Bei Nacht erinnert der Reichstag an den Vorspann der Serie „House of Cards“. Geht es in Berlin ähnlich zu wie in dem Politthriller?
Lobbyismus in der Energiepolitik
- 21.03.2017
Machtspiele in Berlin
Thomas von Winter beschäftigt sich seit Jahren mit dem Einfluss von Interessengruppen auf den Gesetzgebungsprozess. Der Politikwissenschaftler lehrt an der Universität Potsdam und arbeitet daneben für das Sekretariat des Menschenrechtsausschusses im Deutschen Bundestag. Energie-Winde sprach mit dem Lobbyismusexperten über den Druck, den Interessenverbände auf die Politik ausüben – und über deren Möglichkeiten, sich zu wehren.
Herr von Winter, leben wir in Deutschland in einer Lobbykratie?
Thomas von Winter: Nein. Das würde ja bedeuten, dass alle Lobbyisten eine Einheit bilden und in eine gemeinsame Richtung auf die Politik einwirken. Doch ein Hauptmerkmal von Lobbyismus ist die Konkurrenz der einzelnen Gruppen untereinander. Es gibt viele unterschiedliche Akteure, deren Interessen oft stark voneinander abweichen.
Das heißt: Lobbyisten nehmen Einfluss, aber eben in unterschiedliche Richtungen?
Von Winter: Alle Lobbygruppen, egal ob Ärzteverband, einzelne Unternehmen oder Umweltorganisation, haben eines gemeinsam: Sie machen gegenüber der Politik die speziellen Interessen der Gruppierungen geltend, die sie repräsentieren. Die politischen Entscheidungsprozesse, auf die Lobbyisten einzuwirken versuchen, sind äußerst komplex. Wer sie verstehen will, muss sie jeweils einzeln und im Detail analysieren. Allein aus der Anzahl der Lobbygruppen und der Fülle der Aktivitäten, die sie entfalten, kann man keine Rückschlüsse auf ihren Einfluss oder eine etwaige Übermacht ziehen.
Wer das Geld hat, hat nicht unbedingt auch die Macht: „Wie in einem Strategiespiel kann die Politik einen Akteur gegen einen anderen ausspielen“, sagt Thomas von Winter. Übt etwa die Autoindustrie zu viel Druck aus, könnte sie eine Kampagne von Umweltverbände mit Informationen füttern.
Lobbyarbeit ist doch auch eine Frage der Ressourcen. Entsteht nicht automatisch ein Ungleichgewicht, wenn auf der einen Seite finanzstarke Großkonzerne ihre wirtschaftlichen Interessen vertreten und auf der anderen Seite eine NGO?
Von Winter: Es gibt unterschiedliche Arten von Ressourcen. Gewerkschaften haben zum Beispiel viele Mitglieder, die sie mobilisieren und zu Protesten auf die Straße schicken können. Unternehmen oder Industrieverbände verfügen hingegen über sehr viel Geld, können viel Personal einstellen, wissenschaftliche Gutachten in Auftrag geben oder Konferenzen veranstalten. Andere Faktoren können die Einbindung in soziale Netzwerke sein oder die gesellschaftliche Autorität. Für Macht und Einfluss von Lobbygruppen können deren finanzielle Mittel, aber eben auch andere Ressourcen maßgebend sein. Es gibt Fälle, in denen Interessengruppen sehr viel Geld für Lobbyarbeit einsetzen, aber am Ende ihre politischen Ziele doch nicht durchsetzen können.
Derjenige, der das meiste Geld in den Ring wirft, hat das Sagen – das greift zu kurz?
Von Winter: Ja. Die Politik ist dem Druck von Lobbygruppen doch nicht passiv ausgesetzt. Es wäre durchaus möglich, dass ein Wirtschaftsministerium, das von der Automobilindustrie bedrängt wird, beschließt, die Umweltverbände darüber zu informieren. Die wiederum können eine Öffentlichkeitskampagne gegen die Automobilindustrie starten. Wie in einem Strategiespiel kann die Politik einen Akteur gegen einen anderen ausspielen. Es gilt zu prüfen: Gelingt es den mächtigen Lobbyisten wirklich, die Interessen, die sie vertreten, durchzusetzen? Oder gibt es Gegenkräfte, die ihre Strategien ins Leere laufen lassen?
Alle gesellschaftlichen Gruppen müssten die gleichen Chancen haben, auf Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen, meint von Winter. „Nur dann können Gegengewichte entstehen.“ Gruppen wie Transparency International komme dabei eine Wächterfunktion zu.
Gruppen wie Transparency International und Lobby Control kritisieren immer wieder, dass der Spielraum für Lobbyisten in Berlin zu hoch sei. Wie schätzen Sie das ein?
Von Winter: Man muss dafür die verschiedenen Ebenen des Lobbyprozesses betrachten. Wir unterscheiden in der Forschung zwischen den Aktivitäten, dem Zugang und dem Einfluss. Ohne Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern kann man keinen Einfluss gewinnen. Aber wenn man Zugang findet, heißt es noch lange nicht, dass man Einfluss hat. Ähnlich ist es mit den Aktivitäten: Die Interessengruppe mit den meisten Gesprächskontakten in der Politik, den meisten Presseerklärungen und den meisten parlamentarischen Abenden ist nicht zwangsläufig auch die politisch erfolgreichste. Den tatsächlichen Einfluss kann man nur messen, indem man sich die Entscheidungsprozesse im Einzelnen anschaut – von der ersten Idee zu einem Gesetzentwurf bis hin zum fertigen Gesetz – und dann prüft, welche Gruppen dazu Interessen artikuliert haben und was sie unternommen haben, um den Inhalt des Gesetzes zu beeinflussen. Solche komplexen Policy-Prozesse im Detail zu analysieren, ist schwierig und erfordert einen hohen Forschungsaufwand.
Und das tun Sie als Wissenschaftler?
Von Winter: Das ist die hohe Schule der Lobbyismusforschung. Einflussuntersuchungen, die dem höchsten Standard entsprechen, sind so aufwändig und damit auch so teuer, dass es weltweit nur ein paar Dutzend davon gibt. Das Interessante ist, dass viele Forscher anfangs davon ausgingen, relativ leicht die mächtigsten Akteure identifizieren zu können. Doch am Ende stellte sich oft heraus, dass die politischen Prozesse sehr viel unberechenbarer und unsicherer sind, als sie angenommen hatten. Gelegentlich wurde ein Übergewicht der reicheren Gruppen festgestellt, aber dies war weder durchgängig so noch in dem Ausmaß, wie angenommen. Oft spielen intervenierende Faktoren eine Rolle, etwa Koalitionen von Interessengruppen. Wenn es einer finanzstarken Gruppe einmal gelingt, sich durchzusetzen, erregt das öffentliche Aufmerksamkeit. Doch wenn eine starke Gruppe eine Niederlage erleidet, nimmt die Öffentlichkeit davon oft kaum Notiz.
„Allein aus der Anzahl der Lobbygruppen und der Fülle der Aktivitäten, die sie entfalten, kann man keine Rückschlüsse auf ihren Einfluss ziehen“, sagt Thomas von Winter. Dazu seien die politischen Prozesse viel zu unberechenbar.
Weil es nicht dem Klischee der bösen, übermächtigen Lobbyisten entspricht?
Von Winter: Ich finde es absolut richtig, wenn über Erfolge von starken Gruppierungen auch kritisch berichtet wird. Doch wenn man den Einfluss dieser Gruppen seriös einschätzen will, muss man im Zeitverlauf sowohl die Niederlagen als auch die Erfolge aufzeigen.
Apropos übermächtige Lobbyisten: Die Verhältnisse in den USA werden gern als warnendes Beispiel angeführt. Unterscheidet sich das System in Deutschland überhaupt noch von dem dortigen?
Von Winter: Ja. Es gibt unterschiedliche Traditionen, was Verbände und Interessengruppen angeht. Das US-System kann man als pluralistisch bezeichnen, während es in Deutschland eine korporatistische Tradition gibt. Verbände wie der DGB, die BDA oder der BDI hatten in Deutschland lange Zeit eine Art Monopolstellung. Sie integrierten ein weites Spektrum von Interessen und brachten sie dem Staat gegenüber gebündelt zum Ausdruck. Ein solches System von Dachverbänden existiert in den USA nicht. Dort herrscht auf allen Ebenen große Konkurrenz, was dazu geführt hat, dass die einzelnen Gruppen sehr viel aktiver sein müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. In Deutschland sitzen beide Seiten, Staat und Verbände, in vielen Gremien und Institutionen von vorneherein an einem Tisch. Dieses System weicht zwar in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr auf, ist aber in seinen Grundstrukturen teilweise bis heute erhalten geblieben.
Inwiefern weicht es auf?
Von Winter: Die Erscheinungsformen von Lobbyismus wandeln sich. Die großen Verbände waren lange prägend, aber in den vergangenen 20, 30 Jahren sind neue Akteurstypen hinzugekommen, etwa die neuen sozialen Bewegungen. Früher haben Unternehmen ihre Interessen über die Verbände ins politische System eingespeist, heute haben viele Unternehmen eigene Repräsentanten in Berlin und betreiben zusätzlich Firmenlobbying. Hinzu kommen spezialisierte Consultingfirmen oder Rechtsanwaltskanzleien. „Hired guns“ nennt man sie in den USA, also Lobbysöldner.
Zunehmend versuchen Think Tanks die politische Entscheidungsfindung zu beinflussen. „Manche davon geben sich wissenschaftlich und politisch neutral, sind aber eigentlich ferngesteuert“, sagt Thomas von Winter.
Think Tanks spielen in den USA ebenfalls eine wichtige Rolle, etwa in Bezug auf Energiepolitik. Große Ölfirmen investieren dort massiv Geld, um Studien in Auftrag zu geben, die den Klimawandel anzweifeln. Wie ist das bei uns?
Von Winter: Think Tanks sind eine neue Form, die Öffentlichkeit zu beeinflussen. Manche davon geben sich wissenschaftlich und politisch neutral, sind aber eigentlich ferngesteuert, also getragen von bestimmten Interessengruppen. Das gibt es auch in Deutschland. Man muss diese Entwicklung kritisch beobachten und ihre Erzeugnisse teilweise mit Skepsis betrachten. Allerdings unterhält nicht nur die Unternehmensseite Think Tanks. Auch andere, nicht-wirtschaftliche Akteure sind in der Lage, dieses Instrument zu nutzen. Ein Beispiel ist das Öko-Institut in Freiburg. Wichtig ist, dass Konkurrenz besteht. Wenn eine neue Form des Lobbyismus auftaucht, müssen möglichst alle Gruppen in der Gesellschaft die Chance haben, davon Gebrauch zu machen. Nur dann können Gegengewichte entstehen.
Und wenn das nicht gelingt?
Von Winter: Es ist wichtig, dass Organisationen wie beispielsweise die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die von der Unternehmensseite ins Werk gesetzt wurde, kritisch begleitet werden. Die Arbeit von Organisationen wie Lobby Control und Transparency International ist da sehr wertvoll. Sie übernehmen eine Wächterfunktion.
Die Fragen stellte Julia Müller.