als das Eis im Juli zu schmelzen beginnt, wagt sich die „Germania“ erneut in den Norden vor. Doch auch diesmal stößt sie bald auf undurchdringliches Packeis. Zwar entdecken Koldeweys Männer zahlreiche geografisch interessante Orte und geben ihnen Namen, die viele noch heute tragen – nicht zuletzt der Kaiser-Franz-Joseph-Fjord und die fast 3000 Meter hohe Petermannspitze. Sie stoßen auch als erste im Osten von Grönland auf Moschusochsen und entdecken archäologische Spuren von Inuit.

    Doch von Petermanns Polynja ist nirgends eine Spur. Und so kehren sie um. Im Juli 1870, vor fast genau 150 Jahren also, kommen sie zurück nach Bremerhaven, gut zwei Monate vor der Besatzung der „Hansa“.

    Petermann allerdings beharrt weiter auf seiner Theorie. Selbst dann noch, als eine weitere österreichisch-ungarische Expedition ebenfalls im Eis stecken bleibt. Noch 1877 ermutigt er ein US-Expeditionsteam, das mit dem Forschungsschiff „Jeannette“ über die Beringstraße zum Nordpol vordringen will, ausdrücklich zu seinem Vorhaben.

    Die Expedition endet in einer Katastrophe mit vielen Toten – doch das erlebt der Kartograf nicht mehr. Er schießt sich 1878 eine Kugel in den Kopf. Ob Familienprobleme eine Rolle spielen, eine manisch-depressive Veranlagung oder das Scheitern all der Expeditionen, bleibt unklar. Sein Biograf Felsch schreibt, er erspare sich so zumindest die Falsifikation seiner Theorie.

    Dass der Klimawandel diese Theorie irgendwann doch noch in den Bereich des Möglichen rücken würde, konnte Petermann nicht ahnen.

    Literaturtipps
    Philipp Felsch, Wie August Petermann den Nordpol erfand, Sammlung Luchterhand 2010
    Hampton Sides, Die Polarfahrt: Von einer unwiderstehlichen Sehnsucht, einem grandiosen Plan und seinem dramatischen Ende im Eis, Mare 2019
    Michael Palin, Erebus: Ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See, Mare 2019
    Carl Koldewey, Die erste deutsche Nordpolar-Expedition im Jahre 1868 (online abrufbarer Expeditionsbericht)

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