Transformation der Stahlbranche

  • Search25.04.2024

„Wir dürfen die Stahlindustrie nicht aufs Spiel setzen“

Die Stahlindustrie steht vor einem Komplettumbau, und Kerstin Maria Rippel muss dafür sorgen, dass er glückt. Die Herausforderungen sind gewaltig – aber auch die Chancen, sagt die Chefin des Branchenverbands.

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    Kerstin Rippel spricht im Interview über die grüne Transformation der Stahlindustrie, die Bedeutung der Branche für den Standort Deutschland und die Folgen hoher Energiekosten.

     

    Kerstin Maria Rippel ist Hauptgeschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung Stahl, der Interessenvereinigung von rund 50 deutschen Stahlherstellern. Mit gut 80.000 direkt Beschäftigten ist die Stahlbranche selbst vergleichsweise klein, doch ihre Bedeutung für den Wirtschaftsstandort ist weitaus größer. Denn Stahl ist die Basis einer ganzen Reihe von Branchen, von der Bau- und Autoindustrie bis zur Windenergie. Die Stahlbranche sichert damit Schätzungen zufolge gut viereinhalb Millionen Arbeitsplätze in Deutschland. Doch die Hersteller stehen vor dem wohl größten Umbruch in ihrer Geschichte: der Umstellung auf klimafreundliche Produktionsweisen. Im Interview mit EnergieWinde beschreibt Rippel, wie Stahl grün werden soll und warum die Branche dabei Unterstützung benötigt.

    Frau Rippel, Sie sprechen für eine Branche, die gut ein Drittel aller CO2-Emissionen der deutschen Industrie verursacht. Lassen sich diese kaum vorstellbaren 55 Millionen Tonnen wirklich auf null reduzieren?
    Kerstin Maria Rippel: Technologisch ist das kein Problem. Wir hängen ja keinen Traumvorstellungen nach. Das Ziel ist erreichbar, und wir haben uns längst auf den Weg gemacht.

    Wie weit sind Sie schon?
    Rippel: Dabei muss man zwischen den beiden Routen der Stahlerzeugung unterscheiden. Elektrostahlwerke, die Schrott mithilfe von Strom einschmelzen und zu neuem Stahl verarbeiten, liefern schon heute ein relativ sauberes Produkt. Obendrein wird es mit jedem Jahr sauberer, denn je grüner der Strommix ist, desto grüner ist auch Elektrostahl. Im vergangenen Jahr hatten wir schon mehr als 50 Prozent Ökostrom im Netz, Tendenz steigend. Auf der Elektrolichtbogenroute müssen wir also die Art der Stahlerzeugung nicht wesentlich verändern, um Klimaneutralität zu erreichen, sondern vor allem dafür sorgen, dass wir genügend und bezahlbare grüne Energie haben – Strom und Wasserstoff.

    Und auf der anderen Route, bei der Stahlerzeugung im Hochofen?
    Rippel: ... sieht es etwas anders aus. Das ist ein sehr viel kapitalintensiverer Prozess, weil wir dabei die Produktion umstellen müssen. Im Hochofen nutzen wir bisher reinen Kohlenstoff, also Koks, um den Sauerstoff aus Eisenerz herauszulösen und Roheisen herzustellen. Dabei wird das ungeliebte CO2 frei. Statt Kohlenstoff kann den Job aber auch Wasserstoff übernehmen. Dann entsteht kein CO2, sondern H2O, also Wasser, und das ist uns allen viel lieber. Direktreduktion nennt man diesen Prozess.

    ... bei dem Sie allerdings noch am Anfang stehen.
    Rippel: Nicht ganz. Im letzten Jahr haben vier Unternehmen in Deutschland – Salzgitter, Saarstahl, Thyssenkrupp Steel und ArcelorMittal – Förderzusagen in Höhe von rund sieben Milliarden Euro vom Staat erhalten, um den Umbau von der kohlebasierten Rohstahlerzeugung hin zur wasserstoffbasierten Direktreduktion anzustoßen. Wichtig dabei: Die Unternehmen investieren selbst noch einmal so viele Milliarden und haben damit zum Teil schon begonnen, bevor die Förderzusagen da waren!

    Wie grüner Stahl hergestellt wird: Das Schaubild zeigt das Verfahren von der Wasserstoff-Erzeugung (Elektrolyse) über die Direktreduktion bis zur Rohstahlherstellung per Lichtbogenofen. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Wann beginnt dieser Umbau und wie lang dauert er?
    Rippel: In Salzgitter sind schon die Bagger aufs Feld gerollt, um eine Direktreduktionsanlage zu bauen. Wir sind optimistisch, dass die deutsche Stahlbranche schon bis 2030 einen relevanten Teil der Hochofenroute umgestellt und ihren CO2-Ausstoß damit entsprechend reduziert haben wird.

    Dazu benötigen Sie große Mengen an grünem Wasserstoff. Den gibt es in Deutschland allerdings noch gar nicht.
    Rippel: Einige unserer Mitgliedsunternehmen haben bereits begonnen, Wasserstofflieferungen auszuschreiben, und Sie haben recht, da geht es um gewaltige Mengen. Im letzten Jahr hat Deutschland die geplante Kapazität zur Wasserstofferzeugung auf zehn Gigawatt hochgeschraubt. Das klingt vielleicht nach viel, aber allein unsere Industrie würde 90 Prozent davon bis 2030 benötigen.

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    Dass wir den ganzen Wasserstoff nicht hierzulande produzieren können, ist klar. Wir brauchen Importleitungen nach Norwegen, Italien, Spanien, Frankreich oder in andere Länder

    Kerstin Maria Rippel

    Sofern sie sich gegen all die anderen Branchen durchsetzen, die diesen Wasserstoff ebenfalls haben wollen.
    Rippel: Richtig, und deshalb frage ich mich: Wann kommt eigentlich die Wasserstoff-Importstrategie? Denn dass wir den ganzen Wasserstoff nicht hierzulande produzieren können, ist klar. Wir brauchen Importleitungen nach Norwegen, Italien, Spanien, Frankreich oder in andere Länder, die uns grünen Wasserstoff liefern können.

    Muss es aus Ihrer Sicht grüner Wasserstoff sein? Oder dürfte es auch blauer sein, der aus Erdgas gewonnen wird, wobei man das frei werdende CO2 speichert?
    Rippel: Am Ende muss es grüner sein, denn wir wollen ja klimaneutral werden. Aber auf dem Weg dorthin üben wir. Im ersten Schritt kann eine Direktreduktionsanlage auch mit Erdgas betrieben werden. Schon dabei sparen wir nach unseren Modellen etwa zwei Drittel des CO2-Austoßes im Vergleich zur kohlebasierten Erzeugung ein. Nach und nach können wir das Erdgas dann runterfahren und den Wasserstoffanteil steigern. Das kann als Zwischenlösung auch mit blauem Wasserstoff geschehen.

    Elektrolichtbogenofen der GMH-Gruppe: Das Stahlwerk im niedersächsischen Georgsmarienhütte verbraucht in etwa so viel Strom wie die benachbarte 170.000-Einwohner-Stadt Osnabrück.

    Elektrolichtbogenofen der GMH-Gruppe: Das Stahlwerk im niedersächsischen Georgsmarienhütte verbraucht in etwa so viel Strom wie die benachbarte 170.000-Einwohner-Stadt Osnabrück.

    Wenn anfangs Erdgas zum Einsatz kommt, kann man dann schon von grünem Stahl sprechen? Was ist grüner Stahl überhaupt?
    Rippel: Genau um das zu klären, haben wir diese Woche auf der Hannover Messe gemeinsam mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ein Klassifizierungssystem vorgestellt: den Low Emission Steel Standard, abgekürzt LESS. Dabei gibt es je nach Emissionsintensität Stufen von E bis A, erst dann kommt die beste Stufe: Near-Zero. Die Einstufung in die beste Stufe wird es nach unseren Modellberechnungen erst geben, wenn Direktreduktionsanlagen mit grünem Wasserstoff betrieben werden, 100 Prozent Ökostrom eingesetzt wird und zudem die Vorkettenemissionen deutlich reduziert werden. Elektrostahlwerke können die Stufe vermutlich schon früher erreichen, wenn sie sich mit grünen Energiequellen versorgen und deutliche CO2-Einsparungen in ihrer Vorkette nachweisen können. Die Klassifizierung wird vom TÜV Nord und anderen Zertifizierern überprüft und schafft einen vertrauenswürdigen Standard, den ich für einen echten Unique Selling Point halte, da er von der gesamten Stahlindustrie und der Politik gemeinsam getragen wird. Schließlich benötigen perspektivisch alle unsere Kunden grünen Stahl.

    Hört man sich bei Stahlproduzenten um, wirkt es allerdings nicht so, als wäre Grünstahl ein Bestseller. Es heißt, dass Konzernchefs etwa in der Autobranche zwar gern in Sonntagsreden davon sprächen, dass es aber kaum Nachfrage gebe.
    Rippel: Es gibt erste konkrete Verabredungen, beispielsweise aus dem Maschinenbau, der Windindustrie und sogar der Automobilindustrie. Aber es stimmt, wir wünschen uns mehr Engagement in der Breite.

    Stählerne Riesen: Bauteile für Offshore-Wind-Fundamente liegen bei Steelwind im niedersächsischen Nordenham.

    Stahlbauteile für Offshore-Windräder bei Steelwind in Nordenham: Die Windindustrie gehört zu den ersten Abnehmern von Grünstahl.

    Liegt es am Preis? Um wie viel teurer ist Grünstahl im Vergleich zu herkömmlich produziertem Stahl?
    Rippel: Das kommt darauf an, von welchem Stahl Sie sprechen – wir produzieren in Deutschland rund 2500 verschiedene Sorten. Beispiel Automobilindustrie: Studien haben gezeigt, dass der Anteil der Mehrkosten von grünem Stahl aus der Direktreduktionsanlage an den Gesamtkosten eines Mittelklassewagens unter einem Prozent liegt.

    Das wären dann 200 bis 300 Euro, wenn ich richtig rechne. Allerdings bietet bislang kein Hersteller solche Autos an.
    Rippel: Richtig, dabei könnten sie damit werben! Ich würde mir wünschen, dass man in den Konfiguratoren für Neuwagen nicht nur Ledersitze und andere Extras ankreuzen kann, sondern auch Grünstahl. Wenn ich zwischen Grünstahl und Alufelgen wählen könnte, wüsste ich jedenfalls, wofür ich mich entscheiden würde.

    Was muss passieren, damit der Markt in Schwung kommt, sobald Sie nennenswerte Mengen Grünstahl liefern können?
    Rippel: Wir brauchen grüne Leitmärkte, und dabei sehe ich den Staat in der Pflicht, als Kunden und Auftraggeber. Der Staat konfrontiert uns alle – völlig zurecht übrigens – mit der Notwendigkeit, das Klima zu schützen. Aber er muss auch als gutes Vorbild vorangehen. Er sollte nicht den Fehler des Gebäudeenergiegesetzes wiederholen und als Erstes den Privatsektor in die Pflicht nehmen, sondern Grünstahl zum Teil des öffentlichen Beschaffungsprozesses machen. Sprich: Wenn der Staat zum Beispiel Offshore-Windparks ausschreibt, dann sollte er vorgeben, dass beim Bau LESS-klassifizierter Stahl zum Einsatz kommt.

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    Die Stahlindustrie ist die Basis nahezu jeder Wertschöpfungskette. Zwei Drittel unserer Exporte sind stahlintensiv, das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen

    Kerstin Maria Rippel

    In Deutschland gibt es derzeit eine Diskussion über die energieintensiven Industrien, ein wenig nach dem Motto: Ist das Kunst oder kann das weg? Was entgegnen Sie, wenn manche Ökonomen sagen, alles müsse dort produziert werden, wo es aus ökonomischer Sicht am günstigsten ist?
    Rippel: Ich frage dann gern, ob sich alle im Klaren darüber sind, wie wichtig die Grundstoffindustrie für die Resilienz unseres Landes und unseres Kontinents ist. Ich hätte gedacht, dass wir diese Lektion gelernt hätten, nachdem uns die Pandemie und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine unsere Vulnerabilität und die Anfälligkeit unserer Lieferketten so deutlich vor Augen geführt haben. Aber offenkundig ist das nicht der Fall. Ich muss immer wieder erklären, dass die Stahlindustrie die Basis nahezu jeder Wertschöpfungskette ist. Zwei Drittel unserer Exporte sind stahlintensiv, das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Es gibt ein eindrückliches Beispiel dafür, was passiert, wenn ein Land seine Stahlindustrie verliert.

    Nämlich?
    Rippel: Die USA und dort die Region, die wir heute den Rust Belt nennen. Dort gab es mal eine starke Stahlindustrie, bis man unter Ronald Reagan die steigenden Importe von billigem Stahl nicht ernstgenommen hat. In der Folge haben die Stahlwerke dichtgemacht, und die Autoindustrie ist in die Krise gerutscht, mit all den fatalen Folgen, die wir heute beobachten. Meine feste Überzeugung ist, dass Joe Biden den Inflation Reduction Act nicht nur zum Schutz des Klimas auf den Weg gebracht hat, sondern vor allem, um die verloren gegangene Industrie zurückzuholen. Und ähnliche Entwicklungen drohen uns auch hier. Ich verstehe nicht, warum das nicht allen eine Mahnung ist.

    Ehemaliges Stahlwerk in Bethlehem, Pennsylvania: Die Region war lange als „Manufacturing Belt“ der USA bekannt. Mit dem Niedergang der Schwerindustrie in den Siebzigern wurde sie zum „Rust Belt“.

    Ehemaliges Stahlwerk in Bethlehem, Pennsylvania: Die Region war lange als „Manufacturing Belt“ der USA bekannt. Mit dem Niedergang der Schwerindustrie in den Siebzigern wurde sie zum „Rust Belt“.

    Was ist nötig, um eine Entwicklung wie im Rust Belt zu verhindern?
    Rippel: Wir brauchen vor allem bezahlbare Energiepreise. Erneuerbare Energien sind die mit Abstand günstigste Quelle, und bei viel Wind und Sonne purzeln die Preise an der Strombörse. Deshalb müssen wir die Erneuerbaren schnell weiter ausbauen. Aber auf dem Weg dorthin rennen uns die Netzentgelte weg. Im Schnitt zahlen meine Mitgliedsunternehmen für die Netzentgelte fast genauso viel wie für den reinen Börsenstrom. Sie haben sich schlagartig zum 1. Januar verdoppelt, weil die Bundesregierung den Zuschuss gestrichen hat, nachdem ihr der Klima- und Transformationsfonds um die Ohren geflogen ist.

    Hoffen Sie noch auf einen Brückenstrompreis?
    Rippel: Ich fand die Idee dazu aus dem Bundeswirtschaftsministerium wirklich gut und ausgewogen. Aber ich glaube, politisch müssen jetzt andere Wege eingeschlagen werden. Wir müssen zwei Dinge tun: kurzfristig andere Wege finden, um die Unternehmen zu entlasten. Und langfristig sollten wir überlegen, ob Netze nicht wie Straßen und Radwege Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sind und deshalb vom Staat finanziert werden sollten. Das wäre für die Transformation der Stahlindustrie – und für die unserer gesamten Gesellschaft enorm hilfreich.

    Die Fragen stellte Volker Kühn.

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