Strommarktdesign

  • Search21.03.2023

Wie der Strommarkt reformiert wird

Brüssel und Berlin arbeiten an einer Neugestaltung des Strommarkts. Warum das bestehende System reformiert werden soll und was die entscheidenden Fragen dabei sind – ein Überblick.

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    Das Leuchten der europäischen Städte bei Nacht ist aus dem All zu sehen. Der Strom dafür stammt zunehmend aus erneuerbaren Quellen.

    Europa verabschiedet sich von fossilen Energien – und entwickelt dazu einen Markt, der auf Erneuerbare zugeschnitten ist.

     

    Von Volker Kühn

    Seit einem Jahr geistert ein Begriff durch die Energiedebatte, der zuvor wenigen etwas sagte: Merit Order. So wird der Mechanismus bezeichnet, nach dem sich die Preise an der Strombörse bilden. Seit dem Rekordhoch infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine steht die Merit Order in der Kritik. Viele sehen sie als Grund für die extreme Belastung von Verbrauchern und Unternehmen, nicht wenige fordern eine Reform.

    Tatsächlich arbeiten die EU-Kommission und die Bundesregierung an einer Neugestaltung des Strommarkts. Das liegt allerdings weniger an den Preiskapriolen. Der Grund ist vielmehr, dass das bisherige System nicht zu einer Welt passt, die sich komplett aus erneuerbaren Quellen versorgt. EnergieWinde erklärt, worum sich die Debatte dreht.

    Wie bildet sich der Strompreis bislang?

    An der Strombörse herrscht das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Wird mehr Strom gebraucht, als verfügbar ist, steigt der Preis. Umgekehrt fällt er, wenn das Angebot die Nachfrage übersteigt. Dahinter steht die sogenannte Merit Order. So bezeichnet man die Reihenfolge, in der Kraftwerke eingesetzt werden, um die Stromnachfrage zu decken. Zunächst werden die Kraftwerke herangezogen, die am günstigsten Strom erzeugen. Das sind grundsätzlich Solaranlagen und Windparks. Dann werden die nächstteureren Kraftwerke zugeschaltet, bis die Nachfrage schließlich gedeckt ist. Das teuerste Kraftwerk, das dazu gerade noch gebraucht wird, bestimmt den Preis, den sämtliche Stromerzeuger bekommen. Das sind fast immer Gaskraftwerke, da deren Brennstoff am teuersten ist.

    Die Merit Order stellt mit diesem Mechanismus sicher, dass zu jedem Zeitpunkt genügend Strom zur Verfügung steht, und zwar zu dem günstigsten Preis, der in diesem Moment möglich ist. Zudem schafft sie für Investoren einen Anreiz, Wind- und Solarparks zu bauen, denn damit können sie an der Börse mehr verdienen als mit Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerken.

    Entwicklung des Strompreises an der Leipziger Strombörse EEX von 2022 bis 2023: Im März 2022 kletterte der Preis in nie dagewesene Höhen. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Warum soll der Strommarkt reformiert werden?

    Europas Politiker betonen immer wieder, die Verbraucher vor Preisausschlägen wie 2022 schützen zu wollen. Die Reform des Strommarkts steht allerdings schon länger im Raum. Denn das bisherige System stößt in einer zunehmend auf erneuerbaren Energien basierenden Welt aus mindestens zwei Gründen an seine Grenzen:

    • Zum einen richtet sich im Merit-Order-Modell der Preis an der Strombörse nach den variablen Kosten der benötigten Kraftwerke. Werden Kohle- oder Erdgaskraftwerke gebraucht, ist er hoch, da sie teure Brennstoffe verfeuern. Bei Wind- und Solarparks fallen diese Ausgaben nicht an, sie haben variable Kosten von nahezu null. Entsprechend ist der Strompreis immer dann besonders niedrig, wenn die Erneuerbaren den Bedarf allein decken. Das wird im Zuge ihres Ausbaus mehr und mehr zur Regel. Für die Betreiber der Anlagen bedeutet das allerdings, dass sie immer öfter wenig oder nichts mit ihrem Strom verdienen. Damit jedoch fehlt der Anreiz zum Bau weiterer Anlagen. Künftig muss der Strommarkt daher andere Wege finden, um den Ökostromausbau voranzutreiben.
    • Zum anderen werden in der klimaneutralen Zukunft Backup-Kraftwerke gebraucht, die in Zeiten einspringen, in denen die wetterabhängigen Erneuerbaren zu wenig Strom liefern. Das werden unter anderem Gaskraftwerke sein, die mit grünem Wasserstoff laufen. Da sie unter Umständen nur wenige Stunden im Jahr laufen, bräuchten sie in dieser Zeit extrem hohe Preise, um ihren Bau und Betrieb zu refinanzieren. Diskutiert wird deshalb, ob das Vorhalten dieser Kapazitäten künftig auf anderem Wege finanziert werden soll. Im Fachjargon ist davon die Rede, den bisherigen Energy-Only-Markt (EOM), in dem ausschließlich tatsächlich produzierte Megawattstunden vergütet werden, durch einen Kapazitätsmarkt zu ergänzen. Dann würde auch das bloße Vorhalten von Erzeugungsleistung honoriert werden. Der Bedarf solcher Backup-Kraftwerke wird 2030 auf 20 bis 30 Gigawatt geschätzt.

    Warum planen Berlin und Brüssel parallel?

    Das Bundeswirtschaftsministerium hat vor wenigen Wochen die „Plattform Klimaneutrales Stromsystem“ gestartet: einen Dialog von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, der Eckpfeiler für das künftige Design des Strommarkts entwickeln soll. Zugleich arbeitet auch die EU-Kommission unter dem Eindruck der Energiekrise mit hohem Tempo an einer Reform. Ihre ersten Vorschläge wurden fast zeitgleich mit dem Start der Diskussion in Deutschland bekannt.

    Hintergrund ist, dass die EU zwar gemeinsam mit dem Parlament und den Mitgliedsstaaten den Rahmen vorgeben kann, die Ausgestaltung aber in der Regel auf Ebene der Mitgliedsstaaten stattfindet. Deutschland als zentraler Markt in der Mitte des Kontinents spielt dabei eine gewichtige Rolle. Es ist kaum vorstellbar, dass die EU ein System beschließt, das im kompletten Widerspruch zum Ergebnis der Diskussion in Deutschland steht.

    Was ist auf EU-Ebene geplant?

    Nachdem Äußerungen von Kommissionschefin Ursula von der Leyen im vergangenen Jahr noch auf eine tiefgreifende Umgestaltung des Markts hingedeutet hatten, gelten die kürzlich bekannt gewordenen Vorschläge bei vielen Beobachtern eher als „Reförmchen“. Am Merit-Order-Modell soll demnach grundsätzlich festgehalten werden. Das Leitmotiv der Vorschläge ist es, Verbraucher stärker von den günstigen Erzeugungskosten erneuerbarer Energien profitieren zu lassen. Eine wichtige Rolle dabei sollen Direktlieferverträge zwischen Stromerzeugern und Abnehmern jenseits der Strombörsen spielen. Diese sogenannten Power Purchase Agreements (PPA) gibt es seit knapp fünf Jahren auch auf dem deutschen Markt. Da sie meist langfristig über mehrere Jahre laufen, dämpfen sie Preisschwankungen.

    Staatliche Förderungen für den Bau von Ökostromanlagen sollen künftig nur noch über sogenannte Contracts for Difference (CfD) möglich sein. Dabei wird ein Strompreis festgelegt, den die Betreiber für ihren Strom erhalten. Fällt der Preis an der Börse darunter, ersetzt der Staat die Differenz. Steigt er darüber, kassiert der Staat die Mehrerlöse und gibt sie dem EU-Vorschlag zufolge an alle Stromkunden weiter. Wie genau CfD, auch Differenzkontrakte genannt, funktionieren, hat EnergieWinde hier beschrieben.

    Was plant Deutschland?

    Da die Diskussion gerade erst begonnen hat, ist ihr Ergebnis noch offen. Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck gab in seiner Eröffnungsrede zur Plattform Klimaneutrales Stromsystem vier Punkte vor: Das künftige Strommarktdesign muss die Versorgungssicherheit gewährleisten, bezahlbare Preise für Verbraucher und Industrie sicherstellen, klimaneutral sein und sich in ein europäisches Gefüge einfügen, in dem einige Länder auf sehr flexible und dezentrale Erneuerbare setzen und andere wie Frankreich auf zentrale Großkraftwerke in Form von Atomkraftwerken.

    Ein erster Bericht der Arbeitsgruppen innerhalb der Plattform Klimaneutrales Stromsystem soll im Sommer vorliegen, ein zweiter im Winter.

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