Klimaneutrale Lieferketten

  • Search18.11.2022

Reise zur grünen Null

Unternehmen, die ihren CO2-Ausstoß nach dem Greenhouse Gas Protocol erfassen, zwingen auch ihre Zulieferer zum Klimaschutz. Das Beispiel der Handschuhfirma Zanier zeigt, wie so ein sich selbst beschleunigender Prozess in Gang kommt.

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    Bergpanorama in Tirol: Hier hat der Handschuhproduzent Zanier-Sport seinen Sitz. Seit 2019 wirtschaftet er klimaneutral.

    Bergpanorama in Tirol: Hier hat der Handschuhproduzent Zanier-Sport seinen Sitz. Seit 2019 wirtschaftet er klimaneutral.

     

    Von Volker Kühn

    Markus Zaniers Reise zur grünen Null beginnt mit einem Schock. Dass sein Unternehmen Treibhausgase verursacht, ist dem Tiroler klar. Wie groß die Emissionen sind, davon hat er aber keine Vorstellung, als er 2019 die erste Klimabilanz der Zanier-Sport GmbH erstellen lässt. „Eigentlich müsste ich den Laden zusperren“, denkt er, als er die Zahl von 479 Tonnen CO2 sieht, die der Handschuhhersteller damals pro Jahr verursacht.

    Doch zusperren ist keine Option. Er will die Firma, 1969 von seinen Eltern gegründet, eines Tages zukunftsfest an die nächste Generation übergeben. Zanier stand schon mit zwei Jahren auf Skiern, jede freie Minute verbringt er in den Bergen, die Natur ist ihm ein Herzensanliegen. Unter zukunftsfest versteht er deshalb, so zu wirtschaften, dass er Umwelt und Klima möglichst wenig belastet. „Wir haben nur diese eine Kugel zum Leben. Wir müssen gut damit umgehen“, sagt er. Also macht er sich daran, die Emissionen abzutragen. Zanier-Sport soll klimaneutral werden.

    Markus Zanier ist Chef des Handschuherstellers Zanier-Sport. Seit 2019 wirtschaftet das Unternehmen klimaneutral.

    „Wir haben nur diese eine Kugel zum Leben“, sagt Klima-Vorreiter Markus Zanier.

    Wirtschaften ohne dem Klima zu schaden – das ist ein Ziel, das sich eine wachsende Zahl von Unternehmen setzt. Im Einzelhandel tauchen immer mehr Waren auf mit Aufdrucken wie „100 Prozent CO2-neutral hergestellt“ oder „klimaneutrales Produkt“. Doch der Begriff ist nicht gesetzlich geschützt, Wann und wie er eingesetzt werden darf, beschäftigt die Gerichte. Erst vor wenigen Tagen hat das OLG Frankfurt entschieden, dass ein Unternehmen das Logo „klimaneutral“ nicht verwenden dürfe, weil es die Art, wie es die Klimaneutralität als Unternehmen erreiche, unzureichend erklären würde. Verbraucherschützer gehen daneben gegen Firmen vor, denen sie die missbräuchliche Verwendung des Begriffs vorwerfen, also Greenwashing.

    Markus Zanier hat von solchen Fällen gehört. Er ärgert sich darüber, weil sie auf diejenigen abstrahlen, die es ernst meinen. Er weiß, dass er schon deshalb einen Klimaplan für seine Firma braucht, der über alle Zweifel erhaben ist. Aber wie fängt er seine Reise an?

    Messen, reduzieren, kompensieren: die drei Schritte zur Klimaneutralität

    „Wenn ein Unternehmen klimaneutral werden will, ist der erste Schritt, dass es alle Karten auf den Tisch legt“, sagt Kolja Gerlach von der Agentur ClimatePartner, gegenüber EnergieWinde. „Es muss eine umfassende Bilanz all seiner Emissionen erstellen.“ Im zweiten Schritt gehe es darum, diese Emissionen gezielt von Jahr zu Jahr zu reduzieren. Restemissionen, die sich nicht vermeiden lassen, würden im dritten Schritt in zertifizierten Klimaschutzprojekten kompensiert. Heißt: Für jede Tonne CO2, die noch in die Atmosphäre gelangt, wird an anderer Stelle eine Tonne eingespart, erklärt Gerlach, der Carbon Accounting Expert bei ClimatePartner ist, Experte für Treibhausgasbilanzierung.

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    „Ich kenne Leute, die sagen, das Greenhouse Gas Protocol verdiene einen Nobelpreis

    Peter Spiller, Partner bei McKinsey

    Die Agentur ist einer der bekanntesten Klimabilanzierer in Deutschland. Auch Zanier lässt sich von den Münchnern beraten. ClimatePartner stützt sich dabei auf ein Verfahren, das in den Neunzigerjahren in den USA entwickelt wurde. Dort schlossen sich der Umwelt-Thinktank World Resources Institute (WRI) und der Unternehmensverband World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) zusammen und entwickelten das sogenannte Greenhouse Gas Protocol (GHG). Es ist heute das führende Verfahren in der CO2-Bilanzierung und genießt international große Anerkennung. „Ich kenne Leute, die sagen, das Protocol verdiene einen Nobelpreis für die Leistung, mit minimalen Ressourcen und durch umfangreiche Konsultation einen globalen Standard zu etablieren“, sagt der Nachhaltigkeitsexperte Peter Spiller, Partner bei der Unternehmensberatung McKinsey, im Gespräch mit EnergieWinde.

    Die große Errungenschaft sieht Spiller darin, dass es mit dem Protokoll gelungen sei, einen sich selbst beschleunigenden Prozess in Richtung Treibhausgasneutralität in Gang zu setzen. Das liegt an der speziellen Art, wie das GHG-Verfahren die Emissionen bilanziert. Es unterscheidet zwischen drei Bereichen, sogenannten Scopes:

    • Scope 1 erfasst den Ausstoß, für den ein Unternehmen unmittelbar verantwortlich ist, etwa durch das Verbrennen von Energie und Kraftstoffen in seinen Produktionsstätten und Firmengebäuden oder in seinem Fuhrpark.
    • Scope 2 erfasst die indirekten Emissionen eines Unternehmens durch den Bezug von Energie. Wird eine Fabrik beispielsweise mit Strom aus einem externen Kohlekraftwerk betrieben, fällt dessen CO2-Ausstoß in diesen Bereich.
    • Scope 3 erfasst die Emissionen in der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette. Dazu zählt etwa der Ausstoß in den Werken von Zulieferern, aber auch das CO2, das bei Kunden durch die Nutzung der verkauften Produkte frei wird. Wenn Autofahrer Benzin oder Diesel verfahren, wird dem Mineralölkonzern, bei dem sie getankt haben, das CO2 unter Scope 3 angerechnet.
    Treibhausgas-Bilanzierung nach dem Scope-System: Das Schaubild erklärt, wie Unternehmen ihren CO2-Ausstoß erfassen. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Je nach Geschäftsfeld eines Unternehmens liegt der Schwerpunkt der Emissionen in unterschiedlichen Scopes. Ein Zementhersteller etwa verursacht das meiste CO2 in der Produktion, also in Scope 1. Bei einem Stadtwerk dagegen, das Gas einkauft und an seine Kunden weiterleitet, fällt der größte Anteil in Scope 3 an, wenn die Kunden die Heizung aufdrehen.

    Wenn Konzerne klimaneutral werden, müssen ihre Zulieferer folgen

    Das enorme Potenzial dieser Form der Bilanzierung liegt darin, dass sie die Lieferkette einbezieht. Denn Unternehmen, die mit ehrgeizigen Klimazielen vorangehen, zwingen ihre Zulieferer, ebenfalls sauberer zu werden. Wenn etwa ein Autokonzern beschließt, bis zu einem bestimmten Datum seine Emissionen um 50 Prozent zu senken, dann müssen auch die Unternehmen, von denen er Motorenteile, Reifen oder Batterien kauft, sauberer produzieren – oder sie könnten den Auftrag verlieren. Diesen Weg gehen immer mehr Konzerne. Der Chemieriese Lanxess etwa hat angekündigt, bis 2030 die Emissionen in seiner Lieferkette um 40 Prozent zu drücken.

    Markus Zanier (links) mit dem österreichischen Mountainbiker Gabriel Wibmer. Das Unternehmen stattet zahlreiche Profisportler aus der Ski-, Snowboard- und Radszene aus.

    Markus Zanier (links) mit dem österreichischen Mountainbiker Gabriel Wibmer. Das Unternehmen stattet zahlreiche Profisportler aus der Ski-, Snowboard- und Radszene aus.

    Als Markus Zanier vor gut fünf Jahren beginnt, die erste Klimabilanz zusammenzustellen, ist er überrascht, wie groß der Aufwand für das Sammeln der Daten in den verschiedenen Scopes ist. Eine Mitarbeiterin ist ein ganzes Jahr wie eine CO2-Detektivin damit beschäftigt, die Anfahrtswege der Belegschaft oder den Strommix in der Produktion zu erfassen und Partnerfirmen in aller Welt abzutelefonieren, um ihre Emissionen zu ermitteln. Nicht alle Zulieferer und Dienstleister reagieren verständnisvoll. Aber das sei ganz normal, wenn man Dinge verändert, sagt Zanier.

    Nachdem die Daten vorliegen, folgt Schritt zwei: die gezielte Reduktion der Emissionen. Mit 479 Tonnen CO2 fallen sie bei Zanier noch vergleichsweise klein aus. Das Unternehmen produziert rund 500.000 Paar Handschuhe pro Jahr, verfügt allerdings nicht über eigene Werke, sondern lässt bei Partnern fertigen. Deren CO2-Ausstoß wird Zanier nur anteilig angerechnet. Auch der Ausstoß in der Zentrale in Innsbruck ist überschaubar. Global tätige Sportartikel- oder Outdoor-Marken kommen schnell auf mehrere Zehntausend Tonnen pro Jahr. Aber auch die 479 Tonnen von Zanier-Sport wollen erst einmal abgetragen werden.

    „Wir sind jedes einzelne Material durchgegangen, mit dem wir arbeiten“, sagt Markus Zanier. Manchmal führt das zu unangenehmen Erkenntnissen. Leder zum Beispiel ist zwar ein Naturprodukt, hat aber einen größeren Fußabdruck als viele synthetische Materialien. Zanier fährt deshalb den Lederanteil zurück, wenn auch gerade Sportler oft nicht darauf verzichten wollen. Auch an vielen anderen Stellschrauben setzt die Firma an. Der Fuhrpark etwa wird elektrifiziert, auf Dienstreisen nehmen die Mitarbeiter möglichst die Bahn. Ziel ist es, laufend neues Potenzial für Vermeidung und Reduktion von CO2 zu finden.

    Statt den Ausstoß exakt zu erfassen, arbeiten manche mit Durchschnittswerten

    Nicht alle Unternehmen machen sich die Mühe, ihre Daten so detailliert zu errechnen. Oft ist das auch gar nicht möglich. Stattdessen arbeiten viele mit einem ausgabenbasierten Ansatz. Statt etwa zu ermitteln, wie viel CO2 bei einer konkret eingekauften Tonne Stahl frei wurde, nehmen sie einen Durchschnittswert auf Basis des Preises: X Euro Kosten gleich y Tonnen CO2.

    Das hat zwar den Vorteil, dass die Ausgaben in der Finanzabteilung leicht verfügbar sind, aber auch einen gravierenden Nachteil: Der Stahlpreis schwankt. Das kann dazu führen, dass der CO2-Ausstoß in der Bilanz eines Unternehmens steigt, obwohl es weniger Stahl einsetzt – einfach deshalb, weil der Stahlpreis überproportional gestiegen ist.

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    Mit der Qualität der Daten steht und fällt eine Klimabilanz

    Kolja Gerlach, Experte für Treibhausgasbilanzierung bei ClimatePartner

    „Das Carbon Accounting ist heute oft noch auf dem Niveau der Finanzbuchhaltung von vor 60, 70 Jahren“, sagt McKinsey-Experte Spiller. Allerdings entwickle sich das Greenhouse Gas Protocol laufend weiter. Künftig werde es vor allem darum gehen, für mehr und genauere Daten zu sorgen. Auch ClimatePartner-Experte Gerlach sagt: „Mit der Qualität der Daten steht und fällt eine Klimabilanz.“

    Es ist nicht der einzige Kritikpunkt am GHG Protocol. Widersinnig erscheint vielen, dass Treibhausgase dabei doppelt erfasst werden: Das CO2, das ein Zulieferer unter Scope 1 verbucht, kann bei seinem Kunden unter Scope 3 auftauchen. Aus Sicht von Gerlach ist das allerdings kein Nachteil. „Es trägt dazu bei, dass von mehreren Seiten gleichzeitig daran gearbeitet wird, den Ausstoß zu senken.“ Kein Bug, sondern ein Feature gewissermaßen.

    Auch an Anbietern wie ClimatePartner gibt es mitunter Kritik: Wenn sie nicht allein die Bilanz für ihre Kunden erstellen, sondern zugleich auch Kompensationsmaßnahmen verkaufen, droht ihnen ein Interessenkonflikt. Sie könnten den Fokus auf die Ausgleichsprojekte legen, an denen sie verdienen. Gerlach schließt das für ClimatePartner aus. „Wir legen Wert auf ganzheitlich gedachten Klimaschutz, der die Vermeidung, Reduktion und die Kompensation von CO2 umfasst. Grundsätzlich kann es nur darum gehen, durch kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen die Emissionen insgesamt runterzubringen.“

    Der Lohn des Aufwands: fast 40 Prozent weniger CO2 als 2019

    Bei Zanier in Tirol ist die regelmäßige Klimabilanz inzwischen Routine. Das Verfahren hat sich etabliert, auch die Zulieferer wissen, dass sie ihre Daten liefern müssen. Die zuständige Mitarbeiterin braucht inzwischen nur noch zwei, drei Tage, bis alle Werte vorliegen. 295 Tonnen CO2 waren es in der Jahresbilanz von 2021, fast 40 Prozent weniger als 2019.

    Markus Zanier findet die Zahl immer noch zu groß. Aber die Richtung stimmt. Einen Schock löst sie heute nicht mehr aus.

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