Heloglands Wahrzeichen Lange Anna: Ein Teil der Insulaner sieht in der Offshore-Windenergie eine gewaltige Chance. Andere fürchten, Helgoland könnte seinen ruhigen Charme verlieren.
Offshore-Wind boomt auf Helgoland
- 25.05.2015
Reif für die Insel
Von Volker Kühn, Helgoland
Wer hätte gedacht, dass sich der Fortschritt des Projekts Energiewende auf Helgoland an einer schlichten blauen Handkarre veranschaulichen lässt? Zwei Räder, eine Deichsel mit Griff und eine kleine Ladefläche – mehr braucht Lars Falldorf dafür nicht.
„Wie kann man einen Touristen von einem Insulaner unterscheiden?“, fragt der Logistikmanager der Firma WindMW grinsend. Auf die Antwort lässt er nicht lange warten: „Der Tourist zieht die Karre“, sagt Falldorf, und umfasst ihren Griff hinter seinem Rücken. Dann dreht er sich um. „Der Insulaner dagegen schiebt. Weil man dann besser lenken kann.“
Er selbst gehört längst zu den Schiebern, versichert Falldorf, genauso wie seine Kollegen bei WindMW auf Helgoland. Es ist klar, was er damit sagen will: Das Unternehmen ist hier angekommen – es ist ein fester Bestandteil des Insellebens.
Die Windkraftbranche hat Helgoland für sich entdeckt. Drei Parks stehen vor der Nordküste der Insel, 23 bis 35 Kilometer entfernt: Amrumbank West von Eon mit 80 Windrädern, Nordsee Ost von RWE Innogy mit 48 Anlagen und Meerwind von Falldorfs Arbeitgeber WindMW mit weiteren 80. Im Herbst 2015 sollen alle drei vollständig am Netz sein.
Für den Bau der Offshore-Windparks sind Hunderte Techniker gekommen
Es ist ein Kraftwerksprojekt der Superlative. Weit mehr als drei Milliarden Euro haben die Betreiberfirmen investiert. Zusammen kommen die Windparks auf eine Leistung von rund 870 Megawatt. Das ist genug Strom, um fast eine Million Haushalte zu versorgen.
Und auch Helgoland hat die Windkraft elektrisiert. Für den Bau, den Betrieb und die Wartung der Anlagen sind ganze Hundertschaften von Offshore-Technikern auf die Insel gekommen.
Sie sind nicht zu übersehen am Hafen und in den Geschäftsstraßen: Neongrell stechen ihre Overalls zwischen den grauen und beigen Windjacken der überwiegend älteren Touristen hervor. Die Windkraft hat eine neue Farbe auf die Insel gebracht.
Die Windkraft gibt der Insel Helgoland ein neues Gesicht: Offshore-Serviceschiffe an der Kaje.
Aber warum gerade Helgoland? Warum dieses winzige Eiland von nicht einmal zwei Quadratkilometern, dieser Felsen mit höchstens 1.500 Einwohnern weit draußen in der Nordsee? Warum eine Insel ohne jede industrielle Infrastruktur? Auf der alles, was man zum Leben und Arbeiten braucht, umständlich per Fähre herangeschafft werden muss?
„Weil Sie von Helgoland aus in weniger als zwei Stunden mit dem Schiff im Baufeld sind“, erklärt Eon-Manager Günter Esbach. Von den Festlandshäfen in Bremerhaven, Büsum oder Cuxhaven wären die Crews mehr als doppelt so lang unterwegs – zu lang, um vor Ort noch genügend Zeit für Wartungs- oder Reparaturarbeiten zu haben.
„Wir können von Helgoland aus auch kleine Wetterfenster nutzen“, sagt Esbach. Bevor eine Schlechtwetterfront heraufziehe, seien die Teams rechtzeitig zurück im Hafen. Deshalb haben die drei Windparkbetreiber große Servicestationen auf der Insel errichtet. Sie liegen einträchtig nebeneinander am alten Helgoländer Südhafen.
Esbach steht am Eon-Quartier, mit seiner schmucken Holzfassade das auffälligste der drei Gebäude, und blickt auf die noch laufenden Arbeiten an der Kaje. „Vorher war das hier eine Brachfläche“, sagt er.
Nicht schön anzusehen und zudem minenverseucht: Das Gelände und das Hafenbecken waren voller Granaten aus dem Zweiten Weltkrieg, immer wieder mussten die Bauarbeiter evakuiert werden, wenn die Kampfmittelräumer angerückt waren, weil es galt, einen alten Sprengsatz zu entschärfen.
Auch der Helikopter-Hangar von Eon ist bereits fertig. Wenn die See zu rau ist, um mit Schiffen in den Windpark zu fahren, können Teams mit dem Hubschrauber an den Anlagen abgeseilt werden.
Peter Singer ist der Chef der Helgoländer Hafenprojektgesellschaft. Er gerät ins Schwärmen, wenn er sieht, wie sich der Süden der Insel entwickelt hat. „Das ist schon eine fantastische Leistung. Im Mai 2014 haben wir die Flächen an die Windfirmen übergeben, und jetzt ist die neue Infrastruktur praktisch fertig."
Und sein (nicht verwandter) Namensvetter Jörg Singer jubelt: „Die Windkraft ist eine riesige Chance für uns“, sagt der Bürgermeister der Insel. Sie schaffe Arbeitsplätze, sorge für ein kräftiges Umsatzwachstum in Hotels, Restaurants und Geschäften und könne langfristig vielleicht sogar den Bevölkerungsschwund stoppen. „Ein echter Glücksfall“, freut sich Singer.
Doch nicht alle Insulaner teilen die Begeisterung ihres umtriebigen Bürgermeisters. Die Offshore-Leute mögen vielleicht geschickter mit einer Handkarre umgehen als die Touristen. Aber aus Sicht vieler Helgoländer bleiben sie trotzdem Fremde.
Eine Kneipe im Dorfzentrum. Popmusik dröhnt aus den Boxen, an einem Seitentisch lappt ein Schnitzel über den Tellerrand hinaus. „Man muss ja inzwischen vorsichtig sein, was man über die Windkraft sagt“, erklärt ein älterer Helgoländer, der davor sitzt. „Man möchte sich ja nicht mit den Windfreunden anlegen.“
Deshalb will er auch seinen Namen nicht verraten. Was ihn an der Windkraft stört, erzählt er aber doch. „Die Insel ist nicht mehr wie früher“, sagt er. Ständig seien Bagger und Lastwagen unterwegs. „Mit autofrei hat Helgoland schon lange nichts mehr zu tun.“ Und im Hafen dröhnten pausenlos die Katamarane der Windfirmen. „Ich habe Angst, dass der ganze Trubel auf Dauer unsere Touristen verjagt“, klagt der Mann. Die Insulaner seien in der Frage gespalten – die eine Hälfte sei für die neue Industrie, die andere dagegen.
„Man darf vor lauter Offshore den Tourismus nicht vergessen“, warnt ein Hotelier
Detlev Rickmers ist der größte Hotelier auf Helgoland, er vermietet gut 160 Betten verteilt auf mehrere Häuser, sein Wort hat hier Gewicht. „Man darf vor lauter Offshore den Tourismus nicht vergessen“, warnte er Anfang des Jahres in der „Zeit“. Wer Urlaub auf der Insel mache, suche Ruhe und Abgeschiedenheit – ein Image als Industriestandort könne ihr schaden.
Helgolands Bürgermeister Jörg Singer (links) und Knut Schulze von WindMW vor dem „Atoll“. Der Offshore-Windpark-Betreiber hat das Hotel für zehn Jahre gepachtet.
Auf derartige Kritik angesprochen, reagieren die Vertreter der Windkraftfirmen zurückhaltend. Niemand möchte mit einer unvorsichtigen Antwort den Zwist unter den Insulanern anstacheln. „Wir müssen versuchen, die Helgoländer noch stärker davon zu überzeugen, dass sie von uns profitieren“, sagt Lars Falldorf von WindMW diplomatisch.
Auch Bürgermeister Singer kennt die Sorgen vieler Insulaner. Er hält den Strukturwandel aber für alternativlos. „Was wäre denn hier los, wenn es die Windkraft nicht gäbe?“
Wenn die Tagesgäste die Insel verlassen, wird es auf Helgoland ruhig. Sehr ruhig
Ein Gang durch die Geschäftsstraßen der Insel zeigt, was Singer damit meint: Duty-Free-Shop reiht sich an Duty-Free-Shop, es ist wie eine Zeitreise in die 80er, als die Butterfahrten boomten. Wenn die Schiffe vom Festland da sind, drängen sich für wenige Stunden Tagestouristen durch die Läden, anschließend ist Ruhe.
Das Problem: Die Butterfahrten sind längst nicht mehr so populär wie vor zwei Jahrzehnten. Selbst an guten Tagen kommen nicht mal halb so viele Gäste wie zu den Glanzzeiten der Insel, jahrelang gingen die Umsätze zurück.
Inzwischen aber hat sich etwas geändert. Abends, wenn die Tagesgäste längst weg sind, erwachen Restaurants und Kneipen plötzlich zum Leben. Offshore-Techniker trinken ihr Feierabendbier, bevor sie sich in ihre über die ganze Insel verteilten Unterkünfte zerstreuen. Gelächter hallt dann durch die Straßen, und Sprachfetzen in Deutsch, Englisch und Dänisch.
Und deshalb setzt bei vielen Helgoländern allmählich ein Umdenken ein – sie wollen mitmischen in der Windkraft. Das Designhotell Atoll an der Kurpromenade etwa ist auf gleich zehn Jahre an WindMW verpachtet. Und auch Detlev Rickmers vermietet inzwischen die Hälfte seiner Betten an Offshore-Kräfte. Zudem gehen die Firmen auf die Insulaner zu. Sie treten als Sponsoren bei Veranstaltungen auf, laden zu Tagen der Offenen Tür in ihren Servicestationen oder organisieren wie WindMW ein Grünkohlessen für die Helgoländer.
Ich glaube, daran haben die Helgoländer gesehen, dass uns die Insel wirklich am Herzen liegt
Frank Röben, Mitarbeiter von WindMW
Am meisten könnte der Akzeptanz der Windkraft aber ausgerechnet ein Sturm geholfen haben. Im Herbst 2013 verwüstete Orkantief „Christian“ die James-Krüss-Schule im Helgoländer Oberland. Fenster wurden eingedrückt, ein großer Teil des Dachs abgedeckt.
An den folgenden Aufräumarbeiten beteiligten sich zahlreiche Freiwillige aus der Windindustrie. Die Schule bedankt sich noch heute auf ihrer Internetseite ausdrücklich „bei den vielen Kollegen der Firma Siemens“ für ihre Hilfe. „Ich glaube, daran haben die Helgoländer gesehen, dass uns die Insel wirklich am Herzen liegt“, sagt Frank Röben, damals Siemensianer, heute bei WindMW.
Abends am Hafen. Die Offshore-Crews sind zurück aus den Windparks, in Viererreihen machen ihre Katamarane an der Kaje fest. Männer mit abgekämpften Gesichtern bringen Arbeitsmaterial an Land, spritzen die Decks mit Wasser ab, erledigen kleine Reparaturen. Letzte Handgriffe nach einem langen Tag auf See.
Eine Handvoll Touristen beobachtet das Treiben eine Weile interessiert, einige machen Fotos. Dann trotten sie von dannen.
Einer von ihnen zieht eine Handkarre hinter sich her.