Karlo Hainsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik der TU Berlin. Der 29-Jährige erstellt Szenarien für den Übergang zu einem Energiesystem, das zu 100 Prozent auf Erneuerbaren beruht. 2020 war er unter anderem an einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Bedeutung von Erdgas für die Klimaziele der EU beteiligt. „Anstatt den Ausbau von Erdgaspipelines und Flüssiggasterminals (LNG) zu subventionieren, kann diese fossile Infrastruktur, für die im erneuerbaren System kein Bedarf mehr besteht, schrittweise zurückgebaut werden“, heißt es darin.
Energieforscher Karlo Hainsch
- 07.04.2021
„In fünf Jahren reden wir über den Ölausstieg“
„Jeder Euro, der jetzt investiert wird, um Nord Stream 2 fertigzustellen, macht den Verlust nur noch größer“, sagt Karlo Hainsch.
Herr Hainsch, über Ostern war es ziemlich kalt. Wie haben Sie zu Hause geheizt?
Karlo Hainsch: Mit Erdgas, ich geb’s zu. Ich habe zwar einen Tarif, in dem grünes Biogas beigemischt wird, aber leider sind wir in Deutschland noch nicht so weit, dass wir flächendeckend auf Erdgas verzichten können.
Wie lang wird das noch dauern?
Hainsch: Das kommt darauf an, welches Klimaziel man zugrunde legt. Wenn man vom 1,5- Grad-Ziel ausgeht, ist das CO2-Restbudget deutlich kleiner als bei zwei Grad. Entsprechend müssen wir bei 1,5 Grad früher aussteigen. Bei zwei Grad können wir noch etwas mehr Gas verfeuern. Um im Rahmen des Pariser Klimaabkommens zu bleiben, sollten wir in der Stromerzeugung in den 2030er-Jahren auf Erdgas verzichten – besser am Anfang als am Ende des Jahrzehntes. In den übrigen Sektoren, vor allem in der Industrie und in der Wärmeversorgung, können wir Gas noch bis 2040 oder vielleicht 2045 nutzen.
Europa plant derzeit Pipelines und LNG-Terminals für zweistellige Milliardensummen. Ist das für diesen begrenzten Zeitraum noch nötig?
Hainsch: Nein. Alle Szenarien, die sich mit den Klimazielen beschäftigen, gehen davon aus, dass wir keine zusätzliche Gasinfrastruktur in Europa brauchen. Die Pipelines und Terminals, die wir heute schon haben, reichen bei Weitem aus, um den Energiebedarf so lange sicherzustellen, bis wir ihn mit 100 Prozent Erneuerbaren decken können. Zusätzliche Projekte wie Nord Stream 2 sind überflüssig.
Und all das Geld, das schon in das Projekt geflossen ist?
Hainsch: … müssen wir abschreiben. Stranded Investments nennt man das in der Finanzbranche. Jeder Euro, der jetzt investiert wird, um Nord Stream 2 fertigzustellen, macht den Verlust nur noch größer.
Die Infrastruktur, die wir heute schaffen, muss den Bedarf der Zukunft abbilden. Und dort ist für fossile Rohstoffe nun mal kein Platz
Könnte man die neuen Pipelines nicht auf den Transport von grünem Wasserstoff umrüsten?
Hainsch: So viel Wasserstoff brauchen wir überhaupt nicht. Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass wir den heutigen Erdgasverbrauch eins zu eins durch Wasserstoff ersetzen müssten. Zudem ist es nicht sinnvoll, den Wasserstoff über die großen Distanzen zu transportieren, für die das Erdgasnetz ausgelegt ist. Sinnvoller ist es, ihn dezentral in der Nähe von großen regenerativen Energiequellen und industriellen Verbrauchern zu produzieren. Gegen zusätzliche Erdgasprojekte spricht aber noch etwas anderes: Wenn wir jetzt Milliarden in die Infrastruktur stecken, dann drohen Lock-in-Effekte.
Was meinen Sie damit?
Hainsch: Neue Kraftwerke sind auf 15 oder 20 Jahre ausgelegt, Pipelines sogar auf 40 oder 60 Jahre, schon wegen der langfristigen Verträge mit den künftigen Nutzern. Wenn die Pipelines erst mal da sind, dann werden sie auch genutzt. Das zögert den Gasausstieg unnötig hinaus. Die Infrastruktur, die wir heute schaffen, muss den Bedarf der Zukunft abbilden. Und dort ist für fossile Rohstoffe nun mal kein Platz.
Das sieht die Industrie anders. Sie versucht, Erdgas einen Platz zu sichern, indem sie das schädliche CO2 entsorgt. Norwegen etwa investiert massiv in solche CCS-Projekte.
Hainsch: CCS ergibt allenfalls in kleinen Nischen einen Sinn. Im Großmaßstab schadet es dem Klima eher. Zum einen ist die Technologie sehr ineffizient: Sie müssen viel Energie aufwenden, um das CO2 aus dem Erdgas abzuscheiden und sicher zu speichern. Zum anderen könnte es die Abhängigkeit von einem fossilen Energieträger weiter verlängern. Statt in CCS sollte man besser in die Technologien investieren, die wir bereits haben, also in die Erneuerbaren.
CCS kann dazu führen, die nötige Verringerung des Ausstoßes aufzuschieben. Nach dem Motto: Wir können das CO2 ja später immer noch auffangen
Laut dem Weltklimarat IPCC brauchen wir CCS in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, um die Klimaziele zu erreichen.
Hainsch: Es gibt in der Tat solche Szenarien. Wenn CO2 bei der Verbrennung von Biomasse aufgefangen und gespeichert wird, spricht man sogar davon, „CO2-negativ“ zu werden. Schließlich hat die Biomasse das CO2 zuvor während des Wachstumsprozesses der Atmosphäre entzogen. Ich halte CCS dennoch für heikel. Es kann leicht für Tricksereien in der Klimabilanz genutzt werden und dazu führen, die nötige Verringerung des Ausstoßes aufzuschieben. Nach dem Motto: Wir können das CO2 ja später immer noch auffangen.
Hamburg denkt gerade darüber nach, Biomasse im Großmaßstab in einem Kohlekraftwerk zu verfeuern. Konkret geht es um den Import von Holz aus Namibia. Was halten Sie davon?
Hainsch: Ich kenne die Details des Projekts nicht. Grundsätzlich sollte man aber eher die Potenziale nutzen, die man vor Ort hat, statt Energieträger um die halbe Welt zu transportieren. Deutschland braucht sicher keine Biomasse aus Afrika, um sich mit Energie zu versorgen. Unabhängig von dem Hamburger Projekt gibt es bei der Nutzung von Biomasse zudem das Teller-Tank-Problem: Sollte man auf begrenzten Flächen wirklich Pflanzen anbauen, die dann zu Treibstoff oder Energie verarbeitet werden, oder nicht lieber Lebensmittel? Der Ausbau anderer Formen der Erneuerbaren scheint mir der bessere Weg zu sein.
Weil bei der Förderung Methan austritt, ist die Klimabilanz von Erdgas nach Untersuchungen von Robert Howarth von der Cornell University besonders schlecht.
Der Ausbau stockt in Deutschland allerdings und gleichzeitig steigen wir aus der Kohle und der Atomkraft aus. Brauchen wir deshalb nicht mehr Erdgas? Zumal es im Vergleich zur Kohle als sauberer gilt.
Hainsch: Kurzfristig könnte der Anteil von Gas im Energiemix tatsächlich steigen. Sein vermeintlicher Klimavorteil ist allerdings umstritten. Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass Erdgas sogar mehr Treibhausgase verursachen kann als Kohle. Unmittelbar bei der Verbrennung ist es zwar sauberer, aber wenn man die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet, fällt die Bilanz anders aus. Das liegt vor allen an den Methanlecks, die bei der Förderung und beim Transport von Erdgas auftreten. Methan ist um ein Vielfaches klimaschädlicher als CO2. Es spricht einiges dafür, dass die Gefahr, die von Methan ausgeht, in der Vergangenheit massiv unterschätzt wurde.
Sie beschäftigen sich seit gut sechs Jahren wissenschaftlich mit den Themen Energie und Klimaschutz. Wie haben Sie die Debatte in dieser Zeit erlebt?
Hainsch: Die Themen haben global eine unglaubliche Dynamik entwickelt. Als ich mich erstmals mit Szenarien zur Dekarbonisierung und einem auf 100 Prozent Erneuerbaren beruhendem Energiesystem beschäftigt habe, wurde ich noch belächelt. Inzwischen ist es allgemeiner Konsens, dass wir dorthin kommen müssen. Es ist keine zwei Jahre her, dass wir in Deutschland über den Kohleausstieg gesprochen haben – jetzt geht es schon um den Gasausstieg. Und ich bin mir sicher, in fünf Jahren reden wir über den Ölausstieg.
Die Fragen stellte Volker Kühn.