Klimaforscher im Interview

  • Search13.04.2018

„Im Ausland schmunzelt man über uns“

Harry Lehmann, Klimaexperte des Umweltbundesamts, spricht im Interview mit EnergieWinde über Versäumnisse der Politik, Fake News in der Klimadebatte und den gefährlichen Hang der Deutschen zu großen Dieselautos.

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    Für diplomatische Zurückhaltung sind die Beamten des Umweltbundesamts (UBA) in Dessau nicht bekannt. Eher für deutliche Worte. Harry Lehmann beschäftigt sich dort als Fachbereichsleiter mit Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Energie und Verkehr. Wir trafen ihn in Berlin auf dem Panoramapunkt des 115 Meter hohen Kollhoff-Towers am Potsdamer Platz zum Fototermin. Angesichts eisigen Windes führten wir das Gespräch aber eine Etage tiefer – im beheizten Café.

    Herr Lehmann, das UBA versteht sich als wissenschaftliches Frühwarnsystem, das Beeinträchtigungen des Menschen und der Umwelt rechtzeitig erkennt. Wie schätzen Sie die Lage unseres Planeten angesichts des Klimawandels ein?
    Harry Lehmann: Sehr ernst. Ausrufezeichen. Ausrufezeichen. Wenn es uns nicht gelingt, den Klimawandel zu begrenzen, dann wird das negative Folgen für den überwiegenden Teil der Menschheit haben. Schon heute werden wir nicht mehr ohne Blechschaden aus diesem Spiel herauskommen. Es kann glimpflich ausgehen, wenn es uns gelingt, die sogenannten Kippelemente des Erdsystems stabil zu halten. Kommt es jedoch zu Schäden an polaren Eisschilden, Meeresströmungen und Permafrostböden, wären die Folgen für das Weltklima besonders gravierend. Dann wird es nicht bei einem Blechschaden bleiben.

    Was ist wahrscheinlicher?
    Lehmann: Wenn wir das im Klimavertragertrag von Paris beschlossene Ziel erreichen, die globale Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, dann ist es voraussichtlich nur ein Blechschaden. Aber auch dafür müssen die Länder mehr als jetzt unternehmen, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern.

    Über den Dächern von Berlin: Harry Lehmann (64) arbeitet seit 2004 für das Umweltbundeamt (UBA). Zuvor war der promovierte Physiker unter anderem für das Genfer Forschungszentrum CERN tätig.

    Was ist zu tun?
    Lehmann: Die Lösungen sind allen Verantwortlichen bekannt. Sie wurden in Studien und Szenarien zigmal beschrieben, auch von uns. Das wichtigste ist die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft. Dabei dürfen wir den Ressourcenverbrauch aber nicht aus den Augen verlieren.
    Dekarbonisierung reicht von der Nutzung erneuerbarer Energien bis zur Veränderung industrieller Prozesse, zum Beispiel in der Stahlproduktion. Darüber hinaus müssen wir Energie wesentlich effizienter einsetzen und unseren Lebensstil hinterfragen – vom Fleischkonsum bis zur Reise im Ferienflieger.

    Spielt Klimaschutz in der deutschen Politik eine ausreichend wichtige Rolle?
    Lehmann: Nein, das war einmal. Wir haben die Führung im Klimaschutz verloren. Früher galt Deutschland als Blaupause für andere Länder. Wenn ich heute im Ausland unterwegs bin, stelle ich fest, dass man immer öfter über die Deutschen schmunzelt, weil sie in Sachen Klimaschutz einfach nicht mehr weiterkommen.

    Wie bewerten Sie, dass sich die Große Koalition von den Klimazielen für das Jahr 2020 verabschiedet hat?
    Lehmann: Das ist ein Zeichen, das in die falsche Richtung geht. Sicher, Deutschland hat seine Treibhausgasemissionen seit 1990 deutlich gesenkt und in dieser Zeit tiefgreifende Transformationsprozesse durchlaufen. Aber das reicht nicht. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir auch die nächste Latte reißen. Legen wir die durchschnittlichen Treibhausgasminderungen der vergangenen sechs Jahr in Deutschland zugrunde, werden wir die für 2030 angesetzten Minderungsziele 45 Jahre später erreichen.

    Welche Maßnahmen sollten in Deutschland sofort ergriffen werden?
    Lehmann: Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien noch stärker vorantreiben und zugleich beim Kohleausstieg wesentlich konsequenter vorgehen. Das ist ohne Weiteres möglich, ohne die Energieversorgung zu gefährden. Auf unserer Website finden Sie dazu konkrete Vorschläge.

    Außerdem muss in allen Sektoren die Energieeffizienz steigen, die Sanierungsrate für Gebäude sollte zum Beispiel verdoppelt werden. Eine ebenfalls wesentliche Rolle spielt der Verkehrssektor in Deutschland. Dort sind die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 sogar angestiegen. Ziel muss neben Verkehrsvermeidung und Verlagerung auf umweltfreundliche Verkehrsmittel die Einführung verbrauchsarmer Fahrzeuge und der Einsatz alternativer Antriebe wie der Elektromobilität sein.
    Ziel muss auch sein, die Infrastrukturen sowie die Produktions- und Konsummuster treibhausgasneutral zu gestalten.

    „Wenn ich im Ausland unterwegs bin, stelle ich fest, dass man über die Deutschen schmunzelt, weil sie in Sachen Klimaschutz nicht weiterkommen“: Harry Lehmann im Interview mit EnergieWinde.

    Man hat den Eindruck, dass die Bundesregierung recht wenig auf die Ratschläge des UBA hört. Woran liegt das?
    Lehmann: Umwelt- und Klimaschutz sind Querschnittsaufgaben. Sie berühren die meisten Ressorts. Deren Selbstverständnis und deren Zuschnitt macht es in den Abstimmungsprozessen nicht immer leicht, dem Leitbild einer nachhaltigen Politik gerecht zu werden. Denn die muss ökologische, ökonomische und soziale Aspekte gleichermaßen berücksichtigen.

    Führt ein mögliches Fahrverbot für Dieselautos eigentlich in die falsche Richtung? Dieselmotoren stoßen doch weniger CO2 aus als Benzinmotoren.
    Lehmann: Der Vorteil von Dieselfahrzeugen steht nur auf dem Papier. Bei gleicher Motorisierung stoßen sie zwar bis zu 15 Prozent weniger CO2 aus als Benziner. Dem steht entgegen, dass heute immer mehr schwere und hochmotorisierte Fahrzeuge gerade mit Dieselantrieb ausgestattet werden, um den Verbrauch im erträglichen Rahmen zu halten. Die CO2-Emissionen der Neuwagen liegen daher im Schnitt bei Diesel und Benzin fast gleichauf. Außerdem täuscht Ihr Argument darüber hinweg, dass der Verbrennungsmotor – egal welcher – am Ende seines Lebenszyklus angekommen ist.

    Aber immer mehr Kunden wollen einen großen und schnellen Geländewagen fahren.
    Lehmann: Es gibt gerade bei uns noch diese unheilige Allianz aus Werbung, Autoherstellern und Verbrauchern. Aber wenn wir in andere Gegenden der Welt schauen, sehen wir, wie sich die Dinge verändern – auch durch klare politische Signale. China lässt die Elektromobilität massiv ausbauen. Große umweltfreundliche US-Bundesstaaten wie Kalifornien fördern ebenfalls neue Mobilitätsstrukturen.

    In Europa hingegen bezuschussen wir über Abschreibungsverfahren große Firmenwagen mit hohem Verbrauch und subventionieren den Dieseltreibstoff. Wenn diese Vorteile wegfallen, würde das schon mal zu einer Verhaltensänderung bei einem Teil der Käufer führen.

    Ist es den meisten Menschen nicht egal, was mit der Umwelt passiert?
    Lehmann: Unsere Umweltbewusstseinsstudien zeigen eindeutig, dass die überwältigende Mehrheit der Befragten Themen wie Klimaschutz sehr ernst nimmt. Die Zustimmungsquoten liegen bei bis zu 70 Prozent.

    Das scheint sich im Verhalten des Einzelnen aber kaum niederzuschlagen.
    Lehmann: Einzelne Menschen haben oft das Gefühl, ohnehin nichts bewirken zu können. Diese Haltung verbindet sich mit innerem Widerstand, wenn man auf liebgewonnene Gewohnheiten verzichten soll. Dazu gehört beispielsweise das Fahren im schnellen, eigenen Auto.

    Wie kann die Politik die Menschen motivieren?
    Lehmann: Indem wir den richtigen Moment abwarten und dann vorbereitet sind. Die großen Themen bewegen sich zyklisch. Im Moment werden soziale Themen wie Armut diskutiert. Vielleicht wird danach die Stabilität des Finanzsystems in den Mittelpunkt rücken. Ich schätze, dass um 2020 die Frage des Klimaschutzes wieder im Zentrum stehen wird, wenn die nächste große Weltklimakonferenz stattfinden, bei der die Länder neue Klimaschutzpläne vorlegen müssen. Dann wird es Menschen in der Politik geben, die sich vor diesem Hintergrund profilieren wollen. Dann müssen wir sie mit wissenschaftlich gesicherten Informationen unterstützen können.

    Und bis dahin …
    Lehmann: …leisten wir am UBA Kärrnerarbeit. Leider bewegen wir uns in der Zwischenzeit viel langsamer vorwärts als andere Staaten. China zum Beispiel misst der Offshore-Windenergie strategische Bedeutung bei und investiert massiv in den Bereich, ähnlich wie zuvor bei der Fotovoltaik. Das Land baut zum Beispiel auch eine eigene Batteriefertigung für die Elektromobilität auf und drosselt die Kohleverstromung.

    Kohleausstieg, Ausbau der Erneuerbaren, Gebäudesanierung und Verkehrswende: Harry Lehmann zählt im Gespräch mit EnergieWinde-Autor Heimo Fischer (links) die drängendsten Punkte in der Klimapolitik auf.

    China hat eine autoritäre Regierung und kann solche Maßnahmen viel konsequenter umsetzen als Deutschland.
    Lehmann: Ab einem bestimmten Punkt wird Deutschland mitziehen müssen. Ich rechne mit einem Avalanche-Effekt.

    Einer lawinenartigen Veränderung.
    Lehmann: Wenn zum Beispiel deutsche Autos zu viele Schadstoffe ausstoßen und die Anforderungen wichtiger Märkte wie China oder Kalifornien nicht mehr erfüllen, dann müssen ihre Hersteller reagieren. Für Unternehmen stellen solche tiefgreifenden, sprunghaften Veränderungsprozesse natürlich ein Risiko dar. Für die Umwelt sind sie eine Chance – weil sie einen sehr schnellen und weitgehenden Wandel einleiten können.

    Das Umweltbundesamt soll öffentlich beraten und aufklären. Wer hört eigentlich mehr auf Sie – die Politik oder Unternehmen?
    Lehmann: Sagen wir es mal so: In der Politik gibt es seit 40 Jahren Leute, die auf uns hören, und ihre Zahl steigt leicht. In der letzten Zeit verstärken sich aber gesellschaftliche Strömungen, die das Konzept der Aufklärung, also der naturwissenschaftlich begründeten Analyse von Situationen, aufgegeben haben.

    Die Klimadiskussion sei zunehmend von sogenannten alternativen Fakten geprägt, sagt Harry Lehmann: „Dieses Phänomen gibt es auch in den etablierten Parteien. An denen geht so ein Trend nicht spurlos vorüber.“

    Sie meinen den Hang zu alternativen Fakten? Gibt es so etwas nicht nur am Rande des politischen Spektrums?
    Lehmann: Dieses Phänomen gibt es auch in den etablierten Parteien. An denen geht so ein Trend nicht spurlos vorüber.

    Und in der Wirtschaft?
    Lehmann: Ich habe insgesamt ein eher positives Bild von der Industrie, weil Unternehmen an vielen Stellen mehr für den Klimaschutz machen, als man von außen mitbekommt. Aus unterschiedlichen Gründen. Es gibt Konzerne, die mit grünen Technologien Geld verdienen. Andere setzen sich für die Einhaltung von Klimazielen ein, weil sie langfristige Entscheidungssicherheit wollen und davon ausgehen, dass nachhaltiges Wirtschaften ihre Existenz sichert. Und dann sind da natürlich Unternehmen, die an tradiertem Verhalten festhalten, weil sie glauben, damit am schnellsten Geld zu verdienen.

    Hat sich die Einstellung der Energiekonzerne geändert?
    Lehmann: Ja. Da hat es einen erheblichen Wandel gegeben. In den Neunzigerjahren haben Energieversorgungsunternehmen vorgerechnet, dass bei einem Anteil von mehr als vier Prozent Strom aus erneuerbaren Quellen unsere Netze zusammenbrechen. Heute sind wir in Deutschland bei 40 Prozent.

    Sie sagten eingangs, ein Blechschaden ließe sich nicht mehr vermeiden. Was tut Deutschland, um sich auf die negativen Folgen des Klimawandels einzustellen?
    Lehmann: Es gibt seit Jahren eine Anpassungsstrategie – auf deutscher und europäischer Ebene. Auch beim Umweltbundesamt befassen sich Fachleute damit. Es geht zum Beispiel um die Folgen für Landwirtschaft, Gewässer und Natur, aber auch um die Frage, wie wir bei besonderen Hitzelagen in unseren Städten leben können. Wird es genug Kühlaggregate geben? Oder was bedeutet häufiger Dauerregen für die Abwassersysteme? Wir schlagen eine „Schwammstadt“ vor mit der Entsiegelung städtischer Flächen und der Einrichtung temporärer Wasserspeicher.

    Geht die Politik Fragen der Klimaanpassung mit dem nötigen Ernst an?
    Lehmann: Ja, da findet viel statt, was in der Öffentlichkeit nicht immer sichtbar wird. Das Erhöhen von Deichen bringt man nicht unbedingt mit dem Klimawandel in Verbindung.

    Vielen Dank für das Gespräch!

    Die Fragen stellte Heimo Fischer.

    Zur Person
    Der promovierte Physiker Harry Lehmann (64) leitet seit 2004 am Umweltbundesamt den Fachbereich I, wo er sich mit Nachhaltigkeitsstrategien, Klimaschutz, Energie und Verkehr befasst. Anfang der Achtzigerjahre arbeitete er am Genfer Forschungszentrum CERN mit dem Nobelpreisträger Carlo Rubbia zusammen. Es folgten Stationen am Wuppertal Institut sowie am Institut for Sustainable Solutions and Innovations (ISIS). Er engagierte sich für Greenpeace International und ist einer der Mitbegründer von Eurosolar.

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