Livebild vom Meeresboden: Der Untergrund der Nordsee ist überwiegend sandig. Steine wie dieser bilden ein wichtiges Habitat für Pflanzen und Tiere.
Kartierung des Meeresbodens
- 12.06.2018
Die Vermessung der Nordsee
Von Hans Wille
Mit jeder Welle, die gegen das Panzerglas der Bullaugen schwappt, verdunkelt sich das Labor im Bauch der „Heincke“. Für Momente strahlt das Licht aus gut einem Dutzend Monitoren etwas heller in den Raum. Dann zieht sich die Welle zurück und am Horizont tauchen wieder die Türme der Offshore-Windparks Dantysk und Sandbank auf.
Svenja Papenmeier hat dafür keinen Blick übrig. Ihre Konzentration gilt einem Screen, der ein schwarz-weißes Endlosbild zeigt. Es stammt vom „Fisch“, einem Seitensichtsonar, das die „Heincke“ hinter sich herschleppt. Gut 15 Meter über dem Nordseegrund scannt es die Sedimente auf einem 150 Meter breiten Streifen und schickt ein Livebild davon nach oben.
„Jeder Stein ist bewachsen“, sagt Papenmeier, ohne aufzuschauen. „Dieser Satz ist zwar nicht bewiesen, wabert aber durch die Welt, als wäre er eine Gewissheit.“ Die Geowissenschaftlerin vom Alfred-Wegener-Institut auf Sylt gibt sich damit allerdings nicht zufrieden. Sie will es genau wissen. Und das ist der Grund, warum das Forschungsschiff „Heincke“ hier im Naturschutzgebiet Sylter Außenriff unterwegs ist.
Man könnte das leicht als Projekt aus dem Elfenbeinturm der Forschung abtun. Wen interessiert es schon, ob auf den Steinen, die draußen auf dem dunklen Grund der Deutschen Bucht herumliegen, irgendwelches Grünzeug fleucht?
Die letzte Nordsee-Kartierung stammt aus den Achtzigern. Aber sie ist ungenau
Doch das wäre zu kurz gegriffen. Denn in der überwiegend sandigen Nordsee sind Steine ein ebenso seltenes wie wertvolles Habitat. Sie spielen eine bedeutende Rolle als Lebensraum für Pflanzen und Tiere – und damit für die Gesundheit des ganzen Ökosystems Nordsee.
Deshalb haben es sich Papenmeier und ihr Team zur Aufgabe gemacht, den Meeresgrund zu kartieren. Sie wollen herausfinden, ob wirklich jeder Stein bewachsen ist. Gibt es Gegenbeispiele? Welche Prozesse spielen dabei eine Rolle?
Fast 55 Meter lang und ausgestattet mit modernster Technik: Die „Heincke“ ist das zweitgrößte Schiff in der Flotte des Alfred-Wegener-Instituts (AWI). Sie bietet bis zu zwölf Forschern Platz.
Die Ergebnisse ihrer Forschung sind brisant, nicht nur aus Sicht von Meeresbiologen und Geowissenschaftlern. Denn von ihnen hängt nicht zuletzt ab, in welchen Regionen der Nordsee Offshore-Windparks gebaut oder Trassen für Stromkabel verlegt werden können. „Wir erstellen während dieser Forschungsfahrt die Grundlagen für eine flächendeckende Sedimentkartierung der Nordsee“, sagt Papenmeier, die wissenschaftliche Leiterin der Expedition.
Mit ihrem siebenköpfigen Team scannt sie dazu flächendeckend ausgewählte Gebiete im Sylter Außenriff, um eine Karte mit den unterschiedlichen Sedimentarten zu erstellen: Feinsand, Mittelsand, Grobsand, Kies und eben Steine – die laut Definition im Durchmesser mindestens 6,3 Zentimeter dick sind und angeblich immer bewachsen.
Bislang gibt es von der Nordsee nur überregionale Sedimentkarten aus den Achtzigern, die auf punktuellen Messungen beruhen. In der Deutschen Bucht lagen die Messpunkte zwei bis drei Kilometer auseinander – entsprechend ungenau waren die Karten. In der Ostsee ist die Datenlage ähnlich dünn.
Naturschützer müssen wissen, wo schützenswerte Biotope liegen
Doch weil der Nutzungsdruck auf die Meeresböden zunimmt – nicht zuletzt durch die Offshore-Windindustrie –, verlangt die EU die Umsetzung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie im Meeresbereich und erfordert detailliertere Kenntnisse über den Meeresboden und seine Biotope.
„Unter anderem geht es darum, dass die Naturschutzbehörden genau wissen, wo schützenswerte Biotope sind“, sagt Claudia Propp vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH), das im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz die Sedimentkartierung im Bereich der ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands erstellt.
Die wissenschaftliche Leiterin der Forschungsmission im Naturschutzgebiet Sylter Außenriff: Svenja Papenmeier arbeitet mit ihrem siebenköpfigen Team an einer Anleitung zur standardisierten Kartierung des Meeresgrunds.
Wenn Meeresbiologen bislang wertvolle Biotope entdeckten, hätten sie oft sehr große Kreise darum gezogen, aus Sorge, dass Teile des Biotops zerstört werden könnten, sagt Propp. Kreise, in denen dann jegliche Nutzung des Meeresbodens eingeschränkt sein konnte.
Die neuen Karten liefern eine räumliche Auflösung von einem Meter. „Das ist ein Fortschritt für alle Beteiligten, die das Meer nutzen wollen. Konflikte können entschärft werden, wenn alle die genaue und vollständige Verteilung der Sedimente kennen“, sagt Propp.
Die Sedimentkarte ist deshalb eine wichtige Grundlage der vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfungen für Offshore-Windparks oder Kabeltrassen – denn der Windstrom muss zwangsläufig durch das Naturschutzgebiet Wattenmeer an Land geleitet werden. „Durch die Kartierung machen wir transparent, warum die Trasse durch gewisse Gebiete der Deutschen Bucht nicht führen können, durch andere indes schon“, sagt Propp.
Manchmal entdeckt die „Heincke“ Wracks, die auf keiner Karte stehen
Svenja Papenmeier, die Fahrtleiterin auf der „Heincke“, hat sogar schon Wracks auf ihrem Bildschirm gesehen, die auf den amtlichen Seekarten nicht verzeichnet sind. Anhand der akustischen Schatten, die der Fisch am Meeresboden verzeichnet, kann sie die Form von Gegenständen genau erkennen. Ihr Interesse widmet sie aber ganz den unterschiedlichen Sedimenten. Steine, die mindestens einen halben Meter dick sind, kann sie auf dem Bildschirm direkt erkennen, Kiesflächen oder einzelne Sandklassen unterscheiden sich nur durch die Grautöne.
„Unser Ziel ist es, eine Anleitung zu entwickeln, mit der alle möglichen Stakeholder standardisierte Sedimentkarten erstellen können. Denn nur dann sind die einzelnen Karten wirklich vergleichbar in ihrer Aussagekraft“, sagt Papenmeier. Mit der Kombination von vier hydroakustischen Messgeräten kann sie die räumliche Verteilung der unterschiedlichen Sedimente exakt eingrenzen.
Deshalb haben ihre Mitarbeiter an Bord vor allem vier Bildschirme im Blick, auf denen jedes Gerät seine Ergebnisse live visualisiert. Der Fisch gibt zwei fächerförmige Impulse, auch Pings genannt, quer zur Fahrtrichtung an den Meeresboden. Anhand der Intensität der Echos bildet das Gerät unterschiedliche Strukturen zweidimensional ab – Steine, Wracks, diverse Sandkorngrößen und Kiesflächen.
Zeitgleich misst ein am Rumpf des Schiffs befestigtes Fächerecholot die Wassertiefe und damit das Relief des Meeresgrunds. Das Sedimentecholot indes schaut je nach Sedimentbeschaffenheit bis zu 20 Meter tief in den Grund hinein. Das vierte Gerät heißt RoxAnn. Es kann Aussagen darüber treffen, ob die Oberfläche des Meeresbodens glatt oder rau ist, hart oder weich.
Immer wieder sinkt der Greifer ins Wasser, um Bodenproben zu sammeln
„Aus dem Zusammenspiel dieser vier Datenströme kann ich meistens gut erkennen, welches Substrat den Meeresboden unter uns bedeckt“, so Papenmeier. Allein auf die hydroakustischen Messungen will sie sich allerdings nicht verlassen. Um die Daten zu überprüfen und mit der Realität abzugleichen, nehmen die Forscher immer wieder Stichproben des Bodens. Dafür kann Papenmeier Greifer und Videokamera zu Wasser lassen.
Kapitän Haye Diecks stoppt dann die „Heincke“ punktgenau an der vorgesehenen Stelle, die Deckscrew senkt den Greifer ins Wasser, der aus zwei Baggerschaufeln und einem Spannmechanismus besteht. Ein Ruck an der Winde zeigt an, dass die Mechanik entsichert ist und die Schaufeln gegriffen haben. Ist der gefüllte Greifer wieder an Deck, schraubt ihn ein Wissenschaftler von oben auf, um von der obersten Schicht des Meeresbodens zwei Proben zu nehmen.
Videoüberwachung im Trockenlabor: Die Forscher diskutieren über die Bilder, die die verschiedenen Messgeräte der „Heincke“ vom Meeresboden nach oben senden.
Öfter mal klemmt ein Stein zwischen den Greiferschaufeln. Was in der übrigen Nordsee als Ausnahme gilt, ist hier nicht verwunderlich: Als Testgebiet wurde bewusst ein Bereich am nordöstlichen Rand des Elbe-Urstromtals gewählt, in dem besonders viele Steinvorkommen zu erwarten waren. „Das sind vermutlich Endmoränenreste der Saale-Eiszeit“, sagt Papenmeier.
Wenn nun ein Stein zwischen den Greifern sitzt, ist es möglich, dass ursprünglich viel Sand in der Schaufel war, der beim Heben des geöffneten Greifers entwichen ist. Also ordnet Svenja Papenmeier einen zweiten, womöglich einen dritten Versuch an. Doch selbst wenn diese Versuche nur Steine zutage fördern, ist das für die Geologin kein Beweis, dass unter ihr ein ausgeprägtes Steinfeld liegt: „Das kann auch ein Einzelfall sein.“
Seeanemonen, Weichkorallen – mancherorts herrscht reges Leben am Grund
Dafür ist die Videokamera hilfreich, die knapp über dem Meeresboden treibt. Manchmal beobachten die Forscher fasziniert Bilder von bunt bewachsenen Steinen mit Seeanemonen, Weichkorallen oder auch Schollen. Meist aber fährt die Kamera über Sandflächen, auf denen nur die typischen, vom Wattenmeer bekannten Rippeln zu sehen, die auf Strömungen hindeuten.
Offenbar findet da unten ein reger Transport von Sediment statt. Auf einigen Videos ist treibender Sand zu erkennen. „Es ist zu vermuten, dass die Habitate sich im Laufe der Zeit wandeln“, folgert Papenmeier. Deshalb hat Daphnie Galvez, Doktorandin für marine Geologie, unterschiedlich alte Datenreihen der sechs Testgebiete übereinandergelegt. An Bord der „Heincke“ fügt sie die neu gewonnenen Daten dazu. „Meine Frage lautet: Wie lange sind einmal erstellte Sedimentkarten gültig?“
Galvez hofft, Veränderungen erkennen zu können: Woher und wohin ist das Sediment gedriftet? Wie schnell? Und vor allem: Warum? „Liegt es an natürlichen Faktoren wie Stürmen, Strömungen und Tiden? Oder an wirtschaftlichen Aktivitäten wie Schleppnetzfischerei oder Sandabbau?“
Die Forscher gehen auf Nummer sicher: Mit dem Greifer der „Heincke“ holt das Team regelmäßig Bodenproben an Bord, um die Ergebnisse des Seitensichtsonars zu überprüfen.
Noch fehlt ihr etwas für das komplexe Datenpuzzle: exakte Gezeitendaten. „Es ist ein Unterschied, ob die Daten bei Niedrig- oder Hochwasser erhoben werden“, sagt Galvez. Da es auf der offenen Nordsee keine Tidepegel gibt, arbeitet sie mit modellierten Daten. Doch die sind zu ungenau für ihre Doktorarbeit.
Deshalb hofft sie auf eine Zusammenarbeit mit der Offshore-Industrie, die Messbojen einsetzt. Im Gegenzug würden die gemessenen Metadaten den Unternehmen zur Verfügung stehen. „Bei Interesse“, sagt Papenmeier, „kann man mich gern kontaktieren.“
Nach einer Woche geht das Geologenteam von Bord. Jetzt übernehmen Biologen
Erste vorläufige Ergebnisse kann Galvez schon benennen: Es gibt Regionen mit Wandel und andere, die sich kaum oder gar nicht verändern. Für das BSH könnte das bedeuten, dass es seine Karten für manche Gebiete jährlich überarbeiten muss, bei anderen genügen dagegen größere Zeitintervalle.
Genauere Resultate dazu wird Galvez vermutlich noch vor Ende dieses Jahres publizieren. Ebenfalls im laufenden Jahr will Fahrtleiterin Papenmeier ihre Anleitung zur Sedimentkartierung herausgeben, eine deutlich verbesserte Neuauflage der aktuellen Fassung des BSH von 2016.
Nach einer Woche auf See geht die Wissenschaftlerin in Helgoland von Bord. Am Kai begrüßt sie ihre AWI-Kollegin Jennifer Dannheim, die direkt im Anschluss mit ihrem Team die Forschungsarbeit der Geologin ergänzen wird. Dannheim ist Meeresbiologin, sie wird das Leben am Meeresboden untersuchen.
Der Kapitän: Haye Diecks hat das Kommando auf der Brücke der „Heincke“. Wenn die Forscher eine Stelle auf dem Grund genauer untersuchen wollen, stoppt er das Schiff punktgenau darüber.
In enger Absprache mit Papenmeier wird sie anhand der frisch erhobenen hydroakustischen Daten und der Videosequenzen festlegen, an welchen Stellen die Deckscrew Greifer, Videokamera und Fischernetze der „Heincke“ zu Wasser lassen soll, um genauer zu erfahren, welche Organismen auf den unterschiedlichen Substraten leben. Eine Erkenntnis kann Svenja Papenmeier ihrer Kollegin schon mitteilen: „Wir haben substanzielle Unterschiede bei der Besiedlung von Steinen gesehen.“
Das BSH will in den kommenden Jahren anhand der Kartieranleitung eine flächendeckende Sedimentkarte der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone erstellen lassen, die öffentlich zugänglich sein wird. Dann kann jeder genau erfahren, wo Habitate mit Steinen liegen.
Welche Habitate als schützenwert einzustufen sind, etwa weil sie bewachsen sind, entscheidet das Bundesamt für Naturschutz. „Wir vom AWI sind Wissenschaftler. Unsere Aufgabe ist es, dem BSH objektive Daten zu liefern“ sagt Papenmeier. „Die Bewertung ist allein Aufgabe der staatlichen Behörden.“