Menschen, die eine Nahtoderfahrung hinter sich haben, berichten häufig von rätselhaften Lichterscheinungen. Mitarbeitern in der Windindustrie dürfte das bekannt vorkommen.
Krise der Windenergie
- 15.11.2019
Aktive Sterbehilfe
Von Daniel Hautmann und Volker Kühn
Die angekündigten Massenentlassungen beim Windradhersteller Enercon haben zwar einen Aufschrei in der Öffentlichkeit ausgelöst, doch für Branchenkenner kam höchstens die Zahl der betroffenen Mitarbeiter überraschend: Gleich 3000 Stellen sollen abgebaut werden.
Denn dass die Windindustrie in Deutschland auf eine massive Krise zusteuert, war bekannt. Seit Jahren haben Wissenschaftler, Energiepolitiker und die Industrie davor gewarnt. Allein in den letzten vier Jahren gingen in der Branche mehr Arbeitsplätze verloren, als die Braunkohle überhaupt noch hat. EnergieWinde protokolliert die Krise der deutschen Onshore-Windkraft.
2013: Altmaier und Rösler präsentieren die „Strompreisbremse“
Wenige Industrien sind so stark von politischen Weichenstellungen abhängig wie die Windenergie. Nachdem das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) nach der Jahrtausendwende mit üppigen Vergütungssätzen für Ökostrom einen Boom entfacht und Tausende Arbeitsplätze in der Branche schafft, muss sie 2013 einen schweren Dämpfer hinnehmen: Die damaligen Minister Peter Altmaier (Umwelt) und Philipp Rösler (Wirtschaft) bringen eine sogenannte Strompreisbremse ins Gespräch: Die EEG-Vergütung für den Strom neu gebauter Windräder soll pauschal auf acht Cent je Kilowattstunde gesenkt werden.
„Es ist de facto eine Deckelung", kommentiert Harald Uphoff, stellvertretender Geschäftsführer des Bundesverbands Erneuerbare Energien, damals. „Wenn das so umgesetzt wird, dann ist die Lage für Investoren so unsicher, dass nicht klar ist, wie viel künftig an Anlagen zugebaut werden kann. Darauf kann kein Investor bauen.“
Zwar verschwindet das Altmaier-Rösler-Papier wieder in der Schublade. Wie berechtigt Uphoffs Warnung ist, zeigt sich dennoch bald: Viele Investoren legen geplante Projekte auf Eis, weil sie mit einer Beschränkung des Windmarkts rechnen. Das trifft vor allem die Zulieferindustrie, der die Aufträge wegbrechen.
2014: Der „atmende Deckel“ schränkt den Windkraftausbau ein
Die inzwischen sechste Novelle des EEG von 2000 führt den sogenannten „atmenden Deckel“ in der Onshore-Windenergie ein: Pro Jahr dürfen Anlagen mit einer Gesamtleistung von 2400 bis 2600 Megawatt neu gebaut werden. Je nachdem, ob dieser Ausbaukorridor innerhalb eines bestimmten zwölfmonatigen Betrachtungszeitraums über- oder unterschritten wird, steigt oder sinkt die Vergütung in festgelegten Stufen. Auch die Offshore-Windkraft ist betroffen: Die Bundesregierung senkt das Ziel für den Ausbau bis 2020 von 10.000 auf 6500 Megawatt.
Die ohnehin schon verunsicherte Branche reagiert irritiert. Sie wünscht sich vor allem einen sicheren Planungsrahmen für ihre Projekte. Doch der sei durch die flexible Regelung nicht gegeben. „Generell ist ein atmender Deckel für die Steuerung des Ausbaus der Windenergie kein geeignetes Instrument, weil die Planungszeiträume mehrere Jahre dauern und daher keine wirkliche Reaktion auf die höhere oder niedrigere Degression erfolgen kann“, erklärt der Wirtschaftsverband Windkraftwerke.
Der Deckel sei so niedrig, „dass die zusätzliche Stromerzeugung nicht einmal den bis Ende 2022 zu ersetzenden Atomstrom ausgleichen kann. Die Folge wird eine Ausweitung der klimaschädlichen Kohleverstromung sein“, kommentiert der BEE.
Allein in den vergangenen vier Jahren sind in der deutschen Windenergie fast dreimal so viele Stellen abgebaut worden, wie in der deutschen Kohleindustrie überhaupt noch existieren.
2016: Das verkorkste Auktionsverfahren und der „Wismarer Appell“
Das EEG wird 2016 mit der Einführung eines Ausschreibungsverfahrens grundlegend reformiert. Wer einen Windpark bauen will, muss sich fortan in einer Auktion durchsetzen. Den Zuschlag erhält derjenige, der die geringste staatliche Fördersumme für seinen Ökostrom verlangt. Zudem wird die Ausbaumenge gedeckelt. Um die Akzeptanz von Windparks zu fördern, werden sogenannte Bürgerwindparks von Kleinanlegern bevorzugt: Sie dürfen anfangs ohne gültige Baugenehmigung an den Auktionen teilnehmen und erhalten eine längere Frist, um ihre Projekte umzusetzen.
Warnungen vor diesem Modell kommen von diversen Seiten. Sowohl die Branche als auch Umweltverbände und Bundesländer mit starker Windindustrie erklären, dass die Maßnahmen den Ökostromausbau stark behinderten und Zehntausende Arbeitsplätze gefährdeten. Die Klimaschutzziele seien auf diesem Weg nicht zu erreichen.
Im „Wismarer Appell“ melden sich die Regierungschefs der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein sowie die Windindustrie, Nordmetall und die IG Metall Küste zu Wort. „Die Energiewende braucht die volle Windenergie, an Land wie auf See. Daher ist es so wichtig, durch verlässliche Rahmenbedingungen einen Fadenriss der weiteren Entwicklung zu verhindern", erklärt Bremens Bürgermeister Carsten Sieling.
2018: Der Bau neuer Windräder in Deutschland halbiert sich
Der prophezeite Fadenriss ist 2018 bereits eingetreten. Viele Bürgerwindparks finden keine finanzierende Bank, sodass sich ihre Projekte in Luft auflösen. Aus Sicht von Branchenkennern kein Wunder: Manche Betreiber hatten mit Einspeisevergütungen knapp über zwei Cent je Kilowattstunde kalkuliert, sodass die Projekte praktisch keine Chance gehabt hätten, sich zu refinanzieren. Erfahrene Windparkbetreiber mit solider Finanzierung dagegen kommen in den Ausschreibungen nur sehr eingeschränkt zum Zuge.
Nach den von der Deutschen WindGuard ermittelten Zahlen bricht der Bruttozubau von Onshore-Windrädern 2018 regelrecht ein. Mit 2402 Megawatt, beziehungsweise 743 Anlagen, fällt der Neubau noch hinter das Niveau von 2013 zurück. Und dass, obwohl die Nachfrage nach erneuerbarem Strom perspektivisch deutlich zunimmt, wie die Deutsche WindGuard kommentiert.
2019: Massenentlassungen und Werksschließungen: Tiefpunkt der Windindustrie
Wer nach dem Horrorjahr 2018 denkt, dass es nicht mehr Schlimmer kommen könne, sieht sich 2019 eines Besseren belehrt. Nach einer Analyse der Fachagentur WindEnergie an Land gehen von Januar bis Ende September 2019 nur 148 Windenergieanlagen mit einer Gesamtleistung von 507 Megawatt ans Netz.
Der Windradhersteller Senvion mit weltweit 4000 Mitarbeitern, 2000 davon in Deutschland, meldet im April Insolvenz an. Auch Branchenriesen wie Nordex oder Siemens-Gamesa streichen Stellen. Im November kündigt Enercon an, 3000 Arbeitsplätze abbauen und Standorte ins Ausland verlagern zu wollen.
Und eine Besserung ist nicht in Sicht. Zwar lädt Altmaier bereits im September zu einem „Windgipfel“, der Wege finden soll, um die Akzeptanz der Windkraft in der Bevölkerung zu erhöhen, den Ausbau zu beschleunigen und der Branche aus der Krise zu helfen. Doch passiert ist bislang nichts.
Mehr noch: Im aktuellen Entwurf zum Kohleausstiegsgesetz sieht das Bundeswirtschaftsministerium einen Mindestabstand von Windrädern zu Siedlungen von einem Kilometer vor – selbst dann, wenn es sich um Kleinstsiedlungen handelt. Das würde die zur Verfügung stehenden Flächen für Windparks dramatisch eingrenzen.
Die Reaktionen von Branche, Industrie, Opposition und Umweltverbänden sind entsetzt. Altmaier hole zum „Todesstoß“ gegen die Windkraft aus, schreibt WWF-Klimaexperte Michael Schäfer. Einen wahren Brandbrief erhält Altmaier kurz darauf von BDI, DGB, BWE und VDMA: „Die geplanten Einschränkungen der Windenergie an Land stellen die Realisierbarkeit sämtlicher energie- und klimapolitischen Ziele der Bundesregierung in Frage.“ Der Ausbau werde durch das Gesetz „massiv erschwert, unter Umständen sogar zum Erliegen kommen“.
Es kommt ausgesprochen selten vor, dass die Stellungnahmen von Umwelt- und Industrieverbände zu einem Gesetzesvorhaben des Bundeswirtschaftsministeriums einander so sehr ähneln. Auch das zeigt, wie dramatisch die Lage in der deutschen Onshore-Windenergie inzwischen ist.