Schwimmende Windräder mit zwei Rotoren

  • Search05.10.2021

Siegfriedsens Seeungeheuer

Die Rendsburger Firma Aerodyn hat ein ungewöhnliches Offshore-Windrad entwickelt: Nezzy² ist weitgehend aus Beton, schwimmt auf dem Wasser und trägt gleich zwei Turbinen. Jetzt soll ein Prototyp in Südostasien Taifunen trotzen.

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    Zwei Rotoren, die sich aufeinander zudrehen, ähnlich wie bei einem Mixer: Das Konzpet Nezzy2.

    So könnte ein schwimmender Windpark mit Doppelrotoren aussehen: Visualisierung des Nezzy2-Konzepts.

     

    Von Daniel Hautmann

    Nessie ist ein Mythos. Das Seeungeheuer aus Loch Ness fasziniert die Menschen, auch wenn nur ein paar fragwürdige Aufnahmen von ihm existieren. Nun aber hat sich tatsächlich eine geheimnisvolle Kreatur aus den Fluten erhoben. Nicht in den schottischen Highlands, sondern in der norddeutschen Tiefebene. Nezzy2 – ausgesprochen „Nezzy Square“ – ist ein Fundament für schwimmende Windkraftanlagen. Und zwar ein ungeheuerliches. Denn die Erfindung der Rendsburger Firma Aerodyn stellt das Bekannte auf den Kopf. „Die Anlage unterscheidet sich definitiv von allen anderen Konzepten“, sagt Mareike Leimeister, Expertin für schwimmende Windkraftanlagen beim Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES in Bremerhaven.

    Das Auffälligste an dem Entwurf ist, dass es sich um eine Doppelturbine handelt. Wie ein großes V ragen die beiden aerodynamisch geformten Stahltürme in den Himmel. Jeder von ihnen trägt eine Maschinengondel mit Turbinen, die aufeinander zu rotieren, ähnlich wie in einem Küchenmixer. „Würden sie gleich rotieren, wären die Begegnungsgeschwindigkeiten an den Blattspitzen extrem hoch. Das Risiko wollten wir nicht eingehen“, sagt Aerodyn-Chef Sönke Siegfriedsen im Gespräch mit EnergieWinde. „Zudem haben wir so eine ausgeglichene Lastverteilung der Drehmomente.“

    Das Konstrukt ist extrem leicht. Eiserne Anker halten es im Meeresboden fest

    Um das Gewicht so gering wie möglich zu halten, haben sich die Ingenieure etwas Besonderes einfallen lassen: Kunststoffseile stabilisieren die Anlage und leiten die Lasten direkt über den Schwimmkörper an der windzugewandten Seite zu sechs Leinen weiter, die das Konstrukt an eisernen Ankern festhalten. „Die Seile entlasten den Turm. So kann dieser leichter gebaut werden und wir haben weniger Biegemomente“, sagt Siegfriedsen.

    Aerodyn-Chef Sönke Siegfriedsen ist ein bekannter Kopf in der Windkraftszene. Er hat schon am Design der Turbinen von Alpha Ventus mitgearbeitet, dem ersten deutschen Offshore-Windpark.

    Eine weitere Besonderheit des Aerodyn-Entwurfs: Der gesamte Schwimmkörper kann sich frei bewegen und beliebig oft um seine senkrechte Achse drehen. Auch das unterscheidet Nezzy2 von allen anderen schwimmenden Anlagen. Das Konstrukt braucht keine Turmkopflager, im Fachjargon Azimut genannt, muss also nicht maschinell der Windrichtung nachgeführt werden. Da die Maschine als sogenannter Leeläufer ausgelegt ist – die Rotoren drehen sich hinter dem Turm – richtet sie sich selbst aus. Und zwar so, dass beide Turbinen parallel im Wind stehen. Das spart Gewicht und Masse.

    Im Nezzy2-Design steckt viel Pioniertechnik – zum Beispiel in der Kabelanbindung

    Da so viel Bewegung aber das Kabel beschädigen könnte, mit dem der produzierte Strom abtransportiert wird, musste auch hier eine neue Lösung her. Die nennt Siegfriedsen ADEC: Automated Dewinding Electrical Connector. Im Prinzip funktioniert das wie bei einer Schleifringverbindung; auf die genaue Funktion der patentierten Lösung will Siegfriedsen aber nicht eingehen. Klar ist, dass der Connector solide, wasserdicht und störungsfrei arbeiten muss. Und das bei einer Spannung von bis zu 66.000 Volt.

    Ein gigantischer Kran hebt das Modell Nezzy2 vom Hafen auf die Ostsee. Das Floating-Wind-Modell soll die Offshore-Windenergie revolutionieren.

    Test in der Ostsee: Im September 2020 wird ein 18 Meter hohes Modell von Nezzy2 im Greifswalder Bodden zu Wasser gelassen.

    Nezzy² hat aber noch eine weitere Überraschung parat: Die Anlage kann sowohl mit Zweiblatt- als auch mit Dreiblattrotoren bestückt werden. „Ich bin ja ein alter Fan von Zweiblattrotoren. Die sind ideal für Taifungebiete, weil sie am wenigsten Angriffsfläche bieten. Zudem reduzieren sie alle Massen und damit die Investitions- und Energieerzeugungskosten“, sagt Siegfriedsen.

    Kritiker monieren oft, dass Zweiblattrotoren zu laut seien, zu unrund liefen und eine höhere Drehzahl erforderten. Das stimme zwar, sagt Mareike Leimeister, sei aber auf See nicht weiter störend. Auch was die finanzielle Seite ausmache, erwarte sie keine Überraschungen: Wenn man die Materialeinsparung einerseits und die erhöhten Ermüdungslasten andererseits berücksichtige, hielten sich Wirkungsgrad und Kosten die Waage mit anderen Entwicklungen. „Jedoch können Montage und Wartung vor allem bei Offshore-Windenergieanlagensystemen durch Zweiblattrotoren positiv begünstigt werden“, sagt Leimeister.

    Fast alle Windräder haben drei Flügel. Siegfriedsen glaubt dennoch an Zweiflügler

    Ob Drei- oder Zweiblattanlage bleibt den Kunden überlassen. Aerodyn bietet mit den SCD-Turbinen (Super Compact Drive Train) beide Möglichkeiten an. Am Markt hätten sich bislang hauptsächlich Dreiflügler durchgesetzt, weil dafür ein besserer Trackrekord für Betreiber, Banken und Versicherungen vorliege, sagt Siegfriedsen. Er ist aber sicher, dass bei steigendem Kostendruck die Zweiblattrotoren für Offshore-Anwendungen wieder ihre Chance bekommen werden.

    Der eigentliche Schwimmkörper wird aus Beton gefertigt. Der Schwimmer sieht von oben aus wie ein Ypsilon, hat einen Tiefgang von vier Metern und wird mit rund 5000 Tonnen Wasser ballastiert. Das Gesamtgewicht der Anlage beträgt rund 7000 Tonnen. Ähnlich wie bei einem Eisberg verbirgt sich der Großteil der Konstruktion unter der Wasserlinie. Lediglich die drei Auftriebskörper und der Part, der die beiden Türme aufnimmt, ragen heraus.

    Das Floating-Wind-Modell Nezzy2 wird von einem Boot an seinen Bestimmungsort in der Ostsee gezogen. Dort wird die Floating-WInd-Technologie erprobt.

    Gewöhnlich werden Offshore-Windräder auf See zusammengebaut. Bei Floating-Wind-Systemen wie Nezzy2 ist das anders: Sie werden an Land montiert und dann von Schleppern hinaus aufs Meer gezogen.

    Gefertigt wird der Schwimmer aus Betonfertigteilen in Hafennähe. Die Komponenten sind maximal fünf mal fünf mal zehn Meter groß und lassen sich mit gewöhnlichen Hafenkränen bewegen. Die Anlage wird im Hafen aufgebaut, dann von zwei Schleppbooten zum Aufstellungsort gezogen und an die Ankerleinen genommen. Es sind also keine teuren Kranschiffe nötig.

    Nezzy2 eigne sich auch für flache Gewässer. Ein Vorteil, glaubt man bei Aerodyn

    Spannend ist, dass mit dem Schwimmer auch Flachwasserstandorte erschlossen werden sollen. Siegfriedsen spricht von Wassertiefen ab rund 35 Meter. Damit tritt Nezzy² in Konkurrenz mit gewöhnlichen Bottom-Fixed-Fundamenten wie Monopiles. Dabei soll seine Schwimmerkonstruktion sogar günstiger sein. Siegfriedsen kalkuliert für eine zwei mal zehn Megawatt-Anlage mit rund 140 Tonnen Stahl pro Megawatt. Monopiles mit Turm benötigten in dieser Größenordnung 200 Tonnen Stahl pro Megawatt. „Das klingt tatsächlich nach Konkurrenz für den Monopile – sowohl aus ökologischer und ökonomischer Sicht“, sagt Mareike Leimeister.

    Stand-up-Paddlerin im Greifswalder Bodden vor dem Modell Nezzy2: Das Windrad mit seinen zwei Rotoren könnte die schwimmende Windenergie (Floating Wind) revolutionieren.

    Im Test auf der Ostsee hat sich Nezzy2 bewährt. Die Anlage trotzte sogar einer Sturmflut.

    Doch zunächst muss sich Nezzy² weiter beweisen. Im kommenden Sommer soll der Prototyp im Maßstab eins zu eins im südchinesischen Meer installiert und getestet werden. Zum Einsatz kommen hier Turbinen mit je drei Flügeln, einem Rotordurchmesser von 182 Metern und einer Leistung von je 8,3 Megawatt. Die Anlage kommt also auf 16,6 Megawatt – mehr hat bislang kein Unternehmen auf einen Schwimmer gesetzt.

    Im Test haben die Ingenieure viele Daten gesammelt: Nezzy2 ist orkanfest

    Bei Aerodyn sind sie zuversichtlich, dass Nezzy² den Einsatz bestehen wird. Immerhin hat sich ein 18-Meter-Modell der Anlage in Tests auf einem Baggersee bei Bremerhaven und anschließend auf dem Greifswalder Bodden bewährt. Der Prototyp war mit 180 Sensoren bestückt. Bei zahlreichen Messkampagnen wurde untersucht, wie sich Nezzy² bei verschiedenen Windrichtungen und -geschwindigkeiten, Wellenhöhen und -richtungen verhält. Mitte Oktober letzten Jahres trotzte die Anlage sogar einer Sturmflut. Die Wellen- und Windbedingen entsprachen umgerechnet auf die spätere Originalgröße einem Hurrikan der Kategorie vier bis fünf, mit einer Wellenhöhe von bis zu 30 Meter. „Wir konnten eineinhalb Tage beobachten, wie Nezzy² unter extremen Wetterbedingungen stabil im Wasser lag. Unsere Tests haben bewiesen, dass unser Modell jetzt bereit ist in Originalgröße im Meer getestet zu werden“, sagt Siegfriedsen.

    Mit schwimmenden Anlagen kann die Branche neue Gewässer erschließen

    Als Partner hat Aerodyn den Energieversorger EnBW gewonnen. „Das Potenzial ist riesig. Mit der neuen Technologie kommen Länder und Meeresflächen mit großen Wassertiefen in Frage und erweitern so die Möglichkeiten der regenerativen Energiegewinnung“, sagt Hannah König, Leiterin Wind- und Maritime Technik bei der EnBW. Rund fünf Milliarden Euro will das Unternehmen bis 2025 in erneuerbare Energien investieren. Floating-Wind sei die Zukunft der Offshore-Windkraft.

    Floating-Wind: Die Infografik zeigt die Prognose der jährlichen Neuinstallation von schwimmenden Windrädern bis 2030 laut dem GWEC. In Europa und Asien sind die meisten Projekte geplant. Infografik: Benedikt Grotjahn

    Experten bescheinigen schwimmenden Windrädern enormes Potenzial. „Die Lasten müssen nicht mehr alle in den Meeresgrund abgeleitet werden, sondern die Plattformen lassen sich durch Hydrodynamik, Ballast und Vertäuungssysteme stabilisieren“, sagt Po Wen Cheng, Windkraft-Spezialist an der Universität Stuttgart, gegenüber EnergieWinde. „Das macht die schwimmenden Fundamente bei wachsender Anlagengröße und Wassertiefe gegenüber festen Fundamenten immer günstiger.“

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    Indem man in tiefere Gewässer vorstößt und größere Windressourcen erschließt, könnten schwimmende Windräder eine signifikante Expansion der Windkraft erlauben – und das konkurrenzfähig

    Francisco Boshell, Windenergie-Analyst

    Francisco Boshell, Analyst bei der Internationalen Erneuerbare Energien Agentur (IRENA), geht sogar davon aus, dass Floating Wind die konventionelle Offshore-Windkraft ablösen und zum Standard in der Branche werden wird: „Indem man in tiefere Gewässer vorstößt und größere Windressourcen erschließt, könnten schwimmende Windräder eine signifikante Expansion der Windkraft erlauben – und das konkurrenzfähig“, sagt Boshell auf Anfrage.

    Weltweit werden daher schwimmende Windräder getestet. Derzeit gibt es rund 50 Projekte mit insgesamt rund 85 Megawatt. Bis zum Ende des Jahrzehnts könnten es laut dem Global Offshore Wind Report bereits 6,2 Gigawatt sein.

    Windkraftpionier Sönke Siedgriedsen mit dem Modell eines zweiflügligen Windrads auf einem Schwimmkörper (Floating Wind).

    Überzeugungstäter: Sönke Siegfriedsen arbeitet seit Jahren daran, die Floating-Wind-Technologie weiterzuentwickeln. Dieses Bild von 2016 zeigt ihn mit dem Modell eines Zweiflüglers.

    Noch ist die Schwimmwindkraft rund doppelt so teuer wie gewöhnliche Offshore-Windanlagen. Das aber werde sich ändern, prophezeien Experten. Denn während bei den fest installierten Windrädern auf See das Kostensenkungspotenzial nahezu ausgeschöpft sei – aktuell koste die Megawattstunde rund 65 Euro – hätten die Schwimmer die Preiskur erst noch vor sich. Bis 2030 sollen die Kosten auf 40 bis 60 Euro je Megawattstunde sinken, prognostiziert der Branchenverband WindEurope.

    Gut möglich also, dass Sönke Siegfriedsens ungeheuerliche Entwicklung sich künftig häufiger aus den Fluten erhebt.

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