Auf dem Höhepunkt der Coronakrise spendet eine Lichtinstallation am Schweizer Matterhorn Trost und Hoffnung.
Die Welt nach Corona
- 25.05.2020
Chancen und Nebenwirkungen
Von Gregor Kessler
Deutschland fremdelt noch mit der neuen Welt. Als Angela Merkel Ende April beim erstmals als Videoschalte stattfindenden Petersberger Klimadialog zu ihrer Rede vor Ministern aus 30 Ländern anhebt, ist der Ton weg. Stille verschluckt die Sätze der Kanzlerin. Hilflos huscht ein Mauszeiger über den Bildschirm, erst nach Minuten steht der Ton. Die übrige Welt ist da schon einen Schritt weiter, zumindest die Börse. Dort ist Zoom, ein Anbieter von Videokonferenzsoftware, inzwischen mehr wert als die sieben weltgrößten Fluglinien zusammen.
Der Vergleich bringt die katalytische Wirkung der Pandemie auf den Punkt: Das Virus hat mitnichten alles zum Erliegen gebracht, im Gegenteil: Es beschleunigt Entwicklungen. Der Boom von Videokonferenzen und der Kollaps von Airlines sind dabei nur Beispiele. Allerorten wird heute gerätselt, prophezeit, spekuliert, wann unser Leben wieder „normal“ sein wird. Dabei ist schon die Frage falsch. Es gibt kein Zurück in die Welt vor Corona, in der alles so ist, wie wir es kannten, wenn auch vielleicht eine Nummer kleiner. Es gibt nur ein Leben, das die nächste Krise weniger wahrscheinlich, weniger dramatisch macht. Und das wird ein anderes Leben sein.
Fünf Wochen lang sind die Lichtinstallationen des Künstlers Gerry Hofstetter im März und April 2020 auf dem Matterhorn zu sehen.
Hinter der Pandemie und ihren einschneidenden Folgen verblasst, dass schon vor Corona vieles nicht in Ordnung war. Schon bevor das Virus unser Leben aus den Angeln hob, war die Welt aus den Fugen. Der Mensch hat das Artensterben dramatisch beschleunigt. Eine Million der gut acht Millionen Spezies auf der Erde ist vom Aussterben bedroht. Seit Jahrzehnten wirtschaften wir ökologisch auf Pump. Und die Kreditaufnahme beschleunigt sich. Lag der Tag, an dem wir alle natürlichen Ressourcen verbraucht haben, die innerhalb eines Jahres nachwachsen, 1990 noch am 11. Oktober, so fiel dieser Earth Overshoot Day im vergangenen Jahr bereits auf den 29. Juni. Der Raubbau, etwa durch das Verbrennen von Kohle und Öl, hat fatale Folgen: Das viele CO2 in der Atmosphäre lässt Felder verdorren und Korallen sterben, Pole schmelzen und Küsten bröckeln.
Seit die Jugendlichen von „Fridays for Future“ nur noch in Kleingruppen und mit Abstand vor den Rathäusern stehen, bekommt ihr Protest weniger Platz in der „Tagesschau“, doch der Klimawandel verschwindet deshalb nicht. Die Gleichzeitigkeit zweier globaler Krisen – Corona und Klima – macht auch eine gemeinsame Antwort nötig. Geld allein wird dabei nicht reichen. Ein neuer politischer Rahmen muss her.
Ursula von der Leyen schreibt die wirtschaftlichen Chancen eines grünen Umbaus schon in den Untertitel ihres Kernprojekts als Präsidentin der EU-Kommission: „Neue Wachstumsstrategie“ nennt sie ihren „Green Deal“, der Europa zur Klimaneutralität führen soll. Jetzt, da einzelne Akteure in der Coronapandemie Umwelt- und Klimaschutz schleifen wollen, verteidigt sie das Projekt. Der Kurs bleibe, bekräftigt sie in der „Zeit“ und kritisiert das bisherige Wachstumsmodell als „Raubbau an der Natur“, bei dem Kosten auf Dritte abgewälzt würden.
Die Flaggen vieler von der Coronakrise betroffener Länder erstrahlen auf dem Matterhorn – hier etwa die von Südafrika.
Seit mehr als zehn Jahren beteuert die EU im Einklang mit den G7-Staaten, man wolle Subventionen für fossile Energien streichen. Allein dieser Schritt hin zu ehrlicheren Preisen würde klimaschädliche Produkte und Dienstleistungen pro Jahr um 100 Milliarden Euro verteuern. Der Coronaschock dürfte den Schritt wahrscheinlicher machen, schon weil sich alle Staaten mit Hilfsprogrammen massiv verschulden. Im Fall der am Boden liegenden Airlines etwa kann kein Staat seinen Steuerzahlern erklären, warum sie gleich dreifach zahlen sollen: für direkte Wirtschaftshilfen, für sozialisierte Klimaschäden und schließlich für allein in Europa 27 Milliarden Euro an nicht gezahlter Kerosinsteuer. Schon jetzt knüpft Frankreichs Regierung deshalb Hilfen für Air France an strikte Klimaauflagen.
Der fortschrittliche Teil der Wirtschaft steht voll dahinter. Gut 150 Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von 2,4 Billionen Dollar, darunter Carlsberg, H&M und Pernod Ricard, forderten in einem gemeinsamen Statement Mitte Mai, Wirtschaftshilfen an Erkenntnisse der Klimawissenschaft zu koppeln. Bereits Ende April richteten knapp 70 deutsche Unternehmen von der Allianz über den Versandriesen Otto bis zu Thyssenkrupp einen ähnlichen Appell an die Bundesregierung: Konjunkturprogramme und Klimaschutz gehören zusammen.
Bislang ausgelagerte Umweltschäden sind nicht der einzige neue Posten, auf den sich Konzerne vorbereiten müssen. Gesundheitskosten sind ein zweiter.
Als Angela Merkel beim Petersberger Klimadialog endlich zu hören war, kam sie auch auf Corona zu sprechen, zumindest indirekt: 60 Prozent aller Infektionskrankheiten seien in den vergangenen Jahrzehnten von Tieren auf den Menschen übertragen worden. Die derzeit bekannteste solcher Zoonosen genannten Krankheiten ist Covid-19. Ihre Ursachen hat der Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens im Interview mit EnergieWinde beschrieben. Sie liegen insbesondere im Schrumpfen von Naturräumen: Je tiefer der Mensch in den Lebensraum wilder Tiere eindringt, umso wahrscheinlicher ist die Übertragung bislang unbekannter Infektionen. Anders ausgedrückt: Wer Krankheiten wie Corona künftig verhindern will, muss auch dafür sorgen dass sich Landwirtschaft, Futtermittelindustrie und Holzwirtschaft zügeln.
Am 15. April ist die japanische Flagge auf dem Matterhorn zu sehen.
Werden Umwelt- und Gesundheitskosten ehrlicher eingepreist, verschieben sich die Kalkulationen in etlichen Branchen massiv. Bei Ursula von der Leyen klingt das so: „Wir werden fragen: Was sind die grünen Kosten, was sind die weißen Kosten, die mitgerechnet werden müssen? Und wenn das beides einbezogen wird, welche realen Gewinnmargen bleiben dann noch bei der Globalisierung?“
In Teilen der globalisierten Lebensmittelindustrie nicht mehr viel. Ökologisch ist es irrsinnig, Hunderttausende Tonnen Schweinefleisch aus Deutschland nach China zu schaffen, während Gülle die Nitratwerte in NRWs Grundwasser steigen lässt und in Südamerika hektarweise Urwald gerodet wird für deutsches Tierfutter. Sozial ist es unhaltbar, Arbeiter in Schlachthöfen über findige Konstrukte zu Hungerlöhnen im Akkord schuften und auf engstem Raum hausen zu lassen. Erst die massiven Coronafälle haben diese lange bekannten Probleme in den politischen Fokus gerückt.
Man kann von der Leyens Satz auch weiterdenken, vielleicht muss man das nach Corona sogar: Welche Margen bleiben dann noch bei bestimmten Geschäftsmodellen? Warum neue Diesel und Benziner fördern, die ohnehin nur für den besserverdienenden Teil der Bevölkerung erschwinglich sind, deren Kauf durch eine Prämie lediglich vorgezogen wird und die zudem noch wertvollen öffentlichen Platz verschwenden, die Luft verschlechtern und dem Klima schaden? Warum statt Autos nicht Mobilität fördern? Eine, die in der grün-weißen Gesamtkalkulation besser abschneidet als SUVs?
Mut machen, Hoffnung schenken, Solidarität zeigen: Darum geht es der Gemeinde Zermatt bei der Lichtinstallation am Matterhorn.
Solche Fragen verbreiten sich in der Pandemie ähnlich schnell wie das Virus selbst. Auch weil die Hoffnung auf einen glimpflichen Verlauf der Krise schwindet. Kaum jemand glaubt mehr, dass der drastische Wirtschaftseinbruch durch ein schnelles Wiederanziehen der Konjunktur ausgeglichen wird. Selbst in Regionen ohne neue Coronafälle und Beschränkungen halten sich Menschen beim Konsum zurück. Gesichtsmasken in Fußgängerzonen sind eine zu deutliche Erinnerung, dass volle Einkaufstüten ein schlechter Gradmesser für Glück und Zufriedenheit sind. Solche Reminder werden uns bis weit über den Sommer begleiten. Ihre Folgen werden nicht allein das Geschäft von Hoteliers, Gastronomen und Veranstaltern verändern.
Wirtschaftswissenschaftler haben den einseitigen Wachstumsfokus von Unternehmen und Staaten schon früh als ein Übergangsstadium erkannt. Lange bevor der Club of Rome in den Siebzigern die ökologischen Grenzen des Wachstums aufwies, entwarf John Maynard Keynes bereits eine Vision für kapitalistische Gesellschaften. Hätten Produktivität und Wohlstand erst einmal die materielle Bedürfnisse gedeckt, so der britische Ökonom, würde anderes in den Mittelpunkt rücken: Bildung, Kultur, soziales Leben und Gesundheit. Die Pandemie mit ihren Folgen macht die Bedeutung all dieser Aspekte für ein gutes Leben überdeutlich.
Als Keynes seine Worte 1930 aufschrieb, prognostizierte er den Übergang in eine Gesellschaft mit einem deutlich abgeflachten Wachstum für das Jahr 2030. Vielleicht sind wir zehn Jahre früher dran.