Naturschutz durch Indigene

  • Search15.12.2022

Die Wächter von Vancouver Island

Indigene Völker schützen einen Großteil der Biodiversität des Planeten. Der Weltnaturgipfel will ihre Rolle stärken. Wie das gelingen kann, zeigen die Tla-o-qui-aht und ihr „Krieg um die Wälder“ in Kanada.

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    Der Regenwald auf Vancouver Island ist eine faszinierende Landschaft, die Jahr für Jahr Touristen anlockt.

    Baumriesen in British Columbia: Bis heute kämpfen Kanadas First Nations darum, ihre Territorien wieder selbst zu verwalten.

     

    Von Lisbeth Schröder, Vancouver Island

    Manche Sätze erschrecken, berühren, führen sofort zu einem Umdenken. Andere brauchen Zeit, bis sie ihre Wucht entfalten. Wie der, den der zehnjährige Moses Martin Anfang der Fünfziger hört. Er rudert mit seinem Vater im Kanu an einer Insel im Westen Kanadas entlang, als im Uferwald Kettensägen aufheulen und Bäume fallen. Die beiden gehören zu den Tla-o-qui-aht, einer indigenen Volksgruppe, die die Natur am Pazifik über Generationen gepflegt hat. Bis die Holzfäller anrückten. „Heute sind wir am Rande der Selbstzerstörung“, sagt Martins Vater damals.

    Erst Jahrzehnte später, nachdem er selbst in der Holzindustrie gearbeitet hat, wird sich Moses Martin an die Worte erinnern – als er, inzwischen Oberhaupt seines Volks, entscheiden muss, einen der letzten verbliebenen Regenwälder Kanadas abzuholzen.

    Die Tla-o-qui-aht sind seit Jahrhunderten in der gewaltigen Wildnis von Vancouver Island verwurzelt, ihre Sprache kennt sogar ein eigenes Wort für die Einheit von Mensch und Natur. Durch Martins Entscheidung soll einer der ersten von Indigenen geführten Naturparks in Kanada ausgerufen werden. Ihr „Krieg um die Wälder“ wird als einer der größten Umweltproteste in die Geschichte des Landes eingehen.

    Indigene Völker sind oft klein – aber für den Naturschutz unverzichtbar

    Die Bedeutung von Gruppen wie den Tla-o-qui-aht für den Schutz der Natur, rückt erst langsam ins Bewusstsein westlicher Länder. Laut dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) machen sie zwar nur fünf Prozent der Weltbevölkerung aus, schützen aber in ihren Territorien 80 Prozent der Biodiversität. Es sei deshalb besonders wichtig, dass sie beim derzeit im kanadischen Montreal laufenden Weltnaturgipfel mitentscheiden.

    Doch wenn indigene Völker, in Kanada First Nations genannt, die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllen sollen, müssen die Umstände stimmen. Das zeigt eine Reise in die Geschichte der Tla-o-qui-aht. Sie führt zu Unterdrückung und Armut, zu Streit unter den Volksgruppen und zum bis heute andauernden Kampf um Selbstbestimmung. Wohl niemand könnte diese Geschichte besser erzählen als Moses Martin.

    Holzfäller, Stammesoberhaupt, Naturschützer, Touristenführer: der 81-jährige Moses Martin.

    Martin besitzt ein Büro in Tofino, einem Städtchen auf Vancouver Island, das von Surfern und Touristen lebt. Hier bietet der 81-Jährige Touren in die Natur an. Mit dem Verdienst unterstützt er seine acht Kinder und ihre Familien. Nur wenig Sonnenlicht scheint auf die kargen Wände, als er sich auf einen hüfthohen Stuhl setzt. Vor dem kleinen Mann mit der dunklen Brille und der vom Alter gezeichneten Haut liegt eine Karte auf einer Glasvitrine. Martin deutet auf Meares Island, eine kleine Insel neben Vancouver Island, und beginnt mit leiser Stimme zu erzählen. Hier hat der „Krieg um die Wälder“ begonnen.

    Meares Island: Dorthin gelangt man nur mit dem Wassertaxi, zehn Minuten sind es von Tofino. Ein Teppich aus Farnen erstreckt sich über den Boden der Insel, durchbrochen von mächtigen Wurzeln. Moos hängt von Bäumen, die bis zu 50 Meter in den Himmel ragen. Ihre Stämme sind so breit, dass es mehrere Menschen braucht, um sie zu umfassen. Das einzige Zeichen der Zivilisation ist ein rutschiger Pfad aus Holzplanken, der nach wenigen Minuten dem matschigen Boden des Regenwalds weicht. Es ist einer der letzten verbliebenen Regenwälder Kanadas. Für Martin als Oberhaupt der Tla-o-qui-aht ist klar: Er möchte ihn schützen.

    Meares Island war Schauplatz des „Kriegs der Wälder“, in dem die Tla-o-qui-aht um die Verwaltung und den Schutz ihrer angestammten Territorien gekämpft haben.

    Sandstrände und dichte Küstenwälder prägen die Gegend um Tofino. Im Hintergrund erheben sich die Berge von Meares Island.

    Als die Holzfäller Anfang der Achtziger mit ihren Booten zur Insel kommen, erwarten sie etwa 250 Menschen am Ufer: indigene Gruppen, Menschen aus der Gemeinde, Umweltschützer. Martin sagt, er hatte damals zwei Optionen: „Entweder ich sage den Holzfällern, dass sie verschwinden sollen. Oder ich lade sie ein, anzulegen, zu sprechen und gemeinsam zu essen – solange sie die Kettensägen in den Booten lassen.“

    Er entscheidet sich für Letzteres. Doch die Holzfäller erwidern nichts, sie kehren einfach wieder um. Hatten sie Angst vor einem Aufstand? „Nein“, sagt Martin. „Der Plan war, uns vor Gericht zu bringen.“

    Im „Krieg um die Wälder“ kämpfen Indigene gegen Holzfäller – und die Regierung

    Ein jahrzehntelanger Prozess beginnt, mit unzähligen Gesprächen und Demonstrationen. 1984 erklären Martin und seine Mitstreiter die Gegend zu einem der ersten Tribal Parks in Kanada – hier sollen sich Besucher an die Regeln der First Nation halten. Doch es ist nur ein symbolischer Schritt. Es braucht erst 12.000 Menschen, die 1993 aus aller Welt auf die kleine Insel kommen, Hunderte Verhaftungen und einen jahrelangen Gerichtsprozess, bis die Tla-o-qui-aht endlich bekommen, was sie wollen: ein Veto-Recht gegen Entscheidungen der Regierung. Daraufhin wird das Gebiet unter Schutz gestellt.

    „Wir hatten eine große Feier“, erzählt Martin. Überall in den Häusern wird getanzt, gesungen, gegessen. Der „Krieg um die Wälder“ ist beendet – vorerst.

    Der Ethnoökologe Faisal Moola forscht an der kanadischen University of Guelph zum Naturschutz durch die First Nations. Für ihn waren die Proteste auf Vancouver Island wegweisend für eine neue Bewegung der indigenen Völker. Überall werden seit diesem Zeitpunkt neue Schutzgebiete geschaffen.

    Aber auch die Aufarbeitung der Geschichte trug dazu bei. Über Jahrhunderte unterdrückten europäische Einwanderer die First Nations. Sie verboten ihnen, ihre Kultur auszuleben und ihre Sprache zu sprechen. Kinder wurden ihren Familien entrissen, um sie den Siedlern zu geben. Sie mussten spezielle Schulen besuchen, in denen sie misshandelt wurden und Krankheiten ausgesetzt waren. Niemand kennt die Zahl derer, die in den Schulen starben, aber immer mehr Massengräber werden im ganzen Land gefunden.

    Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich viel verändert: Die kanadische Regierung hat sich für die Taten entschuldigt und Stellen für Minister der First Nations geschaffen. Inzwischen bedankt man sich dafür, auf den Territorien der indigenen Völker verweilen zur dürfen. Menschen wie Moses Martin sehen zwar noch Verbesserungsbedarf – aber die Rolle der First Nations hat sich gewandelt.

    Regenwald auf Vancouver Island: Manche der Bäume sind mehr als 1000 Jahre alt. Beim Schutz der Natur spielen indigene Völker eine große Rolle.

    Regenwald auf Vancouver Island: Indigene Gruppen spielen eine wichtige Rolle dabei, illegalen Holzschlag auf ihren Territorien zu verhindern.

    Seit den Neunzigern sorgt die kanadische Regierung laut dem Forscher Moola dafür, dass die Herrschaft der First Nations über ihre Territorien zunehmend anerkannt wird. In manchen Gebieten können sie wieder frei jagen, mitentscheiden und die Natur schützen. Das sei wichtig – nicht nur für Kanada: „Viele Schutzgebiete auf der Welt existieren nur auf der Karte“, sagt Moola. „Aber es gibt niemanden, der den Schutz wirklich überwacht.“ Indigene Gruppen könnten etwa die Auswirkungen der Klimakrise auf die Umwelt kontrollieren oder illegalen Holzschlag melden.

    Doch ist es wirklich so leicht – die First Nations stärken und die Natur ist geschützt?

    Die indigenen Menschen ziehen heute nicht mehr durch die Prärien Nordamerikas wie vor der Ankunft der Europäer, einige haben ihre Bräuche aufgegeben. Mancherorts verwalten sie Casinos oder Nachtclubs, und Volksgruppen an der Westküste tun sich gerade zusammen, um eine Gaspipeline zu kaufen. Ein nicht unerheblicher Anteil von ihnen lebt von den Einnahmen der Öl- und Gasproduktion. Wie passt das zusammen?

    Auf der Insel tobt erneut Streit – aber die Konfliktlinien sind andere

    Gut 30 Jahre nach den Protesten von Vancouver Island sorgt ein neuer Konflikt für Aufmerksamkeit: Seit 2020 protestieren Tausende erneut gegen eine Abholzung der Urwälder, diesmal in Fairy Creek, einer Gegend im Süden. Aktivisten ketten sich an, sitzen in friedlichen Blockaden zusammen, manchmal werden sie von der Polizei über den staubigen Boden gezogen.

    Doch auf der Gegenseite steht diesmal nicht nur eine Firma – sondern auch eine indigene Gruppe, die den Holzfällern gestattet hat, den Wald in ihrem Gebiet zu roden.

    British Columbia verfügt über ausgedehnte Küstenregenwälder. Doch nur noch auf drei Prozent dieser Wälder steht zu mindestens 70 Prozent alter Urwald. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Nur noch drei Prozent der Küstenregenwälder von British Columbia bestehen zu mindestens 70 Prozent aus altem, unberührtem Urwald. Die übrigen Wälder sind jünger.

    Von diesem zweiten „Krieg um die Wälder“ berichtet Saya Masso in einem Café in Tofino, unweit des Büros von Moses Martin. Massos Hemd ziert ein Symbol des Tribal Parks der Tla-o-qui-aht, rot-schwarze Tattoos seinen Arm. Er gehört demselben Stamm wie Martin an.

    Für Masso, der sich um die natürlichen Ressourcen des Tribal Parks kümmert, ist das, was viele als einen Seitenwechsel der indigenen Gruppe in Fairy Creek empfinden, eine Folge finanzieller Not. „Niemand hat ihnen eine bessere Option geboten“, sagt er. In einem Statement schreibt die First Nation selbst, dass sie die alten Zedern des Gebiets seit jeher für kulturelle, zeremonielle oder eben wirtschaftliche Zwecke genutzt haben: „Unser verfassungsmäßiges Recht, Entscheidungen über die forstwirtschaftlichen Ressourcen in unserem Territorium zu treffen, muss respektiert werden.“

    Ob der Stamm wirklich aus der Not heraus handelt, bleibt unklar. Doch viele indigene Menschen sind von Armut betroffen. Laut dem kanadischen Poverty Institute sind es mit 25 Prozent fast doppelt so viele wie im Rest von Kanada. Es sind Folgen der jahrhundertelangen Unterdrückung.

    „Wir sollten die Mittel bekommen, um unsere Territorien zu verwalten“, sagt Saya Masso, der für den Tribal Park der Tla-o-qui-aht arbeitet.

    Die Armut vieler indigener Gruppen führt zu einem weiteren Problem: Um die Natur so schützen zu können, wie es auf dem Weltnaturgipfel diskutiert wird, brauchen sie Geld. Es ist beispielsweise dafür nötig, ihre ursprünglichen Territorien zurückzukaufen. „Ein Stamm muss zunächst das Geld auftreiben, um einen Wald etwa von einem Forstunternehmen zu kaufen“, erklärt Masso. Denn erst wenn dort keine Abholzung mehr stattfindet, erkenne die Regierung das Territorium als indigenes Schutzgebiet an, auf Englisch kurz IPCA. Mit der Anerkennung falle dann der Zugang zu neuen Förderungen leichter.

    Auf Vancouver Island sammeln Masso und andere gerade Spenden, um eine IPCA zu errichten. Sie haben schon starke Unterstützer: Cafés, Hotels oder Besitzer von Seilbahnen sind sogenannte „Verbündete“ des Parks. Aus ihren Einnahmen geht ein Prozent an die Verwaltung des Tribal Parks. Im Westen Vancouver Islands, wohin die Touristen im Sommer zum Surfen strömen, geht das Projekt zwar auf. „Ich will aber nicht ständig Unternehmen fragen, ob sie Verbündete werden wollen“, sagt Masso.

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    Sie prügelten uns die Hölle aus dem Leib und raubten unsere Sprache. Jetzt müssen wir um Geld betteln, um wieder unseren alten Weg leben zu können

    Moses Martin

    Für Masso, Moola und Martin ist es nicht nur eine Frage des Umweltschutzes, es ist eine Frage des Respekts: „Wir sollten selbstverständlich die Mittel bekommen, um unsere Territorien zu verwalten“, sagt Masso. Und Martin sagt: „Sie steckten uns in diese Schulen, prügelten uns die Hölle aus dem Leib und raubten unsere Sprache. Jetzt müssen wir um Geld betteln, um wieder unseren alten Weg leben zu können.“

    Auch für den Forscher Moola ist klar: Es braucht einerseits die Anerkennung der Regierung, andererseits auch die finanzielle Unterstützung. Der Großteil der First Nations setze sich schließlich für den Umweltschutz ein. Auch in Fairy Creek standen viele indigene Gruppen gegen die Abholzung des Waldes auf. Zuletzt bat der ansässige Stamm selbst um einen Aufschub der Abholzung.

    Vom Weltnaturgipfel hängt für indigene Völker viel ab. Es geht um ihre Zukunft

    Und wenn eine Gruppe doch beabsichtigt, die Natur in ihren Territorien auszubeuten? „Genauso wie wir die Entscheidungen anderer Länder akzeptieren, müssen wir auch die Entscheidungen der First Nations akzeptieren“, erklärt der Forscher Moola. An einen flächendeckenden Raubbau durch indigene Völker glaubt er ohnehin nicht. Moola sagt, für ihn als Forscher seien sie vielmehr die letzte und einzige Hoffnung, den Planeten zu retten.

    Der Weltnaturgipfel wird über ihre Rolle entscheiden. Die bisherigen Entwürfe betonen die Wichtigkeit der Indigenen. Die Abschlusserklärung wird wegweisend für Gruppen wie die Tla-o-qui-aht sein.

    Die Recherche für diesen Artikel wurde durch eine Förderung der Heinrich Böll Stiftung Washington (Transatlantic Media Fellowship) möglich gemacht.

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