Die überwältigende Mehrheit der Deutschen befürwortet die Energiewende. Von 2013 bis 2020 ist der Anteil derjenigen, die sich einen verstärkten Ökostromausbau wünschen, allerdings leicht zurückgegangen, von 93 auf 86 Prozent. Das dürfte der Lobbytätigkeit von Windkraftgegnern geschuldet sein: 2013 wurde der Verein „Vernunftkraft“ gegründet, ein Netzwerk mit Verbindungen bis ins Bundeswirtschaftsministerium, das den Protest gegen geplante Windparks vor Ort orchestriert.
Die Gegner der Anlagen berufen sich dabei unter anderem auf eine fehlerhafte Infraschall-Studie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), die sich mit der Gefahr durch Infraschall befasst. Die BGR ist dem Wirtschaftsministerium untergeordnet. Erst vor wenigen Monaten hat Minister Peter Altmaier eingeräumt, dass die Infraschallgefahr in der Studie massiv übertrieben wird. Das hindert Windkraftgegner nicht, sie weiter zu verbreiten.
Interessant ist eine Umfrage der Agentur für Erneuerbare Energien von 2020. Ihr zufolge ist die Zustimmung zu Windrädern bei Anwohnern bestehender Anlagen größer als bei Menschen ohne Windräder in der Nachbarschaft.
Windenergie-Zubau an Land
in Deutschland
Nach seiner Einführung im Jahr 2000 löste das Erneuerbare-Energien-Gesetz ein Jobwunder aus. Die Zahl der Beschäftigten in der Windenergie an Land verdreifachte sich bis 2016 auf knapp 135.000. Doch mit den verschlechterten Rahmenbedingungen wandelte sich das Bild: Laut dem Bundeswirtschaftsministerium gingen bis 2019 mehr als 50.000 oft gut bezahlte Stellen verloren. Das sind mehr als doppelt so viele Jobs, wie heute noch im deutschen Braunkohletagebau existieren.
2016
Windkraft? Im Prinzip gern
Auf Abstand
Während der Klimaschutz rund um die Welt 2018 durch Fridays for Future Auftrieb erhielt, ließ die Große Koalition, die in diesem Jahr zu einer unerwarteten Neuauflage kam, den nötigen Schwung in der Klimapolitik vermissen. Zwar erreichte Deutschland 2020 sein Klimaziel. Doch das war allein dem Wirtschaftseinbruch infolge der Coronapandemie geschuldet. Schon im ersten Halbjahr 2021 stiegen die Emissionen wieder massiv.
Für viele überraschend einigten sich Union und SPD kurz vor Ende der Legislaturperiode noch darauf, dass Deutschland schon 2045 klimaneutral sein soll. Hintergrund war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das das Klimaschutzgesetz der Großen Koalition für unzureichend befunden hatte.
Die für die Klimaneutralität nötigen Ökostromausbauziele blieb die Groko allerdings schuldig. Klimaschützer betrachten die Legislaturperiode daher als vertane Chance.
2017
Ein wesentlicher Grund für den Kollaps des Windkraftausbaus war neben der Deckelung und den stockenden Genehmigungsverfahren eine Flut von Klagen gegen geplante Projekte. 2019 liefen Gerichtsverfahren gegen 325 Anlagen mit einer Gesamtleistung von gut einem Gigawatt. Die meisten dieser Klagen wurden in den Jahren 2017 und 2018 eingereicht. Häufig drehte es sich dabei um Artenschutzfragen oder die Kläger beanstandeten Form- oder Verfahrensfehler.
Wirtschaftsminister Altmaier sprach sich kürzlich für vereinfachte Artenschutzverfahren aus; Genehmigungen für Windräder sollten im Normalfall binnen eines Jahres vollzogen sein.
871 Megawatt
Wer ein Windrad baut, erhält 20 Jahre lang einen Mindestpreis für den erzeugten Strom: So sah es das EEG von 2000 vor. Für die ältesten Anlagen endet diese Förderung jetzt. Ihre Zukunft ist ungewiss. Schlimmstenfalls könnten jedes Jahr Windräder mit einer Gesamtleistung von mehreren Gigawatt abgebaut werden.
Das wäre zu verschmerzen, wenn sie durch neue, effizientere Anlagen ersetzt werden; im Branchenjargon Repowering genannt. Schließlich hat die Technik gewaltige Fortschritte gemacht, moderne Turbinen leisten ein Vielfaches von Altanlagen. Doch längst nicht immer werden die Anlagen ausgetauscht. Damit drohen viele oft besonders ertragreiche Flächen für die Windenergie verloren zu gehen.
Die Zahlen für das erste Halbjahr 2021 wirken ermutigend: Bundesweit wurden Windräder mit einer Kapazität von 871 Megawatt gebaut. Bis Jahresende könnten es 2,2 bis 2,5 Gigawatt werden, schätzen Branchenkenner. Das wäre so viel, wie seit drei Jahren nicht mehr – aber trotzdem weit von früheren Rekorden entfernt.
Und es reicht nicht, um die Klimaziele für 2030 zu erreichen. Dazu wären Experten zufolge gut fünf Gigawatt pro Jahr nötig. Viel hängt deshalb davon ab, dass die künftige Bundesregierung die Weichen richtig stellt: Sie muss die Ausbaumengen für die Windenergie erhöhen und dafür sorgen, dass genügend Flächen für Windparks zur Verfügung stehen: nach Branchenschätzung etwa zwei Prozent der Landesfläche. Zudem muss sie die Genehmigungsverfahren beschleunigen.
Zubau im
1. Halbjahr 2021
Einen herben Einschnitt für die Windenergie bedeutete die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) 2016 unter Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Es sah eine Deckelung des maximal zulässigen Ökostromausbaus pro Jahr vor. Außerdem wurde ein Ausschreibungsmodell eingeführt: Wer einen Windpark plant, muss seither an einer Auktion teilnehmen; wer die geringsten staatlichen Zuschüsse aufruft, gewinnt. Die Folge war ein Preiskampf, der viele kleinere Unternehmen überforderte. Für sogenannte Bürgerwindparks waren die Hürden zwar niedriger, allerdings wurden viele dieser Projekte später gar nicht umgesetzt.
Zu einem echten Hemmnis entwickelte sich zudem die wachsende Dauer der Genehmigungsverfahren für neue Windräder. Wer 2016 grünes Licht dafür erhielt, hatte nach Angaben des Branchenverbands BWE im Schnitt 300 bis 400 Tage darauf gewartet. 2017 waren es gut 700 Tage.
2014 wurden in Bayern mehr als 150 neue Windräder genehmigt – 2020 waren es nach ARD-Recherchen nur noch drei. Das liegt vor allem an der 2014 eingeführten 10-H-Regel. Sie besagt, dass ein Windrad in Bayern einen Mindestabstand vom Zehnfachen seiner Höhe zur nächsten Wohnbebauung einhalten muss. Ein Windrad von 160 Metern Höhe darf demnach nur gebaut werden, wenn das nächste Haus nicht näher als 1,6 Kilometer steht. Soll davon abgewichen werden, muss die zuständige Gemeinde einen neuen Bebauungsplan aufstellen.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier machte sich zunächst für einen pauschalen Mindestabstand von 1000 Metern bei Siedlungen ab zehn Häusern stark. Später stellte er den Bundesländern frei, ob sie von dieser Regelung Gebrauch machen. Die Landesregierungen gehen unterschiedlich damit um. Nordrhein-Westfalen etwa erlaubt Gemeinden, 1000 Meter Abstand zu Siedlungen aus mindestens drei Häusern einzufordern. Die zur Verfügung stehende Fläche für Windparks sinkt entsprechend massiv.
Kohlekraftwerke oder Mülldeponien dürfen zum Teil deutlich näher an Wohnsiedlungen stehen.
Hoffnung auf einen neuen Boom
Vier verschenkte Jahre
2010
2011
2018
Aus alt mach neu – oder auch nicht
Abruptes Ende eines Booms
2012
2019
Massiver Stellenabbau
2013
Quelle: Deutsche Windguard
Deckel drauf
2020
Wären dies die CO2-Emissionen, wäre Deutschland auf gutem Weg in die Klimaneutralität. Doch die Grafik zeigt den Ausbau der Windenergie, genauer: wie viel Strom die seit 2010 pro Jahr an Land neu errichteten Windräder liefern können. Bis 2014 boomte die Windenergie, dann folgten eine erste Delle und der Absturz 2018. Ursache sind nicht zuletzt politische Entscheidungen. Sie bedrohen Zehntausende Jobs – und Deutschlands Klimaziele.
DIE KRISE DER WINDENERGIE
2014
1. HJ 21
2015
Auf der Anklagebank
Start
Wie die Politik den Ausbau der Windenergie an Land ausgebremst und eine Zukunftsbranche in Bedrängnis gebracht hat: Chronik einer hausgemachten Krise
Gegen den Wind