Die Energiewende genießt in Umfragen großen Rückhalt. Vor Ort stößt sie aber oft auf Widerstand wie hier beim Bau der Stromtrasse Suedlink. „Nimby“ nennen Soziologen dieses Phänomen: „Not in my backyard“ („Nicht in meinem Hinterhof“).
Stromnetz in Deutschland
- 16.04.2021
Das Leid mit dem Leitungsbau
Von Robert Otto-Moog
Vor elf Jahren ging Alpha Ventus in Betrieb, der erste deutsche Offshore-Windpark. Seitdem sind mehr als zwei Dutzend Parks hinzugekommen, die zusammen eine Kapazität von 7,8 Gigawatt haben. 2040 sollen es in Deutschland schon 40 Gigawatt sein, für 2050 sind EU-weit sogar 300 Gigawatt geplant. Offshore-Wind, sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, spiele eine zentrale Rolle auf dem Weg in die Klimaneutralität. Doch wenn Europas Energie zur Jahrhundertmitte tatsächlich komplett erneuerbar sein soll, braucht es nicht nur mehr Windparks. Sondern auch mehr Leitungen, die ihren Strom verteilen.
Daran allerdings hapert es. Die Netze waren in den vergangenen Jahren das Nadelöhr der Energiewende. Ihr Ausbau hielt mit dem der Erneuerbaren nicht Schritt. Und das, obwohl Altmaier die Netze 2018 zur „Chefsache“ erklärt hatte. Um den Strom von der Küste in die industriellen Zentren im Süden und Westen der Republik zu transportieren, sollen mehr als 7000 Kilometer neuer Leitungen gebaut werden. Davon allerdings sind laut der Bundesnetzagentur bislang nur 1500 Kilometer fertig. Fast 5000 Kilometer befinden sich in teils zähen Genehmigungsverfahren, 700 sogar noch davor.
Für Marta Mituta sind diese Zahlen trotzdem ein gutes Zeichen. „Im vergangenen Jahr gab es sowohl bei den Gleich- als auch bei den Wechselstromvorhaben große Fortschritte in den Genehmigungsverfahren“, erklärt die Sprecherin der Bundesnetzagentur gegenüber EnergieWinde. Gerade bei den großen Projekten Suedlink, Suedostlink und Ultranet löst sich der Stau demnach allmählich auf.
Die Akzeptanz ließe sich verbessern: indem die Bürger früh ins Boot geholt werden
Tatsächlich seien die Stromnetze nicht mehr das größte Problem der Energiewende, sagt Ingrid Nestle, energiepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. Das liege aber weniger an den Fortschritten bei den Leitungen als an der Stagnation auf einem anderen Feld: „Mittlerweile ist der Ausbau von Wind an Land leider noch langsamer als der der Stromnetze“, erklärt Nestle im Gespräch mit EnergieWinde. Die Probleme der Windenergie könnten aber nicht verdecken, dass auch der Netzausbau beschleunigt werden müsse.
Die Gründe für den zähen Fortschritt seien vielfältig: Mancherorts fehle es an Akzeptanz, an politischer Rückendeckung und am Kooperationswillen. „Oft geht viel Zeit mit grundsätzlicher Ablehnung verloren“, sagt Nestle. Am Ende gibt es Frust bei den Bürgern und Verzögerungen beim Bau. „Wichtig ist vor allem die Unterstützung der Politik vor Ort.“ Denn meist wüssten die Menschen in den betroffenen Regionen am besten, wo die Hochspannungsleitungen verlegt werden sollten. Der Netzausbau dürfe zudem nicht erst dann zum Thema werden, wenn die Bauarbeiter anrücken, sagt Nestle.
Das deckt sich mit der Beobachtung von Konfliktberatern. Viel zu oft gingen die Planer nach einer Methode vor, die der Mediator Markus Troja einen „Dead Approach“ nennt: „Decide, announce, defend“ („Entscheiden, verkünden, verteidigen“). Statt in einem frühen Stadium ergebnisoffen über Pläne für Infrastrukturprojekte zu informieren, würden die Vorhaben durchgeplant und verkündet, erklärt Troja im Interview mit EnergieWinde.
Der grobe Verlauf von Suedlink steht fest: ein Korridor von 1000 Metern Breite
Ein Teil der aktuellen Verzögerungen sei der Coronakrise geschuldet, sagt Bundesnetzagentur-Sprecherin Mituta. Antragskonferenzen mussten durch langwierige schriftliche Verfahren ersetzt werden, Betroffene können schwerer kontaktiert werden. Dabei sind die Vorbehalte gegen die Pläne nicht weniger geworden. Bundesweit gibt es Bürgerinitiativen gegen die Stromtrassen. Sie fürchten Auswirkungen auf das Landschaftsbild oder die Tier- und Pflanzenwelt. Landwirte fordern einen Ausgleich für Erdkabel, die das Wachstum auf ihren Äckern beeinträchtigen könnten.
Protest regt sich unter anderem gegen den Suedlink, eine der Hauptadern des Stromnetzes. Trotzdem werden auch hier die Planungen immer konkreter. „Zuletzt haben wir einen Trassenkorridor für den letzten Abschnitt festgelegt“, sagt Mituta. Damit steht der grobe Verlauf der Stromautobahn fest. Rund 700 Kilometer Stromleitungen sollen den Windstrom künftig via Erdkabel von Schleswig-Holstein über Niedersachsen, Thüringen und Hessen bis nach Bayern und Baden-Württemberg transportieren. Der jetzt festgelegte Trassenkorridor ist rund 1000 Meter breit. In ihm sollen die Leitungen später verlegt werden. 2026 soll Suedlink fertig sein, geplant war einmal 2022. Suedostlink von Sachsen-Anhalt bis Bayern soll 2025 in Betrieb gehen.
Bauarbeiten an der Suedlink-Trasse: Durch dieses unterirdische Leerrohr sollen später Stromkabel gezogen werden.
Gebaut werden die Stromautobahnen unter anderem vom Netzbetreiber Tennet. Für fast 2000 Kilometer Erdkabel ist das Unternehmen verantwortlich. Sprecher Mathias Fischer zieht gegenüber EnergieWinde ein positives Zwischenfazit: „Wir haben nicht nur die größte Projektpipeline, sondern liegen bei den allermeisten Meilensteinen in unseren Projekten im Plan oder sind sogar schneller, trotz der erschwerten Bedingungen durch die Coronapandemie.“ Für die Umsetzung brauche das Unternehmen aber Rückendeckung aus der Politik. „Der Netzausbau muss auch für die neue Bundesregierung eine Priorität bleiben“, sagt Fischer. Nötig seien „klare, verlässliche und stabile Rahmenbedingungen“, sowohl bei Genehmigungsverfahren als auch in der Regulierung. „Die Energiewende braucht eine passende Infrastruktur und sie braucht sie schnell.“
Ähnlich sieht es bei 50Hertz aus, einem weiteren großen Player beim Netzausbau. Das Unternehmen meldet Fortschritte bei Suedostlink, aber auch hier bremsten Genehmigungsverfahren und Gerichtsprozesse die Arbeit. Der Landkreis Wunsiedel will sogar vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, um die Trasse zu verhindern: Der Bedarf sei nicht gegeben, der Bundesbedarfsplan daher rechtswidrig. Für sämtliche Stromnetzplanungen habe es keine Kosten-Nutzen-Analyse gegeben – entgegen europäischer Vorschriften. Auch beim Bundesverwaltungsgericht liegen Klagen gegen die Trasse vor.
Sind die Stromleitungen überhaupt nötig? Nein, sagt Energieforscherin Kemfert
Rückenwind für die Kritiker kommt aus Teilen der Wissenschaft. Zuletzt unterstützten Forscher um Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Forderung des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), den Bundesbedarfsplan zu überarbeiten. „Der Netzausbau in Deutschland beruht immer noch auf der alten Denkwelt der konventionellen Energiewirtschaft“, schreibt Kemfert in dem Papier. So würden Kohlekraftwerke durch ebenfalls CO2-intensive Erdgaskraftwerke ersetzt. „In den wenigen Stunden mit Netzengpässen werden Erneuerbare abgeregelt, statt die fossilen Kraftwerke, die teurer und schmutziger sind, vom Netz zu nehmen“, erklärt Kemfert. Dabei gebe es eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien, die belegten, dass mit kostengünstigen Maßnahmen wie „Abregelung, Leiterseilmonitoring sowie der Berücksichtigung der Infrastrukturkosten bei der Planung der notwendige Netzausbau erheblich reduziert werden kann“.
Grünen-Politikerin Nestle sieht das etwas anders. „Mittlerweile sind auch Szenarien ganz ohne Kohle- und Atomstrom gerechnet worden“, sagt sie. „Sie zeigen eindeutig, dass der Bedarf an Stromleitungen auch ohne diese Kraftwerke besteht.“ Auch in der Planung des Bundes würden solche Szenarien immer wieder berücksichtigt. Künftig werde vor allem auf die günstigen, aber wetterabhängigen Energieträger Wind und Sonne gesetzt werden, sagt Nestle. Und die seien vor allem gemeinsam und vernetzt stark, „weil sie sich dann gut gegenseitig ergänzen und aushelfen können“. Hinzu komme der steigende Strombedarf etwa durch die Digitalisierung. „Für all diese Entwicklungen benötigen wir das passende Stromnetz“, sagt Nestle.