Die „Polarstern“ ist im Verlauf der Mosaic-Expedition das Zuhause von mehr als 600 Forschern aus aller Welt.
Forscherin über Arktis-Expedition
- 18.05.2020
„Dreimal pro Woche macht die Bar auf“
Im September ist der deutsche Forschungseisbrecher „Polarstern“ zu einer spektakulären Expedition in die Arktis aufgebrochen. Noch bis zum Herbst wird das Schiff eingefroren im Eis über das Nordpolarmeer driften. Mehr als 600 Forscher sammeln in dieser Zeit eine nie dagewesene Fülle an Daten über den Winter in der Zentralarktis. Die Arbeit in der Kälte und Dunkelheit der Polarnacht ist hart. EnergieWinde hat mit Dr. Dorothea Bauch über ihre Zeit an Bord gesprochen. Die 56-jährige Physikerin arbeitet am Geomar-Forschungszentrum und an der Universität Kiel. Als Leiterin des sogenannten Methanprojekts war sie während der ersten Etappe (Leg 1) von Mitte September bis Mitte Dezember auf dem Schiff.
Frau Dr. Bauch, Sie waren schon öfter auf Expeditionen in der Arktis. War Mosaic dennoch eine neue Erfahrung?
Bauch: Auf jeden Fall. Normalerweise sind Eisbrecher im Sommer in der Arktis unterwegs. Die Sonne scheint, die Temperaturen liegen bei um die null Grad. Im Winter ist es minus 20 oder gar minus 25 Grad kalt. Durch den Wind, den Windchill-Faktor, fühlt es sich an wie minus 40 Grad. Wir tragen doppelte Handschuhe: Fingerhandschuhe, um zu arbeiten, und Fäustlinge, in die wir die Hände zum Aufwärmen stecken. Man darf kein Gerät mit der bloßen Hand anfassen, weil man sich sofort Erfrierungen holt. Hinzu kommt die Dunkelheit. Als wir im September unseren Startpunkt in der Arktis erreicht hatten, stand die Sonne tagsüber schon hinter dem Horizont, aber es war noch hell. Während der Polarnacht aber ist es rund um die Uhr dunkel. Neben der vielen Arbeit macht das extrem müde. Meine Zimmerkollegin und ich haben oft neun Stunden geschlafen, hätten aber sogar noch länger schlafen können.
Dorothea Bauch vor den Eisbrechern „Kapitan Dranitsyn“ (links) und „Polarstern“: Das russische Schiff ist eines von mehreren, die die Expedition mit Lebensmitteln und Material versorgen.
Auf der „Polarstern“ geben sich mehr als 600 Forscher gewissermaßen die Klinke in die Hand. Ergibt das nicht ein riesiges Chaos?
Bauch: Ein geregeltes Chaos würde ich sagen. Nein, im Ernst, die Situation ist schon ganz anders als bei normalen Expeditionen. Normalerweise hat man seine Geräte dabei und führt seine eigenen Experimente und Messungen durch. Bei Mosaic aber werden über ein ganzes Jahr Daten gesammelt. Wir messen daher auch für die Kollegen mit. Das erhöht vor allem den Aufwand bei der Archivierung der Daten. Wir müssen bei allen Messwerten genau angeben, mit welchen Geräten wir arbeiten. Geht ein Messgerät kaputt, müssen wir protokollieren, dass wir es getauscht haben, weil das neue Gerät bei der Messgenauigkeit eventuell von dem anderen abweicht. Am Anfang habe ich mich gefragt, ob ich jetzt tatsächlich jedes Maßband im System registrieren muss.
Wie kann man sich das tägliche Miteinander bei der Arbeit vorstellen?
Bauch: Es gibt deutlich mehr Meetings als auf anderen Expeditionen. Für jeden Tag muss geplant werden, wer welches Material braucht – Schnee-Scooter oder Funkgeräte. Außerdem mussten Eisbärenwachen eingeteilt werden, die die Forscherinnen und Forscher begleiten und nach Eisbären Ausschau halten. Denn wenn man selbst arbeitet, hat man dafür kein Auge. Leg 1 war auch anders, weil kaum junge Forscherinnen und Forscher an Bord waren, aber viele erfahrene Kollegen um die 40 und 50 Jahre. Und die haben natürlich alle ihre ganz klaren Vorstellungen, wie etwas laufen muss. Da muss ich mich für meine eigene Sache manchmal stärker einsetzen, Dinge stärker aushandeln als sonst.
Kommt es dabei auch zum Streit?
Bauch: Nein, so weit geht es nicht. Im Grunde ist das Miteinander an Bord wie eine Großfamilie oder ein kleines Dorf. Mit manchen Kolleginnen und Kollegin kommt man sehr gut aus, mit anderen weniger. Interessant ist, dass die Menschen mit der Zeit authentischer werden. Niemand ist jeden Tag gut gelaunt. Manchmal spricht man beim Essen mit den anderen, manchmal will man eher für sich allein sein. Auch weiß ich, dass ich mich auf die anderen absolut verlassen kann, wenn ich Hilfe brauche. Das ist auf einem Schiff und bei einer solchen Expedition wirklich wichtig. Auch wenn man sich nicht unbedingt sympathisch ist, unterstützt man sich gegenseitig.
Die Mosaic-Expedition: Trailer des Alfred-Wegener-Instituts
Sie schlafen in Zweibettkabinen. Wie lebt es sich in der Enge?
Bauch: Ich hatte das Glück, die Kabine mit einer schwedischen Kollegin zu teilen, die ich schon bei einem Vorbereitungstreffen kennengelernt hatte und sympathisch fand. Während der Expedition ist zwischen uns eine richtig dicke Freundschaft entstanden. Ich wollte sie schon in Göteborg besuchen. Wir wollten zusammen in Schweden Ski fahren, aber wegen Corona hat das nicht geklappt. Während einer solchen Expedition gibt es kaum Freizeit. Wenn ich in der Kabine bin, dann meist, um zu schlafen. Die Arbeitstage sind lang. Für meine Forschung benötige ich Eisbohrkerne, die wir mit einem Bohrer aus der Eisscholle holen. Um Eisbohrkerne zu nehmen, brauchen wir zwei bis drei Stunden. Und dann ist da die aufwendige Arbeit im Labor und die Archivierungsarbeit am Computer.
Viele stellen sich eine Arktis-Expedition wie eine Abenteuerreise vor. Tatsächlich scheint es aber nicht mehr als Arbeit und Schlafen zu geben …
Bauch: Tatsächlich haben wir sehr lange Arbeitstage. Deshalb ist es sehr wichtig, einen eigenen Rhythmus zu finden und auch mal den Kopf frei zu bekommen. Sonst sieht man am Ende nur noch die Arbeit und das, was man alles nicht geschafft hat. Ich finde es auch wichtig, dass ich mich für andere mit einbringe. Ich habe mich deshalb ab und zu als Eisbärenwache einteilen lassen. Vor der Expedition hatte ich ein Schießtraining gemacht, das das Alfred-Wegener-Institut angeboten hatte. Und so konnte ich während der Expedition aushelfen, wenn die Kollegen für die Arbeit draußen eine Eisbärenwache brauchten. Zwar sind auch professionelle Eisbärenwächter mit an Bord. Die können aber nicht alle Einsätze auf dem Eis begleiten. In 70 Prozent aller Fälle müssen deshalb andere Wissenschaftler als Eisbärenwache mit raus. Zum Glück haben wir auf dieser Expedition aber nur Eisbären in angemessener Entfernung gesehen.
„Zwischen uns ist eine richtig dicke Freundschaft entstanden“: Dorothea Bauch (rechts) und ihre Zimmerkollegin Katarina Abrahamsson.
Wie haben Sie an Bord den Kopf frei bekommen?
Bauch: Ich mache Yoga und habe etwa dreimal pro Woche zu einer Yoga-Runde in den Blauen Salon eingeladen, in dem normalerweise offizielle Konferenzen abgehalten werden. Wir haben die Stühle zur Seite geschoben und für unsere kleine Gruppe genug Platz gehabt. Am Ende waren wir so um die fünf Leute, die sich regelmäßig für eine Stunde getroffen haben. Für das Schiff waren extra noch Yoga-Matten angeschafft worden. Und dann gibt es die fast schon legendäre Zillertal-Bar – ein kleiner Raum hinter der Mannschaftsmesse. Dreimal pro Woche macht die Bar auf, wenn sich zwei Wissenschaftler finden, die den Dienst übernehmen und ausschenken. Man trägt sich dafür in eine Liste ein, und wer Lust hat, kommt vorbei. Während Leg 1 gab es auch zwei größere Feste. Dafür wurde das Vorbereitungslabor freigeräumt, in dem sich die Teams für die Außeneinsätze fertig machen. An Deck wurde gegrillt. Und drinnen war sogar so viel Platz, dass wir tanzen konnten. Bier und Alkohol gibt es auch. Die Kante gibt man sich bei solchen Festen aber natürlich nicht. Weil man nie weiß, was an Bord oder bei der Arbeit passieren kann, ist es wichtig, einen klaren Kopf zu behalten.
Sie waren für die Arbeitsgruppe Chemie zuständig, obwohl Sie Physikerin sind. Was genau haben Sie in den drei Monaten an Bord erforscht?
Bauch: Wir interessieren uns für das Wachstum des Meereises, das sich vor der sibirischen Küste bildet und dann langsam am Nordpol vorbei durch die Arktis driftet. Das Eis ist eine natürliche Barriere zwischen dem relativ warmen Ozean und der kalten Luft. Schmilzt das Eis, gelangt viel Energie aus dem Meer in die Atmosphäre. Auch findet zwischen der Luft und dem Wasser ein Gasaustausch statt. Wir wollen wissen, wann und wo sich das Eis bildet, wie stark es während der Drift durch die Arktis wächst oder schmilzt. Mosaic ist ja so einzigartig, weil es bisher an Messwerten aus dem Winter fehlte. Messungen wurden vor allem im Sommer gemacht – und daraus hat man versucht, die Situation im Winter zu konstruieren. Mosaic liefert jetzt erstmals eine große Datenmenge aus dem Winter, die auch dazu beiträgt, Klimamodelle zu verbessern.
Sie benötigen für Ihre Arbeit Eisbohrkerne. Was sagen Ihnen die Eisbohrkerne über die Situation in der Arktis?
Bauch: Wir untersuchen die Isotope des Sauerstoffs im Wasser und des im Eis eingeschlossenen Methans. An den Sauerstoffisotopen können wir zum Beispiel erkennen, ob sich das Eis eher nahe am Land in den Flussmündungen gebildet hat oder weiter auf See – weil das Flusswasser eher leichte Sauerstoffisotope enthält. Das Methan soll uns die Frage beantworten, wo Gase oder allgemein Spurenstoffe ins Eis eingeschlossen und beim Schmelzen wieder frei werden. Viele Gase die zwischen der Atmosphäre und dem Meer ausgetauscht werden, spielen beim Klimawandel eine wichtige Rolle. Die Methanmessungen zeigen uns, wie das Eis diesen Austausch beeinflusst.
Ihre Zeit auf der „Polarstern“ ist abgelaufen, die Arbeit aber geht für Dorothea Bauch weiter: Sie muss die gesammelten Daten auswerten.
Inzwischen sind Sie schon wieder mehrere Monate auf dem Festland. War die Rückkehr nach Kiel eine große Umstellung?
Bauch: Ich musste mich tatsächlich wieder an das normale Leben gewöhnen, daran, dass ich jetzt wieder Freizeit habe, aber auch daran, dass ich wieder selbst einkaufen und kochen muss. Und dann bietet das Schiff schon auch eine große Geborgenheit, von der ich mich entwöhnen musste. Andererseits ist es gut, jetzt wieder einen Alltag mit einem normalen eigenständigen Rhythmus zu haben. Und natürlich wartet weiter viel Arbeit auf mich. Die Methanwerte konnten wir direkt an Bord messen. Die Sauerstoffisotopenmessung aber ist aufwändiger. Die machen wir im Labor an Land. Wenn die Eiskernproben mit dem nächsten Mannschaftswechsel in Bremerhaven angekommen sind, geht die Arbeit erst richtig los.
Die Fragen stellte Tim Schröder.
Die Mosaic-Expedition …
… ist die bisher größte Forschungsreise durch die Arktis. Im vergangenen September hat sich vor der Küste Sibiriens der deutsche Eisbrecher „Polarstern“ im Meereis einfrieren lassen und driftet seitdem mit den Eismassen am Nordpol vorbei durch die Arktis. Erst im September dieses Jahres wird das schmelzende Eis das Schiff bei Spitzbergen wieder freigeben. Mehr als 600 Wissenschaftler werden in diesen zwölf Monaten vor Ort gewesen sein, um die Arktis zu erforschen, so viele wie nie zuvor. Sie arbeiten an Bord der „Polarstern“ und in Forschungscamps direkt auf dem Eis.
Ihre Ergebnisse werden einzigartig sein, denn bis heute hat niemand während eines ganzen arktischen Winters die Atmosphäre, das Eis und das Meer im Detail vermessen. Rund 140 Millionen Euro kostet die Expedition. Etwa die Hälfte trägt das Bundesforschungsministerium, den anderen Teil die internationalen Partner. Während sie eingefroren driftet, wird die „Polarstern“ von Eisbrechern aus Russland, Schweden und China versorgt. Auch Hubschrauber und Flugzeuge sind im Einsatz, um Wissenschaftler zu interessanten Punkten auf dem Eis zu bringen.
Die Arbeit draußen in der Kälte und der Dunkelheit der Polarnacht ist hart. Auch an Bord müssen die Forscher Abstriche in Sachen Komfort machen. Und trotzdem waren die Plätze heiß begehrt. Denn die Gelegenheit ist einmalig, und so sind Experten aus 20 Nationen und vielen verschiedenen Disziplinen mit dabei: Meeresbiologen untersuchen, wie sich das Leben in der zentralen Arktis im Laufe eines Jahres entwickelt, wann im Frühjahr unter dem Eis die große Algenblüte beginnt und wie schnell Zooplankter die Algen verspeisen – die wichtigste Nahrungsquelle für die arktischen Fische.
Die Arktis ist jene Region der Erde, die sich im Zuge des Klimawandels am schnellsten erwärmt. Deshalb wollen Atmosphärenphysiker verstehen, unter welchen Bedingungen und in welchen Mengen Wärme und Feuchtigkeit aus dem Meer aufsteigen. Denn davon hängt ab, ob sich Wolken bilden. Die wiederum haben einen starken Einfluss auf das Klima, weil sie wärmend, aber auch kühlend wirken können.
Offen ist bislang, wie sich das Klima verändert, wenn das arktische Eis immer stärker schmilzt. Das Eis ist eine wichtige Barriere zwischen dem relativ warmen Wasser und der eisigen Atmosphäre. Schmilzt es, steigen große Mengen an Wärme aus dem Meer auf. Wie wirken sich solche Veränderungen auf das Klima in der Arktis aus – und welche Folgen hat das möglicherweise für unser Klima in Mitteleuropa? Auch diese Frage soll Mosaic beantworten. Die Auswertung der großen Datenmengen beginnt in den kommenden Monaten und dürfte mehrere Jahre dauern.