Gleich geht's unter Wasser: Das Helikopter-Modul schwebt an einem Kran über dem Trainingsbecken in Bremerhaven.
Training für Helikopter-Abstürze
- 10.02.2016
Katastrophe auf Knopfdruck Teil II
Von Volker Kühn
Er hat es ganz bestimmt nicht ernst gemeint. Es sollte ein Scherz sein. Trotzdem hat er mit seiner flapsigen Bemerkung mein Kopfkino gestartet. Seither läuft dort nur noch ein Genre: Katastrophenfilm, ohne Happy End.
Es war beim Mittagessen in der kleinen Kantine des Offshore-Trainingszentrums von Falck Safety Services in Bremerhaven. Wir saßen uns zufällig gegenüber. Er war Teilnehmer eines Erste-Hilfe-Kurses, ich hatte gerade den theoretischen Part meines Helikoptertrainings hinter mir. Ich erzählte ihm, dass es nach dem Essen mit der Praxis weitergehen würde.
„Glaub mir“, unterbrach er mich, und beugte sich weit über seinen Nudelteller vor, „du wirst heute Nachmittag nur eine einzige Sache lernen: dass du im Ernstfall der Erste bist, der ersäuft. So war es zumindest bei mir. Wir mussten zweimal abbrechen, weil ich so viel Wasser geschluckt hatte.“
Dann erzählte er mir kauend von seinen Erste-Hilfe-Übungen, aber ich konnte nicht mehr richtig folgen. In meinem Kopf hatte der Vorspann eines Katastrophenfilms begonnen.
Inzwischen bin ich über die harmlosen Anfangssequenzen längst hinaus. Ich habe die übrigen Protagonisten kennengelernt – die Trainergruppe, die Taucher, die mich im Notfall aus dem Wasser bergen sollen, und die anderen elf Teilnehmer. Ich habe mich in mein Kostüm gezwängt – den orangenen Trockenanzug, den Helm und den kleinen Brustsack, den ich mithilfe eines kurzen Schnorchels aufblasen kann, um im Notfall daraus zu atmen. Und ich habe den Schauplatz der Katastrophe betreten – das Schwimmbecken von Falck.
Über dem Wasser schwebt an einer Art Seilwinde eine Helikopter-Attrappe. Sie besteht nur aus dem Rumpf, keine Rotorblätter, keine Kufen. Hinten ist sie offen, im Inneren sehe ich vier Sitzplätze, zwei im Cockpit, zwei dahinter. Die Fenster bestehen aus Plastikscheiben, der Boden aus einem Metallgitter. Das ist das Gefährt, das mich gleich unter die Wasseroberfläche ziehen wird.
Ich muss an Szenen aus Titanic denken
Ein Ausbilder ruft die Namen von vier Teilnehmern auf, die als erste dran sind, auch meiner ist darunter. Ich bin erleichtert, dass es sofort losgeht. Besser man trägt sein Kreuz, als dass man es hinter sich herschleift.
Wir springen ins Becken und ein Ausbilder am Rand lässt über eine Fernsteuerung den Hubschrauber zu uns hinunter, bis er zu etwa einem Drittel eingetaucht ist. Sekundenschnell steigt das Wasser im Inneren. Szenen aus „Titanic“ erscheinen vor meinem geistigen Auge, nach der Sache mit dem Eisberg.
Jeder Teilnehmer bekommt einen persönlichen Trainer, der ihn durch die Übungen führt. Im Wasser warten Taucher, um im Notfall eingreifen zu können.
Ich schwimme in die Kabine und nehme hinten links Platz, neben einem viereckigen Fenster von der Größe eines Frühstückstabletts. Ich weiß, dass ich dort gleich hindurchtauchen soll, auch wenn ich mir in meinem unförmigen Overall mit Helm und Rettungsweste kaum vorstellen kann, wie das funktionieren soll. Andererseits: Rechts neben mir sitzt ein echter Schrank von einem Kerl – und bei ihm gehen die Ausbilder ja offenbar auch davon aus, dass er hindurch passt.
Jeder von uns vier Teilnehmern bekommt einen persönlichen Trainer zugeteilt, der während der Übungen in der Kabine bei uns sein wird. Ich bemerke, dass meiner schon seit einer Weile mit ruhiger, verständnisvoller Stimme auf mich einspricht. Wie war sein Name? Jörg?
Ich mag ihn nicht noch einmal danach fragen und nehme mir vor, mich ab sofort zusammenzureißen. Houdini hat sich aus viel gefährlicheren Situationen befreit, da werde ich doch wohl mit diesem Spielzeugheli fertig werden.
Mein Trainer, ich nenne ihn Jörg, erklärt mir noch einmal die wesentlichen Punkte: „Präg dir die Referenzpunkte in der Kabine ein, damit du die Orientierung behältst, wenn es losgeht. Wo ist das Fenster? Wie sind die Sitze angeordnet?“
Die wichtigste Regel schärft Jörg mir gleich mehrmals ein: „Schalte deinen Kopf ein! Lass ihn die Steuerung übernehmen! Keine Panik!“
Ich werde ruhiger. Tausende haben das hier vor mir geschafft, Tausende werden es nach mir schaffen. Auch der angekündigte Ablauf der Übung kommt mir entgegen: Wir werden mehrere Helikopterfahrten machen, wobei der Schwierigkeitsgrad nur langsam steigen soll. Genug Zeit, mich daran zu gewöhnen.
Rasend schnell steigt das Wasser in der Kabine
Es beginnt ganz simpel. Der Helikopter fährt aus einer Höhe von kaum zwei Metern bis auf die Wasseroberfläche hinunter, anschließend müssen wir zügig durch die Tür vorn aussteigen. Kinderspiel.
Doch schon die zweite Fahrt ist von einem anderen Kaliber. Nach dem internationalen Alarmruf „Brace! Brace! Brace!“ taucht der Helikopter diesmal komplett ins Becken, in rasendem Tempo steigt mir das Wasser über Beine, Bauch und Brust.
Gerade rechtzeitig noch hole ich tief Luft, da sitze ich auch schon komplett unter der Oberfläche, festgeschnallt in meinem Sitz. Ich schließe die Augen, durch das brodelnde Gemisch von Luftblasen würde ich ohnehin wenig sehen. Außerdem trage ich Kontaktlinsen, wie mir jetzt einfällt. Warum erst jetzt?!
Ich zähle unter Wasser bis drei, bis die imaginären Rotorblätter über mir ihren Betrieb eingestellt haben. Wenn ich zu früh aussteige, könnten sie mich köpfen. Dann drücke ich mit dem linken Arm kräftig die Plastikscheibe aus dem Fenster. Anschließend löse ich den Gurt vor meinem Bauch.
Sofort reißt mich der starke Auftrieb des Trockenanzugs nach oben, weg von dem Fenster, durch das ich aussteigen will. Referenzpunkte merken!, schießt es mir durch den Kopf. Mit der linken Hand umgreife ich die Einfassung, in der eben noch die Fensterscheibe gesteckt hat.
Ich ziehe mich durch die enge Öffnung nach draußen, wobei ich halb bewusst einen Widerstand an meinen Füßen spüre. Mein Kopf bricht durch die Wasseroberfläche und ich sauge Luft in meine Lungen. Kaum zehn Sekunden nach dem Untergang der Kabine.
„Du willst wohl unbedingt überleben, was?“, grinst mich Jörg an, als auch er aus der Kabine getaucht ist. Der Widerstand an meinen Füßen – das war seine Schulter. Beim Versuch, mich zu befreien, muss ich heftig gestrampelt und ihn an der Schulter erwischt haben. Dabei hatten uns die Ausbilder eingeschärft, vorsichtig zu sein, um andere Insassen nicht zu verletzen. „Immer mit der Ruhe“, sagt Jörg ohne Groll. „Schalte deinen Kopf ein.“
Nichts wie raus: Das Helikoptermodul hat sich unter Wasser um die 180 Grad gedreht, die Insassen müssen durch die Fensterluken hinaustauchen.
Die nächste Übung gleicht der vorigen, nur dass wir diesmal den Schnorchel einsetzen sollen, der vor unserer Brust an einem kleinen Luftsack befestigt ist. Bevor wir im Wasser versinken, müssen wir kräftig Luft holen. Damit haben wir einen Vorrat von vielleicht zehn, fünfzehn Atemzügen, schließlich verbraucht der Körper immer nur einen Teil des eingesaugten Sauerstoffs. Im Ernstfall kann das Leben retten.
Ich meistere auch diesen Durchgang, obwohl der dicke Gummischnorchel in meinem Mund einen leichten Würgereiz erzeugt und ich den Luftvorrat gar nicht nutze. In der Hektik habe ich nicht daran gedacht und schlicht die Luft angehalten.
Von Fahrt zu Fahrt werde ich routinierter, Jörg bekommt keine Tritte mehr ab. Oder ist er einfach zu höflich, mir davon zu erzählen? Ich weiß es nicht, die Ausstiege erfordern so viel Konzentration, dass ich unmöglich auch noch auf meine Füße achten kann.
Jetzt sitze ich wieder in meinem Sitz, Jörg schließt den Gurt und zieht die vier Riemen stramm, die über meine Schultern und die Oberschenkel verlaufen. Ich muss wieder an Houdini denken, den Entfesselungskünstler. Moment mal, fällt mir plötzlich ein, ist Houdini nicht am Ende bei so einem Trick draufgegangen?
Ich kämpfe mit einem Anflug von Panik, zumal Jörg nun den Höhepunkt der Übungen ankündigt: Der Hubschrauber wird komplett im Wasser versinken und sich dabei auf den Kopf drehen. „Bist du bereit?“, fragt Jörg. Ich nicke stumm.
Dann bleibe ich in der Fensteröffnung hängen
Die Seilwinde zieht die Kabine nach oben. „Steuerbord?“, fragt der Ausbilder mit der Fernbedienung am Beckenrand. Offenbar geht es um die Richtung, in die der Helikopter kippen soll. „Okay“, sagt einer von Jörgs Kollegen in der Kabine. Ich grabe in meinem Gedächtnis: Heißt das rechts oder links herum? Und von wo gesehen überhaupt?
„Brace! Brace! Brace!“ - Der Hubschrauber rauscht ins Wasser hinunter und beginnt sich zu drehen, kaum dass das erste Wasser durch das Metallgitter im Boden schießt. Nach rechts, übrigens. Da ich links sitze, habe ich etwas länger Luft als der Schrank im Sitz rechts von mir. Ich bin ein Glückspilz.
Unter Wasser kämpfe ich kurz um die Orientierung. Wo ist das Fenster? Ich hänge ja jetzt kopfüber im Sitz. Links! Wenn es vorhin da war, muss es auch jetzt noch da sein, der halbe Salto kann daran nichts geändert haben. Ich zähle bis drei (Rotorblätter!), drücke die Scheibe des Fensters hinaus, das sich jetzt unter mir befindet, und ziehe mich durch die Tiefe in die Öffnung.
Aber irgendwie bleibe ich mit Schnorchel und Luftsack am Fensterrahmen hängen. Und plötzlich ist es um meine Konzentration geschehen. Statt mich vorsichtig von der Kante wegzudrücken, dränge ich mit aller Kraft nach vorn. Schließlich löse ich mich vom Fenster. Mit einem kräftigen Tritt gegen die Außenwand der Kabine befördere ich mich nach oben. Geschafft! Kurz darauf ist Jörg neben mir. Er hebt den Daumen und grinst. Meinen Panikmoment hat er offenbar nicht mitbekommen. Auch ich muss grinsen.
Mal dreht sich die Kabine nach links, mal nach rechts. Die Insassen müssen spontan richtig darauf reagieren.
Ich ziehe mich in meinem triefenden Trockenanzug aus dem Becken. Draußen warten schon die nächsten Teilnehmer. „Und?“, fragt mich einer. Mir liegt der Satz des Kollegen vom Mittagessen auf der Zunge. „Das Einzige, was du heute lernen wirst …“ Aber das wäre nicht fair. „Leichter, als es aussieht“’ sage ich. „Du packst das schon!“
Dann wanke ich zur Dusche, um mir den Anzug auszuziehen. Ich muss dringend mal nach Houdini googeln, denke ich dabei.