Der Supervulkan: Die Explosion des Tambora im April 1815 ist die gewaltigste der Menschheitsgeschichte. Ihre Sprengkraft entspricht der von 170.000 Hiroshima-Bomben. Noch viele Jahre sind die Folgen des Ausbruchs spürbar.
1816: Das Jahr ohne Sommer
- 13.04.2017
Klimakatastrophe im Zeitraffer
Von Volker Kühn
Das Jahr, in dem die Welt aus den Fugen gerät, das vieltausendfachen Tod und das Elend von Millionen mit sich bringt, kündigt sich in Farben von unwirklicher Schönheit an. Die Sonnenuntergänge im Winter 1815/16 sind die intensivsten, an die sich die Zeitgenossen erinnern. Flammenmeere in Gelb, Rot und Orange, in Rosa, Violett und Lila stehen allabendlich am Himmel; in London greift der Maler William Turner genauso überwältigt zum Pinsel wie sein Kollege Caspar David Friedrich in Greifswald.
Doch es ist eine unheilverkündende Schönheit, die sie auf ihre Gemälde bannen. Denn 1816 wird ein Horrorjahr, wie es die Menschheit zuvor nicht erlebt hat.
Endlose Wolkenbrüche gehen über Europa und Nordamerika nieder, Flüsse treten über die Ufer, in Gewitterstürmen schwellen Bäche zu Strömen, die Dörfer mitreißen. Auch die spärlichen regenfreien Tage bringen kaum Sonnenlicht. Nebelmeere liegen über dem Land, und es bleibt so kalt, dass selbst im August an der Ostküste der USA immer wieder Schnee fällt.
1816 geht als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein.
Die Folgen dieser abrupten Klimaabkühlung sind grauenvoll. Missernten, Hungersnöte und Seuchen plagen die Menschen in Europa, Tausende wandern in die Neue Welt aus, nicht wissend, dass auch dort das Wetter verrücktspielt. In bitteren Briefen beklagen sie ihr Leid, verzweifelt fragen sie den Allmächtigen, warum er solches Elend über seine Schöpfung schickt.
Was die Welt im Jahr 1816 heimsucht, ist jedoch kein strafender Gott. Es sind die Folgen eines Vulkanausbruchs am anderen Ende der Welt.
1200 Kilometer entfernt in Batavia hält man den Knall für einen Kanonenangriff
Im April 1815 explodiert auf der Insel Sumbawa östlich von Java der Tambora. Schon seit 1812 künden leichte Erdstöße und Rauch über der damals noch 4300 Meter hohen Caldera das Erwachen dieses Supervulkans an, der über mehrere Jahrhunderte in festem Schlaf gelegen hatte.
Am 5. April gibt es eine erste Eruption, die noch im 1200 Kilometer entfernten Batavia zu hören ist, heute als Jakarta bekannt. Man hält sie für Kanonendonner und bereitet sich auf einen Angriff vor. Am 10. April ist das Explosionsgeräusch dann so laut, dass selbst im 2000 Kilometer fernen Sumatra die Menschen besorgt zum Himmel schauen.
Glühende Landschaften: Die Aschewolke des Tambora legt sich wie ein Schleier um die Erde und löst eindrucksvolle Sonnenuntergänge aus, selbst Jahre später noch. Dieses Gemälde von William Turner entstand 1838.
An diesem Tag fliegt der Tambora regelrecht in die Luft, Vulkanologen werden später vom heftigsten Ausbruch seit mindestens 22.000 Jahren sprechen. Fast ein Drittel der gewaltigen Caldera wird weggesprengt, sie ist anschließend nur noch 2800 Meter hoch.
Der in der Region stationierte britische Leutnant Owen Phillips notiert damals:
„Drei getrennte Feuersäulen stiegen vom Tambora in sehr große Höhen auf, wo sie sich in der Luft in einer bedenklichen, chaotischen Weise vereinigten. Zwischen 9 und 10 Uhr begann es, Asche zu regnen, und ein heftiger Wirbelsturm zog auf, der im Dorf Sang’ir fast jedes Haus zerstörte, die stärksten Bäume an ihren Wurzeln ausriss und fortwirbelte, zusammen mit Menschen, Pferden, Rindern und was immer in seine Bahn kam. Der Wirbelsturm dauerte ungefähr eine Stunde, während der keine Explosionen zu hören waren. Von Mitternacht bis zum Abend des 11. April setzten sie sich ununterbrochen fort, wenngleich mit abgeschwächter Kraft. Bis zum 15. Juli hörten die Explosionen nicht auf.“
Tausende sterben beim Ausbruch. Noch gravierender sind die globalen Folgen
Heute schätzt man die Sprengkraft der Eruption auf das 170.000-Fache der Hiroshima-Bombe. Im Radius von 1300 Kilometern geht Ascheregen nieder, 600 Kilometer rings um die Insel bleibt es zwei Tage lang fast komplett dunkel. Die Vermutungen darüber, wie viele Menschen unmittelbar beim Ausbruch und dem folgenden Tsunami umkommen, gehen auseinander, von bis zu 100.000 ist die Rede.
Die weltweiten Folgen allerdings sind noch gravierender. Denn der Ausbruch des Tambora verändert das Klima vor allem auf der Nordhalbkugel über mehrere Jahre. In Deutschland etwa liegen die Temperaturen im Sommer 1816 um 1,2 bis 2,7 Grad niedriger als im Mittelwert.
Nicht einmal drei Grad – das klingt unspektakulär. Schaut man sich aber die dadurch ausgelösten Unwetter, Missernten und Epidemien an, wird klar, wie gefährlich die gegenwärtige Erderhitzung ist und warum sich die Weltgemeinschaft beim Klimagipfel in Paris darauf verständigt hat, sie möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Aber warum kann ein einzelner Vulkan in Indonesien das Weltklima so dramatisch verändern?
100 Kubikkilometer Tambora-Asche legen sich wie ein Schleier um die Erde
Es ist vor allem die schiere Menge der beim Ausbruch des Tambora freigesetzten Asche. Mehr als 100 Kubikkilometer schleudert der Vulkan 1815 in die Luft, mit einer solchen Wucht, dass die Staubpartikel und Schwefelgase bis zu 43 Kilometer hoch in die Stratosphäre aufsteigen.
Dort bilden sie winzige Tröpfchen, Aerosole genannt, die das Sonnenlicht absorbieren. Wegen der Äquatorlage des Tambora verteilen sie sich wie ein Schleier um die Erde – und ziehen so eine ganze Kette katastrophaler Folgen nach sich: erst Kälte, Schnee und Regenfluten, dann steigende Lebensmittelpreise, Hunger und Krankheiten, schließlich soziale Unruhen und Massenauswanderung in die USA.
Das Jahr danach: Als die Bauern allmählich wieder bessere Ernten einfahren, atmen die Menschen auf. Die Klimakapriolen halten rund drei Jahre an. Das Gemälde zeigt den Einzug der Erntewagen 1817 in Ravensburg, das damals zum Königreich Württemberg gehört.
Doch nicht nur Europa und Nordamerika leiden unter den Auswirkungen des vulkanischen Winters. Auch in China verheeren Überschwemmungen die Ernten. In Indien dagegen kommt es zu Dürren, zum ersten Mal seit Menschengedenken bleibt der Monsun komplett aus. Fast überall auf der Erde schlägt das Klima Kapriolen. Russland, das glimpflich davonkommt, schickt Getreidehilfslieferungen, etwa ins damalige Königreich Württemberg.
Die Menschen versuchen, so gut es geht, mit der Klimakatastrophe zurechtzukommen, die unvermittelt über sie hereingebrochen ist. Dennoch kommt es zu Unruhen, weil die Lebensmittelpreise so stark anziehen, dass viele Hunger leiden. In den USA setzt wegen der Not in Neuengland ein Treck nach Westen ein, in rascher Folge werden Städte in Staaten wie Ohio, Illinois und Indiana gegründet.
Als die Pferde sterben, erfindet ein Freiherr den Vorläufer des Fahrrads
Zugleich macht die Not erfinderisch. Im badischen Karlsruhe etwa entwickelt Karl Freiherr von Drais eine „Laufmaschine“, den Vorläufer des Fahrrads – vermutlich als Reaktion auf das Pferdesterben. Und den Chemiker Justus von Liebig bewegen die Missernten dazu, an Mineraldüngern zu forschen, die für bessere Erträge sorgen sollen.
Gut drei Jahre spielt das Wetter verrückt, nur langsam kehrt die Normalität zurück. Die Folgen des Vulkanausbruchs treffen die Menschheit aber noch lange. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass die Ausbreitung einer Choleraepidemie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt auf den Tambora-Ausbruch zurückgeht. Hungernde Menschen aus Indien tragen den Erreger ab 1816 zunächst nach Bengalen. Von dort kommt er über Mekka nach Europa und 1832 schließlich nach New York.
Auch die glühenden Sonnenuntergänge, die Caspar David Friedrich und William Turner so ergreifen, zeigen sich noch Jahre länger. Sie sind eine Folge der Aerosole in den höheren Luftschichten.
Viel düsterer als in der Malerei sind die Spuren, die der Tambora in der Literatur hinterlässt, wie eine Episode vom Genfer See zeigt. Dort trifft sich im Juni 1816 eine Gruppe junger Engländer, zu denen die damals 18-jährige Mary Wollenstonecraft Godwin und der Dichter Lord Byron gehören.
Im Katastrophenjahr entsteht eine der schauerlichsten Figuren der Literatur
Die erhoffte Sommerfrische in der Schweiz allerdings fällt aus. Das Land gehört zu den am schwersten von der Klimaverschiebung betroffenen Regionen. Es ist so kalt und finster, dass sich die Gruppe schon mittags um den Kamin versammelt. Frustriert schreibt Godwin:
„Dieser Sommer ist ein einziges Grauen. Ein fast ununterbrochener Regen fesselt uns ans Haus. Die Gewitter, die uns heimsuchen, sind gewaltiger und schrecklicher, als ich dies je erlebt habe. Wir sehen, wie sie sich vom jenseitigen Ufer des Sees her nähern, sehen, wie die Blitze zwischen den Wolken spielen und in gezackten Mustern auf die Gipfelmassive des Jura einstechen, der dunkel ist durch die Schatten der überhängenden Wolken.“
Um seine Reisegefährten bei Laune zu halten, schlägt Lord Byron vor, sich gegenseitig selbstverfasste Schauergeschichten vorzulesen. Auch die junge Godwin greift zum Stift und schreibt den vielleicht düstersten Text von allen. Er wird zwei Jahre später als Roman erscheinen und sie unter dem Namen Mary Shelley weltberühmt machen: „Frankenstein“.
Die Figur des Wissenschaftlers, der in einer sturmumtosten Novembernacht aus zusammengeflickten Leichenteilen Leben erschafft – sie ist letztlich ein Geschöpf des Tambora.
Geschöpf des Tambora: So düster wie das Jahr ohne Sommer ist auch die Kreatur, die Mary Shelley 1816 erschafft. „Frankenstein“ wird ein Welterfolg, der seit 1910 wiederholt das Kino inspiriert. Dieser Frankenstein stammt aus der ersten Tonverfilmung des Romans 1931.