Seekrankheit in der Offshore-Windkraft

  • Search30.08.2016

„Selbst Fische können seekrank werden“

Übelkeit, Erbrechen, Apathie, Totalausfall: Seekrankheit ist ein ernstes Problem, gerade in der Offshore-Windkraft. Der Schiffsarzt Christian Ottomann erklärt die Symptome – und verrät, wie man vorbeugen kann.

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    Seekrankheit in der Offshore-Windenergie: Ein Interview mit Schiffsarzt Dr. Christian Ottomann

    Kennt die Seekrankheit aus eigener Erfahrung. Christian Ottomann erwischte es auf dem Expeditionsschiff „Professor Molchanow” in der Antarktis.

    Dr. Christian Ottomann ist Gründer der Schiffarztbörse, die medizinisches Personal zum Einsatz auf See vermittelt, sei es auf Schiffen oder auf Plattformen in der Windkraft und der Öl- und Gasindustrie. Seine Erfahrungen hat der 44-Jährige als Mitherausgeber des Nachschlagewerks „Maritime Medizin – Praxiswissen für Schiffsärzte und Ärzte im Offshore-Bereich“ zusammengefasst. Ottomann ist Dozent am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck und arbeitet gerade an seinem zweiten Buch mit dem Titel „Offshoremedizin“.

    Herr Dr. Ottomann, waren Sie schon einmal seekrank?
    Christian Ottomann: Selbstverständlich, aber zum Glück nicht sehr stark. Mich traf es unerwartet auf dem Expeditionsschiff „Professor Molchanow“ in der Antarktis. Das Interessante an der Seekrankheit ist, dass sie jeden zu jeder Zeit treffen kann.

    Selbst erfahrene Seebären?
    Ottomann: Ob Seebären, Blauwassersegler oder langgediente Kapitäne – es kann alle erwischen. Wir mussten schon mal einen erfahrenen Schiffsarzt kurzfristig ersetzen, der auf dem Fischereiforschungsschiff „Walter Herwig“ so seekrank war, dass er der Mannschaft im medizinischem Notfall nicht mehr zur Verfügung gestanden hätte.

    Wie fühlt sich Seekrankheit an?
    Ottomann: Die Symptome sind sehr unterschiedlich ausgeprägt, zudem hängt das individuelle Gefühl auch von externen Faktoren ab. Wenn es zum Beispiel einen Segler bei Sturm trifft, kommt erschwerend die Ungewissheit hinzu, wann der Sturm zu Ende ist. Wer dagegen bei Landsicht mit Sonnenschein in der Karibik unterwegs ist und die Aussicht hat, jederzeit von Bord gehen zu können, fühlt sich weniger elend. Die Kardinalsymptome sind Unwohlsein, Schwächegefühl, Übelkeit und Erbrechen.

    Typische Symptome der Seekrankheit sind Übelkeit, Erbrechen und Apathie. Zahlen darüber, wie viele Menschen in der Offshore-Windkraft davon betroffen sind, gibt es bisher nicht.

    Kann die Seekrankheit lebensbedrohlich sein?
    Ottomann: In extremen Situationen schon. Es gab den interessanten, zum Glück seltenen Fall eines seekranken Passagiers, der auf einer Fähre so stark erbrechen musste, dass es durch die damit verbundene Druckerhöhung im Gehirn zu einem Schlaganfall kam. Auch ein schwer seekranker Alleinsegler in einem Sturm befindet sich in Lebensgefahr.

    Warum werden Menschen überhaupt seekrank?
    Ottomann: Vereinfacht gesagt: Weil das Gehirn scheinbar widersprüchliche Daten empfängt – seekranke Menschen können die visuellen und die motorischen Eindrücke auf einem schwankenden Schiff nicht wie an Land in Einklang bringen. Deswegen hilft ihnen auch die Sicht auf den Horizont, damit sich das Gehirn ein wenig orientieren kann.

    Und Besserung tritt erst ein, wenn die Patienten wieder an Land sind?
    Ottomann: Nein, das Faszinierende ist, dass sich das Gehirn an den Zustand gewöhnt und die Seekrankheit meist nach zwei, drei Tagen vorüber ist. Wobei sich die drei Tage je nach Zustand sehr lang anfühlen können.

    Sind manche Personengruppen besonders gefährdet?
    Ottomann: Ja, besonders häufig tritt Seekrankheit bei Schlafmangel, Angst, Stress und bei Nikotinkonsum auf. Frauen sind zudem in der Gesamtverteilung häufiger betroffen als Männer. Im wachen Zustand und bei Stress erhöht sich die Neigung zur Seekrankheit. Zehn Prozent der Menschheit sind kaum oder extrem von der Seekrankheit betroffen, was durch eine interindividuelle Histaminausschüttung erklärt wird.

    Interessanterweise werden Schweine nicht seekrank, da es bei ihnen keine Histaminausschüttung gibt. Deshalb wurden sie früher auch so gern auf Schiffen als Lebendnahrung mitgenommen. Fische dagegen verfügen über eine Histaminausschüttung und wurden seekrank, als sie der Schwerelosigkeit ausgesetzt wurden.

    Seekrankheit in der Offshore-Windenergie: Ein Interview mit Schiffsarzt Dr. Christian Ottomann

    Ablenkung helfe bei Seekrankheit überhaupt nicht, sagt Ottomann. „Am besten sucht man den Bereich des Schiffes auf, an dem es am wenigsten schaukelt.”

    Wie häufig kommt es vor, dass jemand in der Offshore-Windkraft seekrank wird? Gibt es darüber Statistiken?
    Ottomann: Leider nein. Die Offshore-Windkraft ist noch jung, Daten liegen noch nicht vor. Die Kreuzfahrtindustrie verfügt dagegen über riesige Datenmengen, rückt sie aber selbst für die wissenschaftliche Forschung nicht heraus. Es ist eben eine „Sunshine-Industry“ die auf keinen Fall mit unangenehmen Themen in Berührung kommen will. Allerdings haben die Reeder das Problem weitgehend gelöst: Kreuzfahrtschiffe haben inzwischen ausfahrbare Stabilisatoren, sodass man die Schiffsbewegungen kaum noch bemerkt und die Seekrankheit entsprechend selten auftritt.

    Wenn ich fürchte, seekrank zu werden – wie kann ich vorbeugen? Hilft zum Beispiel ein nüchterner Magen?
    Ottomann: Im Gegenteil, ein leerer Magen ist eher kontraproduktiv – eine Magenfüllung dagegen senkt den Histaminspiegel. Grundsätzlich gibt es mehrere Strategien. Laut Literatur helfen zum Beispiel Biofeedback und Entspannungstechniken. Aber das ist natürlich problematisch, wenn ich an Bord aktiv Aufgaben zu erfüllen habe. Als pflanzliches Mittel steht Ingwer zur Verfügung, dem eine eindeutige Wirksamkeit gegen Symptome der Seekrankheit zugeschrieben wird. Am wirkungsvollsten ist natürlich die medikamentöse Therapie.

    Heißt das, ich kann prophylaktisch Tabletten einnehmen?
    Ottomann: Natürlich, das mache ich selbst auch. Besser ist es, die Tabletten vor dem Auftreten von Symptomen zu nehmen, wobei sicher auch eine Placebo-Wirkung eine Rolle spielt: Man ist überzeugt durch die Tablette nicht seekrank werden zu können.

    Und wo bekomme ich die Mittel?
    Ottomann: Die sogenannten Reisetabletten gibt es rezeptfrei in jeder Apotheke.

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    Wenn der Arzt über eine richtige Schiffsarztausbildung verfügt, können auch schwere Verläufe innerhalb einer halben Stunde medikamentös beherrscht werden

    Dr. Christian Ottomann

    Falls ich trotzdem seekrank werde – was kann ich tun, damit die Symptome schnell verschwinden?
    Ottomann: Am besten den Bereich des Schiffes aufsuchen, an dem es am wenigsten schaukelt. Das ist meist Mittschiffs auf Höhe der Wasserlinie der Fall. Geübte Segler, die zur Seekrankheit neigen, wählen dort ihre Kammer aus. Leider verstärken Ablenkungen wie Lesen oder Fernsehen die Seekrankheit eher, da das Gehirn weitere Informationen verarbeiten muss.

    Versuchen Sie besser, entspannt abzuwarten – was natürlich leichter gesagt als getan ist. Bei schweren Verläufen stehen dem Schiffsarzt noch potentere Medikamente bis zur Infusionstherapie zur Verfügung.

    Wie schnell wirken solche Medikamente das in der Regel?
    Ottomann: Wenn der Arzt über eine richtige Schiffsarztausbildung verfügt, können auch schwere Verläufe in der Regel innerhalb einer halben Stunde medikamentös beherrscht werden.

    Ist Seekrankheit eigentlich vergleichbar mit der Übelkeit, die manche Menschen bei Autofahrten über kurvenreiche Gebirgsstraßen spüren?
    Ottomann: Beide Symptomenkomplexe werden unter dem Formenkreis der Kinetosen, also Bewegungskrankheiten zusammengefasst. Dasselbe gilt für Übelkeit bei der Verwendung von 3-D-Brillen. Übrigens, als 1835 die erste deutsche Lokomotive mit gerade mal 40 PS von Nürnberg nach Führt gefahren ist, haben die meisten Passagiere Symptome einer Kinetose entwickelt. Man kann daraus schließen, dass eine Gewöhnung des Gehirns an Bewegungen bereits im Kindesalter erfolgt. Auch die Beobachtung, dass Welpen bei der ersten Autofahrt erbrechen unterstützt diese Hypothese.

    Seekrankheit in der Offshore-Windenergie: Ein Interview mit Schiffsarzt Dr. Christian Ottomann

    Erfahrener Schiffsarzt: Die Aufnahme zeigt Ottomann vor einem Eisberg im hohen Norden.

    Wie schätzen Sie die Seekrankheit in der Offshore-Windkraft verglichen mit anderen Gefahren ein?
    Ottomann: Die Seekrankheit ist ein erstzunehmendes Problem an Bord. Der Symptomenkomplex beeinträchtigt die Einsatzfähigkeit und erhöht das Sicherheitsrisiko für Mannschaft und Schiff. Ich kann daher nur empfehlen einen Arzt mit an Bord zu haben.

    Die größten medizinischen Risiken sind aus der bisherigen Erfahrung allerdings Stürze aus großen Höhen, Ertrinkungs- und Unterkühlungsnotfälle bei Sturz vom Schiff oder der Plattform ins Meer und schwere Polytraumata bei der Bedienung von Maschinen.

    Die Industrie und ihre Sicherheitsstandards sind ja noch jung. Reichen die Vorkehrungen aus Ihrer Sicht aus – oder sind Sie vielleicht sogar manchmal übertreiben?
    Ottomann: Sicherheit geht immer vor, sodass meines Erachtens kein Sicherheitsstandard übertrieben sein kann. Schiffe mit einer Besatzungsstärke unter 100 dürfen bislang ohne Schiffsarzt fahren. Ich finde, hier sollte der Gesetzgeber nachbessern. Ich kenne den Fall, dass ein großer Strukturversorger mit 99 Mann Besatzung fährt, um am Schiffsarzt sparen zu können.

    Die Fragen stellte Volker Kühn.

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